m- =5) !0 i<0 ^co Digitized by the Internet Archive in 2011 with funding from University of Toronto http://www.archive.org/details/figurenwOOwieg PAUL WIEGLER FIGUREN / 7 r '^ ^ LEIPZIG VERLAG DER WEISSEN BÜCHER 1916 pt IIO Copyright by Verlag der Weißen Bücher Leipzig Druck der Roßberg'schen Buchdruckerei, Leipzig Vorwort Als im Jahre 1903 eine Studie herauskam, in der ein paar Seiten dieses Buches zu lesen waren, sprach im Mercure de France Henri Albert von einem „schwierigen Autor", von Dunkelheiten und Verkürzungen. Er erblickte darin den Grundzug der ,, deutschen Mentalität". Der Abriß begann mit Barres, zu Barres führte er zurück. Er wollte zeigen, wie von der napoleonischen Epoche bis zur Gegen- wart auch in Frankreich die Glut einer individualistischen Sehnsucht gelodert habe. Und er schloß mit dem Wunsche, „daß einige, die vielleicht ihre deutsche Erde, ihre deutschen Toten, ihr deutsches Volkstum dem Vernunftwitz opferten, selbst durch dieser Schrift unzureichende Mühsamkeit den Takt der französischen Epopöe, der Epopöe des Enthusias- mus, hindurchhören und dem Geheiß irgendwie, bald, jedoch nach deutschem Wesen folgen werden". Henri Albert hatte recht: das ließ sich einfacher sagen. Dreizehn Jahre sind vorüber. Der Autor hat, lange durch Widrigkeiten beirrt, neue Versuche unternommen. Er denkt jetzt an den Jugenddrang und die Jugendabstraktion eines Fünfundzwanzigjährigen mit dem Gefühl der Fremdheit. Der erbebende Mensch nur, die Landschaft, das unbewußte Leben, nicht ein hoffärtiger Wahn des Intellekts hat ihm seitdem Freude gebracht oder hat ihn zur Trauer gestimmt: eines Kindes Atmen, ein Morgen in Opcina, am Lido, auf dem Laurenziberg. Von der Ideologie möchte er ganz der Erzählung sich zuwenden, dem dichterischen Gleichnis, und einen Roman „Schandera" hätte er in den letzten Monaten fertig geschrieben, wenn nicht bei uns allen ein gewaltigeres Schicksal anklopfte. So bittet das Buch, das in den Tagen des Weltkriegs er- scheint, als ein Übergang aufgefaßt zu werden. Es gibt Be- VORWORT trachtungen, Porträts, Novellen und wiederum Porträts; und es hofft, daß in ihm mancherlei Bilder und Worte sich fin- den, die durch Klarheit und Heiterkeit ihres Gegenstandes beruhigen können. Denn was auch jedem von uns zuteil wird, das Beste unsrer Überlieferungen dürfen wir nicht ver- gessen. „Laßt", so mahnt in der Erschütterung der großen Revolution Goethes weise Baronesse von C, „alle diese Un- terhaltungen, die sich sonst freiwillig darboten, durch eine Verabredung, durch Vorsatz, durch ein Gesetz wieder bei uns eintreten, bietet alle eure Kräfte auf, lehrreich, nützlich und besonders gesellig zu sein; und das alles werden wir — und noch weit mehr als jetzt — benötigt sein, wenn auch alles völlig drunter oder drüber gehen sollte. Kinder, ver- sprecht mir das!" Berlin, im Mai 1916. Inhalt Seile Chateaubriand in Prag. . 5 Walpole ........ 15 Der Jesuit 28 Die Jungfrauen 33 Lorenzaccio 42 Köche 47 Die Spötter 52 Cassaneus 66 Benjowski 74 Der Großkophta .... 82 Bäder 87 Dichter 94 Die Umstürzler 101 Der Opiumesser .... 109 Sankt Helena 117 Die Somnambule .... 126 Die Rachel 131 Disraeli 137 Seite Der Witz 145 Frau von Kalergis .... 150 Propheten 157 Eugenie 164 Renan 169 Der Herzog von Portland . 179 Taine 183 Der Deutsche 189 Reklame 194 Die Höllenmaschine . . . 200 Der Blaubart ....... 204 Rimbaud 208 Die Beredsamkeit .... 213 Lutetia .218 Die Nabobs 224 Cxide 228 Claudel 233 Novotny 238 Chateaubriand in Prag. I. Was geschieht mit mir? Wo bin ich? murmelte, lang- sam sich fassend, Herr von Chateaubriand. Drängende Töne umrauschten ihn. Hatte Schlaf ihn bezwungen, war es die endlose Träumerei eines Mannes über sechzig Jahre gewesen? Er erschrak, weil sein Herz ihm nicht gehorchte, und dennoch fiel ein Empfinden ihn an, daß jetzt oder nie sein ganzes, ihm selbst verhülltes Leben sich aufschließen könne. Ihm war, als liege er in seiner Jägeruniform am Rande des kleinen Waldes bei Namur und sänke tiefer und tiefer, in Abgründe, der Ohnmacht des Wundfiebers da- hingegeben. Er sah sich als Kind in Combourg, sah seine furchtsame Mutter, seinen Vater, der in langem Mantel und weißer Zipfelmütze durch das Gemach ging, stumm und drohend, seine Schwester Lucile, die Verklärte. Dann gehörten diese aus dem Unsichtbaren flehenden Augen der Frau von Beaumont, und sie starrten tränend in die herbstlichen Ruinen des römischen Kolosseums, wo sie, zwischen Dorngestrüpp und roten Fingerhüten, von der Erde Abschied genommen hatten. Leise seufzte Chateaubriand. Als er in seinem Sofa- winkel sich bewegte, zerflossen die Erscheinungen. Eine Woge schmutzigen Lichtes kroch unstet über die Decke, über die nackten, getünchten Wände, die Kupfer- stiche, den Fayenceofen, die niedere, durch Eisenklammern gegen Gasthausdiebe geschützte Tür. Und mit der flackern- den Glut quoll die Litanei zu Chateaubriands Fenster, die, ohne daß es ihm deutlich geworden war, von fern ihn um- schwebt hatte. Trüb zog sie ihn abermals in das Reich der gebundenen Sinne. Er glitt vorwärts und verschob das Rou- leau aus Madapolam. Die Gasse war voll von alten Männern und Frauen. Zwei Banner und ein Gekreuzigter wandelten, 1 CHATEAUBRIAND IN PRAG hundert Hände trugen Kerzen, an denen der Wind fraß. Ein heiseres Baßorgan gab das Signal zum Abgesang, dem be- ständig ein paar Ungeduldige fromm vorauseilten. Zornig und fremd war die Sprache, in der sie beteten. Jetzt wußte Chateaubriand, in welcher Stadt er war. Er fühlte ihre Last, der niemand zu entrinnen vermochte. Der vom Schlummer weggelöschte, bleich verdämmernde Nach- mittag erstand vor ihm: graue Türme, dumpfe Glocken, glitzernde Kapellen, brennende Ampeln, goldene Schreine, Marmoraltäre, braune, gewundene Säulen, Bischöfe und Engel, die Flammenherzen umfingen. Der Schauer des Ver- gangenen feuchtete seine Stirn, der Schauer der Grüfte, die ewig warten. Und plötzlich erinnerte er sich, daß er hierher gekommen war, um, weitab vom Tag, seinen vertriebenen König zu besuchen, Karl den Zehnten mit Marie Karoline, Herzogin von Berry, und ihren schlimmen Abenteuern zu ver- söhnen. Stiller und stiller wurde es; in der Kirche nebenan erstarb der Büßerchor. Der Lauschende trat in die Mitte der Stube und riß an den Quasten der Klingel. Baptiste, sein Diener, brachte ihm mit pfiffiger Devotion die Lampe und sagte, daß noch eine halbe Stunde Zeit sei. Herr von Chateaubriand hatte ein pathetisches Profil, schwarze Brauen, die von weißgrauem Lockenhaar abstachen, eine kleine Statur und in seinen Gesten eine brüske Ver- worrenheit. Während er die Kleider wechselte, sah er, mit nicht sehr aufrichtigem Bedauern, vor seines Geistes Auge das strahlende Paris, die Abbaye-aux-Bois und ihre dritte Etage. Den teuren Namen der Recamier lispelte er vor sich hin. Nur in Nebeln unterschied er das Vestibül, den Schlaf- raum, die Bibliothek, die Harfe, das Piano und zwei weiße Arme, nur zag noch hörte er Julietlens gläsernen Sopran eine Romanze singen. Aber da er die Wollust der Entbehrung liebte, war ihm diese Herberge, was anderen das vermes- CHATEAUBRIAND IN PRAG senste Glück ist. Dem Ahasver verglich er sich, der nirgends Ruhe hat, und stöhnte über sein Exil wie Cymodocea, die holde Griechin, die nach den Lorbeerbäumen Messeniens verlangt, seinen Blumenauen und Silberbächen. Das von Fichten und Zedern umdunkelte Haus in Vallee-aux-Loups hatte er verkauft, weil er, der Misere Frankreichs müde, unter Englands Himmel genesen wolle. Und es war seine bitterste Erfahrung, daß ungeachtet der Geschäftigkeit der Herzogin von Duras, durch eine Lotterie ihm jenes Besitz- tum wieder schenken zu lassen, seine Verehrerinnen nur pla- tonische Teilnahme bekundeten. Als Minister, als Botschafter hatte er irdischen Triumph und irdische Enttäuschungen kennen gelernt. Ungeberdig hatte er Kapitalien vergeudet, fünfundzwanzig Pferde in seinem Stall gehabt und dann wieder mit der Hoheit eines Bettlers aus Gesinnung Ein- ladungen abgelehnt, weil er zu arm sei, einen Fiaker zu be- zahlen. Er haßte die Welt der Vorzimmer, der Boudoirs, der Zeitungen, in die es ihn lockte. Doch er hätte nicht zu atmen vermocht ohne die Feindschaft des großen Napoleon, ohne die Erbärmlichkeit der Bourbonen und seine schimpf- liche Verjagung aus den Tuilerien. Jahrelang erwog er Un- bill, die man ihm zufügte, und wenn er imstande war, sie zu vergelten, sank ihm zitternd die Hand. Sein kaltes Urteil erforschte die Menschen; aber wenn er ihnen gegenübersaß, lobte er sie, weil jeder Tadel, jeder Konflikt die Entfernung verringert. Um eine fatale Stunde zu vermeiden, begab er sich in unwiderrufliche Knechtschaft. Er scheute die per- sönliche Vertraulichkeit, da ihm nach fünf Minuten der Klang seiner eigenen Stimme hohl und gefährlich erschien. Stolz nannte er sich einen Bruder des Dante, der den Fluch der Einsamkeiten geerbt hat. Ohne Hemmung erging er sich in Plagiaten des Rene, mit dem er sich selbst umschmeichelte, und es war symbolisch, daß er nur die Ätnaszene aus seinem 1* 8 CHATEAUBRIAND IN PRAG Roman wiederholt hatte, als er später feierlich über die Lava des Vesuv geklettert war. Die Länder, die er durchstreifte, wurden ihm zu ekstatischen und vielleicht nicht absichtslos falschen Bildern. Unwirklichkeiten bezeichneten seinen Pfad, weil er die Erfüllung immerdar verschmähte. Er huldigte den Sylphen der Luft, nach denen erals zögernder Schüler schmach- tete, den indianischen Odalisken, die er bei den Wassern Floridas, unter üppigen Magnolien, versäumte, den eitlen Mäd- chen, die an seinem Ruhme sich sonnten. Leer war es in ihm, als Frau von Beaumont, schon mit den Stigmen der Schwindsucht behaftet, in Savigny ihm eines Sommers Zu- flucht bot. Voll Überdrusses hatte er sie nach Rom mitge- nommen, wo sie ihm unbequem war; und erst ihr Tod be- gnadete ihn mit der Fähigkeit, zu leiden. Mehr Schatten folgten diesem Scheinlebendigen als irgend einem Menschen sonst. Auf felsiger Insel bei Saint-Malo hatte er sein Grab sich gewählt. Und nach dem Nichts begehrte er mit einem Heimweh, dem er viele Zeugen wünschte. Eine Uhr schlug neun. Baptiste legte die Pelerine über Chateaubriands erblindete Orden. In der Tür zum Wein- zimmer standen Hyacinthe, sein Sekretär, mit der Rosette im Knopfloch, und Schwartz, sein Lohndiener aus Basel. Aber nicht sie hatten ihn in die Burg zu begleiten, sondern jemand, der am Ende des Korridors auf ihn zukam und den betressten Zylinder lüpfte. Er stellte sich in einer Art Französisch als Schloßlakai Homolka vor, war Aspernvete- ran, roch nach Tabak und hatte, wie er gutmütig meldete, den Befehl, mit dem Herrn aus Paris den raschesten Weg zu nehmen. In der Torfahrt zuckte eine Öllampe. Alle Gänge waren finster, verrostete Riegel lagen vor den vergitterten Luken, Hökerinnen und Trafikantinnen sperrten ihre Kasten zu. Die Häuser kauerten wie das Seineviertel zur Zeit der Che- CHATEAUBRIAND IN PRAG 9 lera, der Chateaubriand jüngst im Entsetzen des Hypochon- ders nach Genf entflohen war. Schritt für Schritt vertiefte sich die Vision, die er kurzsichtig und noch jäher denn einige Stunden zuvor genoß. Ein Palast aus gelbem Sandstein tauchte in brüchiger Anmut auf. Erker und Lauben, Simse mit Wappen, schräge Pfeiler umringten den Markt. Das Turmpaar einer domartigen Kirche erdrückte die Dächer, die Patina ihrer Kuppel schwamm in den silbernen Netzen des Mondes. Auf der anderen Seite dehnte sich ein zweiter Platz mit der Kirchentreppe, einer Hauptwache, einer Votiv- säule. Und über ihre Spitze wuchs ein ungeheures Etwas, eine Stadt über der Stadt, die Masse einer Kathedrale, eine kaum zu ahnende Burgfront, in der irgendwo ein Funke mühsam glomm. ,,Es ist sehr steil", brummte Homolka und trottete. Herrn von Chateaubriand schmerzten die Schienbeine; auch schmerzte ihn der Kopf, weil er der Tropen sich nicht entsann, durch die er Karl den Zehnten rühren wollte. Die erhabene Pflicht nahte, die ideale Situation für den Ritter, den Höfling des Ungemachs. Wie Blondel zu Richard Löwenherz, war er zum Schloß der habsburgischen Kaiser gepilgert, die dem Allerchristlichsten König, ihrem Vetter, ein letztes Asyl ge- währten. „Sire," wollte er anheben, „sie ist die Witwe Ihres Sohnes. Marie Karolinens Schoß hat Heinrich den Fünften getragen, dessen Scheitel seit Ihrer Abdankung die Krone ziert. Die Orleans, die sie in Blaye mißhandelt, die mich in die Polizeipräfektur eingekerkert haben, verleumden ihre Reinheit." Denn so begann der Entwurf, den er in der Ka- lesche ausgearbeitet hatte; und da Chateaubriand sich der Grenzen von Chimäre und Wahrheit nicht bewußt war, hatten auch die übrigen Begebenheiten sich ihm wundersam ver- ändert. Diese kreischende Herzogin mit den blonden Locken und dem winzigen Vogelgesicht, diese hirnlose Prinzessin 10 CHATEAUBRIAND IN PRAG von Neapel, die mit einer Bauernschar im bretonischen Dickicht die Rebellen des „Ivanhoe" nachgeahmt hatte und mit von Ruß geschwärztem Gesicht in einem Kamin ertappt worden war, wurde ihm zu einer Maria Stuart, einer Mater Dolorosa. Und er war bereit, vor ihrem Schwiegervater zu beschwören, daß Graf Lucchesi im Haag, den sie niemals ge- sehen hatte, in legitimer Ehe das Kind mit ihr gezeugt habe, das sie vor zwei Wochen in der Zelle von Blaye gebar. „Dort ist die französische Majestät", sagte Homolka schnau- fend. Sie waren auf einer granitenen Stiege, die zweihun- dert Stufen hatte und mit breiter Rampe links, mit fried- lichen Häuschen rechts über eine enge Gasse hing. Chateau- briand blickte dem Funken entgegen, der jetzt ein starkes Feuer war, auf das Halbrund eines Fensters, wo Kressen und Reben blühten, auf Rollziegel und Schanzmauern. Nun war die Höhe erreicht. Unten gähnte das Tal. Sie passier- ten ein angebautes Tor. Ein österreichischer Soldat lehnte trag an der Schranke und summte ein Lied vor sich hin. Die Steine eines viereckigen Hofes dröhnten zu ihren Füßen. Sie durchquerten schweigende Gewölbe, die von plumpen Laternen erhellt wurden. Wiederum ein Hof, in dem ein bronzener Sankt Georg einen Brunnen umritt: die Kathe- drale, schwarz wie ein Berg; ein Portal; Lakaien; eine Frei- treppe; das war das Ziel. n. Herr von Chateaubriand betastete seine Orden und dra- pierte seinen Mantel. Strauchelnd ging er ohne Homolka, der sich empfohlen hatte, an sechs Kandelabern vorbei ins zweite Stockwerk. Ein Militärposten in weißer Uniform, ein Tuileriengardist, salutierte vor ihm; und nun, wie von einem ärgerlichen Traum gesendet, erschien der Herzog von Blacas, der mit geheucheltem Entzücken ihm die Hand gab. CHATEAUBRIAND IN PRAG 11 Hinter dem dritten von drei unmöblierten Sälen, die mod- rig waren wie der furchtbare Escorial, sprang eine Tür auf; blinzelnd neigte sich Herr von Chateaubriand in seinem Staatsfrack vor der Gesellschaft, die unter dem Lüster grup- piert war, und eine Fistelstimme traf schleppend sein Ohr: „Willkommen, lieber Botschafter! Herr von Blacas hat mich von Ihrem Brief benachrichtigt. Sie werden fatiguiert sein. Setzen Sie sich doch! Was macht Ihre Frau?" Chateaubriand stammelte nichts als: ,,Sire!" Er gewahrte zwei entfärbte Augen, eine Stirn von Wachs, ein in seiner Welkheit noch glattes Antlitz. Der König von Frankreich saß, im Sammetjaket über der mit Lilien bestickten Weste, mit schwarzem Moireband, an dem das Louiskreuz be- festigt war, und in den langen Beinkleidern der Dandies beim Whist. Und wie er sich jetzt über die grüne Tafel beugte, zwang er den halboffenen Mund zu einem gefrorenen Lächeln. Sein Partner war der Herzog von Angouleme, sein ältester und nach Berrys Ermordung einziger Sohn, der Graf von Marnes; die Herzogin, Ludwigs des Sechzehnten geweihte Tochter, die Gefangene aus dem Temple, die männische An- tigone, gebrauchte die Karlsbader Kur. Der Herzog hatte die Nase der Familie, ein ausrasiertes Kinn und einen Bart nach Londoner Mode, womit er, den Generalsinsignien zum Trotz, einem dünkelhaften Kaufmann aus der City geähnelt haben würde, hätten nicht diese geschwollenen Lider und die schlaffe Anmaßung dieser Lippen die Unzufriedenheit eines Entfürsteten verraten. Frau von Gontaut, die spitze Gouvernante, knetete ihr Taschentuch. Wie eine Bulldogge stierte Herr von Villatte den Gast an. Frau von Guiche wandte ihm kokett ihre schon vernachlässigte Medaillenschön- heit mit den schweren Haarflechten zu, Herr von Guiche legte hustend die Karten fort, Latil, der Priester mit den asch- grauen Wangen, überschaute die Szene. Der König winkte; 12 CHATEAUBRIAND IN PRAG und Herr von Chateaubriand blieb allein in seiner Hör- weite, während der Whistklub sich flüsternd um den Grafen von Maines beschäftigte. „Sire", stammelte der Gast ein zweitesmal und ordnete angestrengt Begriffe und Phrasen. Er sprach mit schlech- tester Kunst von Louis Philippe, dem Räuber auf dem Thron, von Deutz, dem Sykophanten, Thiers, dem Charlatan, von einer Mutter, die ihm Briefe für ihre vergötterten Kinder übergeben habe und dank einem nachsichtigen Monarchen und Schwiegervater sie bald hier zu umarmen hoffe. Doch während er sprach, flog sein Geist in die Ferne und zurück zu der Maske da, die noch imftier vom selben süßen Lächeln umgaukelt wurde. Die Chronik seiner Begegnungen mit ihr las er in böser Schnelligkeit ab. Er dachte an die Flotten- manöver in Saint-Malo, an einen Grafen Artois, der wie ein Sieger im Pulverdampf stand, einen verwöhnten Don Juan und mit dem weißen, wallenden Busch Heinrichs des Vier- ten das Emblem des Royalismus. An Thionville und den Aufmarsch der Navarraoffiziere vor einem selbstgefälligen Thcaterhelden. An einen bejahrten Emigranten, der blasiert, als habe sich nichts ereignet, in Paris einzog, von einer De- putation zu Pferde begrüßt, der Herr von Chateaubriand sich zuzählte. An die gemeinsamen hundert Tage in Gent und das Hotel der Niederlande, an die verweigerte Audienz nach der Schlacht bei Cadix; an die Krönung in Rheims, der er knirschend entwichen war, an das Scherzwort Karls des Zehnten über einen zu engen Handschuh, das die Mär verursachte, der Gestürzte sei abermals in Gunst; an die Empfänge in Saint Cloud, an das Gemisch von Hoffart und Laune, das Verderbnis eines in den Untergang taumelnden Geschlechts. Deckte diese Fassade eine Seele zu? Hatte dieser Greis wirklich vier seiner Blutsverwandten durch die Guillotine verloren, hatte er je zu London inbrünstig vor der CHATEAUBRIAND IN PRAG 13 sterbenden Polastron gekniet, die, eine Agentin Latus, ihn zum Glauben bekehrt hatte? War er je ins Foyer der Oper gerufen worden, wo sein Sohn Berry zwischen noblen Ha- bitues, Damen in Gala und verstörten Musikanten mit klaf- fenden Wunden gebettet lag? Konnte das Schicksal Spuren hinterlassen, wenn diese Larve so lächelte! Herr von Chateau- briand schluchzte fast gegen seinen Willen heftig auf. Der König fixierte ihn; die entfärbten Augen irrten. Dann waren sie wieder regungslos, und die schleppende Stimme greinte durch den Saal: ,,Sie ereifern sich, lieber Botschafter. Ich muß Sie bitten, die Briefe der Herzogin der Frau von Gon- taut auszuhändigen, die weiß, was ihres Amtes ist. Wollen Sie, so fahren Sie zur Dauphine nach Karlsbad. Ich werde mich immer freuen, Sie zu sehen." Herr von Chateaubriand erhob sich. Der Herzog von An- gouleme trat auf ihn zu und fragte nach der spanischen Poli- tik, Frau von Gontaut steckte die Briefe in ihr Ridicule, Frau von Guiche nahm am Whisttisch des Königs Platz. Der Kardinal Latil redete über Pius den Achten. Matter und matter glänzten die Kristalle des Kronleuchters, und alle Gesichter verzerrten sich. Die Fistelstimme sagte: „Auf morgen!" Vor der Türe machte Herr von Blacas mit ge- heucheltem Entzücken die Honneurs. Der Tuileriengardist salutierte. Die Kandelaber der Freitreppe waren durch spar- same Windlichter ersetzt. Herr von Chateaubriand lief, um Homolka nicht auf den Fersen zu haben. Adler und Tro- phäen waren ausgespannt, große Fledermäuse zischten, vor- bei an Häusern, Kirchen und den Hütern eines grauen Pa- lais, zwei Mohren mit Straußenfedern um die Knöchel, zwei grinsenden Mohren in Ketten. Mehrmals zauderte er, mehr- mals drehte er vergeblich sich um, ob droben der Funke noch leuchte. In krampfhafter Erschöpfung und haltlos vor Grimm, weil er um den sublimen Zweck seiner Reise be- 14 CHATEAUBRIAND IN PRAG trogen worden war, stürmte Herr von Chateaubriand durch die Nacht. Nun war er vor dem wuchtenden Brückenturm, nun aut der Brücke selbst. ,,Sicut nubes, quasi naves, velut umbra", deklamierte er emphatisch zu den Wolken, zum ruhigen Strom. Die Statuen der Heiligen ragten wie ein versteiner- ter Wald. Vor einem Jüngling schmiegte ein Löwe sich nieder, der ihm wedelnd die Schuhe leckte; Märtyrer wur- den in Höhlen gefoltert; um einen versunkenen Mönch mit brechenden Augen wölbte sich ein Reif aus roten Glasster- nen; ein goldener Kruzifixus schimmerte, eine Madonna be- trauerte den Leichnam des Erlösers. Herr von Chateau- briand geriet in schmale Gassen, die tückisch sich zusammen- rotteten. Aus einer von Efeu umsponnenen Taverne haschte, unverständlich lallend, eine Dirne nach ihm. Da über- raschte ihn sein Name. Ernüchtert und beschämt erkannte er seinen Sekretär, der von der Herberge sorgend ihm nach- gegangen war. üi Walpole. H oratio nannte ihn der ältere Schlegel, der einen kleinen Band „Historische, literarische und unterhaltende Schrif- ten" des Lords Orford verdeutscht hat. Jedoch Horace Wal- pole, Sohn des Ministers und Inhaber von drei Sinekuren, wollte nicht Hamlets starker Gefährte sein: ,,Das schmeckt nach Theater und ist nicht englisch." Es paßt auch nicht zu seinem Antlitz. Lawrence gibt ihm einen femininen, langen, dünnen Kopf mit langer, dünner Nase und schmalem Mund. Wie Kohlen unter der Asche glimmen die Augen, die, als er noch blondgelockt war, dunkel leuchteten. Seine Füße waren schwach von der Gicht, die seine Hände krümmte. Er trank Eiswasser und Tee, niemals Wein; er lächelte de- likat und gezwungen. Seine Rolle war, eine Konversation mit dem Zauber von „spanischem Flieder und Nachtigallen" zu führen. Dieser Rolle hat er genügt, solange seine Ge- sundheit es zuließ. Mit zehn Jahren wurde er in den Palast von Saint James gebracht und durfte die Hand eines alten Mannes küssen, der braune Kleider hatte und ein blaues Ordensband. Hinter dem Stuhl des Mannes stand ein hageres Weib. Es waren Georg der Erste, der grobe Hannoveraner, und die Herzogin von Kendal, die Schulenburg, seine beförderte Mätresse. Die „Kletterstange" im Gegensatz zu ihrer Amtsschwester, dem „Elefanten", der Kielmannsegge, die einen „Ozean von Busen" getragen hat. Vor dieser zweiten pflegte der Knabe zu erschrecken. Sir Robert Walpole, sein Vater, war der Ruhm der Whigs und der „Leviathan". Als der Hannove- raner starb und der Kendal in Gestalt eines schwarzen Ra- ben erschien, ging Horace mit den Schülern von Eton in der Prozession und weinte. Er selbst ist im Zweifel, ob ihn nicht vor dem Ungemach bangte, das der Familie erst in 16 WALPOLE der großen „Walpoleschlacht", von der Junius spricht, ge- schah. „Ich bin im Hause eines gestürzten Ministers", klagt des Staatsmanns jüngster, vernachlässigter Sproß, als er dessen Ruhesitz in Houghton besucht. Später, viel später, grollte er den Fremden, die Sir Roberts Schlafkammer, die Farbe der Tapeten, einen Hummer in irgendeinem Still- leben beschwatzten und dann zu der Herberge eilten, wo ihr Dinner verbrannte. ,,Wo sind die hübschen Bosketts, die reizenden Pfade? Houghton ist nur noch ein Denkmal von Größe und Untergang." Die Galerie des Landhauses hat Walpoles Neffe Georg, nach dessen Tod er die Lord- schaft bekam, zu seinem Gram der Zarin verkauft. Innig hing Horace an seiner Mutter. Es wurde behauptet, sie habe ihn von Lord Hervey, über dessen Sippe eine spitze Zunge sagte, die Welt bestehe aus Männern, Weibern und Herveys. Lady Walpole war schön. Sie strahlte, als die Königin Ka- roline beim Handkuß des Adels in die vierte Reihe rief: ,,Dort sehe ich eine Freundin", und die Neiderinnen vor der Frau des fast schon wankenden Premiers zurückwichen. In der Westminsterabtei ist sie begraben. Belanglos ist, daß Horace Parlamentsmitglied für Carlington wurde, tür Castle-Rising und Kings-Lynn. Sein einziges Er- lebnis sind die Reisen nach dem Kontinent. Auf der ersten hielt er Gray frei, den künftigen Dichter der „Elegie auf ländlichem Kirchhof", einen seiner Freunde von Eton her wie George Selwyn. Sie machten „le Grand Tour". „Gestern", schreibt Walpole, „war ich ein Schäfer aus dem Dauphine; heute ein wilder Älpler; morgen ein Karthäusermönch und Freitag ein kalvinistischer Schweizer." Am Mont Cenis raubte ein Wolf den kleinen Tory, den schwarzen King Charles. Gray versäumte, diesen Schmerz so zu verherrlichen wie nachmals Walpoles Lieblingskatze, die in einem Goldfisch- becken ertrank. In Reggio überwarfen sie sich. Von Italiens WALPOLE 17 Städten gefielen den Touristen Bologna und Florenz. Rom war kleiner als ihre Träume. Und mehr als Herculanum hat Walpole die Viscontina, die in der Londoner Oper singen sollte, beachtet. Frankreich zog ihn an. Er sah die Provinzen und die Kathedralen, die Comedie und Versailles, das ihm ein ärm- liches Schloß schien mit einem Garten für ein großes Kind. Zweimal ist er nach Paris zurückgekehrt, „um seine Er- ziehung zu vollenden". „Alle lachenden Gedanken" seiner Jugend wollte er in sich erneuern, auf die Gefahr hin, als Narr zu gelten. Vor ihm saßen Madame du Barry, wie eine Bürgerin, ohne Rot und ohne Puder, und Ludwig XV., dieses „Gemisch von Frömmigkeit, Pracht und Wollust". Der Eng- länder erstickte im Gedränge der Antichambre, wo die schreck- liche „Hyäne von Gevaudan" ausgestellt war. Er betrat das Damenkloster von Saint Cyr, die Gemächer der Maintenon, und war über jenes Fräulein von Mailly gerührt, das des Königs Gunst verlor und den Offizieren, die es laut eine Metze schmähten, erwiderte: „Da Sie mich kennen, so bitten Sie Gott für mich!" Er berauschte die blinde du Deffand, „la femme Voltaire", die mit dem Regenten und dem stumpfen Henault Verhältnisse hatte und einsam blieb, als ihre Ge- sellschafterin, das unglückliche Fräulein von Lespinasse, von ihr ging. Schmarotzer umringten sie. Walpole heiterte sie auf. Sie wollte bis drei Uhr morgens wachen, um den Ko- meten zu sehen. Sie verliebte sich in den schmeichlerischen Ton seiner Stimme und offenbarte sich ihm durch die Feder ihres Sekretärs Wiart. Er verlangte von der blinden „Witz- schwelgerin", der dringlichen Matrone, Schweigen über ihre Korrespondenz. Er beschuldigte sie der Indiskretion und der Albernheit: „Bin ich dazu geschaffen, der Held eines Briefromans zu werden?" Er spottete, daß er die Antworten auf die „Portugiesischen Briefe" abschreiben wolle. Sie ent- 18 WALPOLE gegnete, er sei trocken und roh. Sie verwünschte ihre „Feig- heit, Schwäche und Lächerlichkeit" und bedeutete ihm, er habe die Blumen ihres Gartens bis auf die traurige Immor- telle zerpflückt. Gern hätte sie ihm alles vererbt; er drohte, daß er Paris nie mehr auszeichnen wolle, und nahm nur ihre Manuskripte und Bücher. Wohl hat er auf englischem Boden Franzosen bewirtet: Madame de Bouffiers, Duclos, den Herzog von Nivernais, Delille und die Genlis. Oder den Abbe Raynal, dem er in Paris Taubheit vorspiegelte, um nicht über die Kolonien mit ihm reden zu müssen. Indes, er vergißt nicht, daß, als der Urheber der „Geschichte der beiden Indien" äußerte, jedes Ding in England könne ihm Frankreich nur empfehlen, Churchill ihn mit den Worten abführte: „Gentlemen, wären die Irokesen hier, so würden sie nur Fischtran essen." Er verleugnete seine Lehrmeister. Sie hätten sich von den Briten die zwei langweiligsten Stücke angeeignet, nämlich Whist und Richardsons Romane. Das Lachen sei jetzt in Paris verpönt; die guten Leute müßten zunächst Gott und den König am Boden haben. Nach dem ,, Grand Tour" waren Albions Menschen für Walpole „Berge von Roastbeef". Später wollte er sich den alten Göttern und Göttinnen Frankreichs nicht mehr beugen. „Was heiliges Dunkel war, ist jetzt Schmutz und Finsternis. Die Illusion ist weg, wie bei einem Trauerspiel, das von Lampenputzern aufgeführt wird." Der Zögling meint, daß der französische Charakter im einzelnen erträglich, als Gesamtheit verderbt sei. Die Keuschheit aus- ländischer Frauen taste er an: „Yes, I swear to you by the Sicilian vespcrs, they can never be of much duration." Er ist außer sich über den Herzog von Chartres, der beim ersten Diner einer Lady seine Knöpfe hinreicht, worauf Pferde und Hunde in obszönen Stellungen eingraviert sind. Ihm rät er, sich durch das Feuer zu läutern. WALPOLE 19 Auch von Voltaire ist er abgerückt, zu dem Frau du DefFand wie zu einem Überirdischen betete. Zwar mit dem Behagen eines Neuigkeitsträgers der Aufklärung teilt er seinem Freunde Montagu die Geschichte von dem Beamten des Kantons Bern mit, der alle Exemplare des ,, Esprit" von Helvetius und der „Pucelle" konfiszieren sollte und dem Rat bestellte: „In der ganzen Stadt hat man sehr wenig Esprit und keine Pucelle gefunden." Doch in einem seiner Bücher strafte er die Un- freundlichkeiten des Schloßherrn von Ferney gegen Shake- speare. Arouet gebärdete sich harmlos, schrieb ihm und lobte seine „Historischen Zweifel über Richard III.": „Vous pesez toutes les probabilites." Der Baron Holbach ist nach Walpole ein Tropf. Gegen Friedrich II. richtete er das Epi- gramm: „Haben Sie die Werke des Philosophen von Sorgen- frei gesehen oder vielmehr des Mannes, der kein Philosoph ist und jetzt mehr Sorgen hat als irgend jemand in Europa? Wie erbärmlich sind sie! Elende Reimerei: kein neuer Ge- danke, und kein alter neu ausgedrückt." Am unglimpflichsten verfuhr er mit Rousseau, dem „vice qui raisonne". Ihn opferte er durch eine gefälschte Epistel des preußischen Monarchen dem Hohn der Welt. Dem düsteren Sendboten der Natur, der Paris in Armeniertracht durchschlich und in London die Zulassung seiner Haushälterin zu allen Tischen begehrte, verhieß er in Friedrichs Namen „Verfolgungen nach Herzens- lust". Er freute sich, hierbei d'Alembert seine Geringschät- zung bekunden und über Humes Rechtfertigung schreiben zu können, daß Europa „mit solchen müßigen Streitereien sich die Kehrseite wische". Daheim wurde er ein selbstsüchtiger Grandseigneur, der seinen Besitz zusperrte. Einmal, als der zweite Jakobiten- aufstand loderte und der Prätendent Karl Eduard dräute, fürchtete er bereits, er müsse mit dem König nach Herren- hausen fliehen oder den Prinzen in Kopenhagen Sprach- 20 WALPOLE stunden geben. Er war unfähig, den Küraß zu schleppen; doch als der Prinz von Wales im Siebenjährigen Krieg einer amerikanischen Schule Bücher schickte, bemerkte er, nur Waffen, Pulver und Blei seien erlaubt. Er war glücklich, wenn der Herzog von York gnädige, zerknirscht, wenn die Prinzessin Emily ungnädige Laune hatte, diente als Costumier und besichtigte würdevoll mit dem Prinzen Eduard das fromme Magdalenhouse, dessen verirrte Lämmer ohnmächtig niedersanken, weil die feinen Herren sie zu lange prüften. Er hängte das Todesurteil gegen Karl L über sein Bett, als die „major Charta", die wahre Befreiung Englands. Prahlte, seine Schüler würden den Herrschern ihre Entbehrlichkeit vorhalten, und amüsierte sich über den spanischen Gesandten, der die katholische Majestät gefragt hatte, was sie denn anders sei als eine Zeremonie. Er spielte den Kardinal Retz und wollte sich vom Geschrei der „Patrioten" den Schlaf nicht stören lassen. Macaulay, sein Nachrichter, sagt, er habe es als „practical joke" betrachtet, politische Charaktere zusara- menzuhetzen. Er ist der Stockbrite, der, seit der Lektüre Fontenelles ungläubig, der „servants" wegen zur Kirche geht * und empört ist, daß in Gegenwart eines Bedienten das alte Testament kritisiert wird. Die „respectability" ist ihm Dogma. Zwar nicht ganz verlor er die Erinnerung an Mrs. Commyns, die gastliche Gevatterin, deren Bude in Airstreel demoliert wurde, weil eine Lady in Eifersucht auf die Pensionärinnen dem Mob zehn Guineen schenkte. Er lustwandelte mit ge- schminkten Damen der Gesellschaft, die frei von Prüderie waren, und fuhr mit ihnen bei Musik mit einer Gondel über die Themse nach Vauxhall. Sie holten Betsy, das Obstmäd- chen, heran und durchlärmten den Garten bis zum Morgen. Zwölf Jahre darauf vergnügte er sich nur in Bedford House, wo die Tochter Georgs H. mitten unter jungen Leuten speiste, beim Schall von Jagdhörnern, Klarinetten und Tamburin, oder WALPOLE 21 auf dem Lampionfest der Northumberland. Er vertauschte Arlingtonstreet, wo er in Winternächten gefroren hatte, die Stätte seiner Geburt, mit einem Domizil am Berkeley Square. Dürftig sind die Zwischenfälle. Etwa, daß im Hydepark der Räuber Maclean in seinen Wagen schoß und ihn plünderte, ein Ire, für den vor seiner Hinrichtung die schönsten Be- sucherinnen von Newgate Tränen hatten. Oder daß Walpole im Theater Drury Lane, wo der Pöbel gegen die Boxer des Direktors Fletwood kämpfte, diesen einen „unverschämten Schurken" nannte und als Heros ausgeschrien ward. Oder sein pudeltreuer und doch befehlshaberischer Schweizer Colomb ist zu erwähnen und die feiste Hündin Rosette, die neben ihm im Sessel schlummerte, ein Geschenk der du Deffand. Walpoles Geliebte war Mrs. Clive, die kluge, rot- wangige Schauspielerin, die ihm Anekdoten vom „greenroom", der Garderobe, lieferte. Als „Mrs. Heidelberg" figuriert sie nach ihrem Part in der „Heimlichen Ehe". Sie ist Walpoles Genossin auch in dem Ort seiner Wahl, im gotischen Landschloß bei Twickenham gewesen. „Straw- berry-Hill", „Erdbeerhügel", taufte er es und Clivedon oder Little Strawberry die Villa der Clive, die nach ihrem Tode von der Schauspielerin Jane Pope abgelöst wurde. Da lebte er seinen Neigungen. Mit Hallen, Kammern, Bücherei und Galerie, baute er Strawberry, das „Haus von Papier", zu einem Kloster aus. Eine Presse für Amateurdrucke richtete er sich ein. Sein Drucker ist Robinson, der noch mehr als Garrick die Augen Richards HL hatte. Walpoles Zeitver- treib war, für die Ladies süße, im Satz vorbereitete Gelegen- heitsverse zu drucken. Er huldigte ihnen mit Narzissen, Tulpen, Lilien, Musik, Eis, Tee, Kaffee und Biskuit, mit Park- szenen nach Watteau, fühlte sich als Harun al Raschid und schmollte, als Strawberry eine Herberge wurde. Er widmete sich der Zucht von Hammeln und Goldfischen, pflanzte 2 22 WALPOLE chinesische Lebensbäume und Fichten aus Neuengland und bildete die phantasiereiche Gartenkunst von Kent und Temple weiter. Er war ein Sammler von sehr verwöhnten Sinnen. Er pilgerte durch die Schlösser. Sein Blick glitt über die Holbeins, über Shakespeares Grab und Fotheringhay, den Kerker der Maria Stuart. In Woburn stöberte er Ahnen- bilder auf, in Rowley verschollene, von den Ratten zerfressene Pergamente, in Hardwicke zerlumpte Goldvorhänge. Er ergötzte sich an Heraldik, Cäsarenmünzen, Gobelins, an Heinrichs VHL Uhr für Anna Boleyn, an Wolseys rotem Hut, an der Wärmflasche für die Mätressen Karls H. Die Altertümer waren ihm vertraut, nicht das Altertum, das er persifliert, nachdem er in Eton-Neston eine Statue Ciceros in einem Haufen kopfloser Kaiser und Vestalinnen sah. Er hat die ,, Anekdoten von Malern" bearbeitet, worin er, zu Macaulays Bürgergrimm, sagt, die Malerei müsse verfallen, weil keine Modelle übrig seien, die gemalt zu werden verdienten. „Wie pittoresk", seufzt der Oscar Wilde des achtzehnten Jahrhunderts, ,,war die Gestalt eines Wieder- täufers!" Hogarth mochte der Genießer, in dessen Zimmer der Duft von Tuberosen, Heliotrop, Orangeblüten und Weih- rauch schwebte, nicht leiden. Aber in Strawberry hing das Porträt der Magd Sarah Malcolm, der reinen Mörderin. Die „Autoren" sind für den Dichter Walpole Tagelöhner oder die Brechwurzel Ipekakuanha. Fielding ist ein Plebe- jer, der mit einem Blinden, drei Iren und einer Dirne auf unsauberem Leinen kaltes Hammelfleisch und einen Schinken- knochen verzehrt. Swift, der bei Sir William Temple am zweiten Tische saß, und mit einer schwarzäugigen Kammer- jungfer, seiner Stella, liebäugelte, ist ein undankbarer Streber; bei Sir Robert Walpole selbst hat er zugegeben, er sei eine Kletterpflanze. Richardson schildert die Welt nach den Ideen eines Buchkrämers. Sterne, der seine Mutter verhungern läßt, \ WALPOLE 23 hat „too much sentiment to have any feeling". Goldsmith, der den vornehmen Albemarle-Club angriff, wird zum Idioten. Ungerecht ist, daß man die Schuld am Selbstmord des jungen Chatterton Walpole zuteilt. Ihn hatte schon der „Fingal" verdrossen: „Ich bin es müde, zu sehen, auf wieviel Arten ein Held der Sonne, dem Mond, einem Felsen, einem Löwen oder dem Meere gleicht." Er ahnte die Ossiankrankheit. Ein Mäzen war der Lord Orford nie. Er wollte nicht dreiste Gesellen protegieren und vermachte der Wissenschaft 100000 Pfund, nach der Gewohnheit. „Ich bitte Sie, lesen Sie keine Magazine", ist seine hochmütige Lektion an Sir H. Mann, den Gesandten in Florenz, seinen ständigen Hörer neben Montagu. Sein Sport war der „Katalog der königlichen und noblen Verfasser", worin er die literarischen Taten sämtlicher Könige und Grafen aufreiht, die Schriften des prachtvollen Essex und die Schriften der bärtigen Herzogin von Newcastle, die ein Schwein hegte und nachts, wenn sie inspiriert war, ihren schlafenden Kämmerer weckte: „John, ich empfange!" Der „fashionable cabal" entzog Walpole sich nur für die Dauer flüchtiger Sarkasmen. Mit der Seele war er bei Leuten wie dem modischen Denker Lord Chesterfield, zu dessen Episteln an Philip Stanhope er ein weibliches Pendant er- sonnen hat. Den Grazien w^ar er holder als der Dummheit Johnsons. Die Großmutter seiner Briefkunst ist Unsere liebe Frau von Sevigne. Auf seiner zweiten französischen Reise wall- fahrtete er nach Livry, spähte nach ihren alten Bäumen und betrat die kleine Holzbrücke, wo sie den Kurier und die Bot- schaften ihrer Tochter erwartete. Die du Deö"and spendete ihm eine Schnupfdose mit dem Kopf der unermüdlichen Frau. Wie sie plagte er sich nicht mit der Form, wie sie schwärzte er so viel Papier, als er gerade hatte. Von unge- fähr begann er. Er plauderte. Wenn er melden wollte, daß 2* 24 WALPOLE das Laub noch winterlich sei, kritzelte er mit Anmut: „Wir haben noch kein Blatt, das breit genug wäre, um einer Eva von zwei Jahren als Schürze zu dienen;" und wenn der Schneesturm das Dach der Lady Raymond abgedeckt hatte: ,,Lord Robert Bertie, der die Dame heiraten will, kann nun zu ihr niederfliegen wie Jupiter zu Danae." Seine Berichte sind eine ,,Chronique de l'Oeil-de-boeuf." Dieselbe Eigenschaft geht durch die Memoiren, die er für die beiden Fräulein Berry entworfen hat. ,, Belagerungs- münze" sind sie, vom ersten besten Metall geschlagen, um ,,die Garnison für den Augenblick zu beschwichtigen". Er bucht die Wandlungen unter drei Monarchen. Vom Grafen Königsmarck erzählt er, der zur Gemahlin des nachmaligen Georg L in die Schlafstube sich stiehlt, und dessen Leiche man nach Jahren unter dem Fußboden findet. Von Georg IL, dem feindlichen Sohn, der das Testament seines Vor- gängers brutal dem Erzbischof wegreißt und es verbirgt, weshalb Friedrich der Große ihm Zuchthaus wünscht. Von der Königin Karoline, die einen Bruch hat und ihr Hemd wechselt, indes der Kaplan im Vorzimmer unter dem Bild der nackten Venus steht und ihr das Wort Gottes durchs Schlüsselloch pfeift. Von ihrer Rivalin, der Lady Suffolk, die als Frau Howard im Exil ihr Haar feilgab und dem nachts im Wachraum von Saint James polternden Gatten hoch be- zahlt wird. Auf daß sie nicht ganz taub werde, erbittet der Hofwundarzt Gnade für einen Gefangenen, der sich zur Probe einer Operation des Trommelfells unterziehen will. Er wird begnadigt, aber die Sache ist ein Gaunerstreich. Der könig- liche Liebhaber beehrt die Suffolk, die Uhr in der Hand. Denn er ist genau, und noch gegen Ende dünkt er sich, wenn er mit Lady Yarmouth, der letzten deutschen Kebse, von Richmond durch den Staub kutschiert, der großartigste Fürst Europas. Doch ist er Karoline, so lange sie lebt, gehorsam, WALPOLE 25 duldet, daß die Howard bei der Frisur gepeinigt wird, und fährt sie an: „Weil Sie selbst einen häßlichen Hals haben, wollen Sie den Hals der Königin verstecken." Alle Fitz der Welt, alle Bastarde, scharen sich um den Hof, in dessen Ge- triebe bald ,, Tanzlehrer die Minister ersetzen". Eine trüge- rische Hoffnung ist der Herzog von Cumberland, der Prinz und Feldherr, der im Jugendtrotz seiner Mutter den Spruch Jesu zitiert: ,,Weib, was habe ich mit dir zu schaffen?" Da ist der entfernte Schatten von Sir Robert Walpoles erbittertem Feind, dem blühenden, dem eitlen, dem,, Satan" Bolingbroke. Da ist der Herzog von Newcastle, Smollets Zerrbild, der stotternde, ekle Minister, der glaubt, Hannover liege im Norden, weinerlich die Pflaster des Herzogs von Grafton küssen will, auf den Mantel des Cumberländers trippelt, um sich in der Grabkapelle nicht zu erkälten, und feig in das wärmende Bett von Frau Pitt schlüpft. Da ist Popes ,,Atossa", die verrückte Sarah Marlborough, die Witwe des Siegers von Blenheim und Hüterin seines Leichenwagens, die tyrannisch die Königin Anna ihre Handschuhe tragen läßt, sich von ihr abwendet, als ob sie übel röche, und dem „Nachbar Georg" verbietet, durch eine Galerie Marlboroughhouse zu verdun- keln; ein Feldwebel in Unterröcken, der sogar mit dem Tode rauft. Da ist die Tochter der frechen ,,Königsmetze" Dor- chester, die Herzogin von Buckingham, die in Paris über dem Sarg Jakobs IL, ihres Erzeugers, schluchzt, doch eine Samtdecke zu bezahlen aus Geiz ablehnt. Da ist die Herzogin von Queensberry, die mit Weibern im Parlament herumtobt. Da ist der Blaustrumpf Lady Man*' Wortley Mon- tagu, Popes Freundin, die in Florenz den Palast beschmutzt, aber den Epiktet verdolmetscht. Ihr Sohn hat eine eiserne Perücke, fallt dem Islam zu und stirbt, bevor er seine Ver- wandten durch die Ehe mit einem vom Maler Romney ge- worbenen, bereits schwangeren Mädchen foppen kann. Da 26 WALPOLE ist die Abenteurerin Chudleigh, Herzogin von Kingston, die wegen Bigamie schimpflich verdammt wird und die Zarin wie den Patriarchen von Jerusalem durch ihre Reize besticht. Da ist die zügellose Lady Vane, ist Lady Worseley mit ihren vierunddreißig Ehebrechern, die sie, um den fünfunddreißig- sten zu retten, selbst vor Gericht lädt, und das Fräulein Straf- ford, das zu Crebillon entläuft. Da sind, während ein Stan- hope noch prahlt, die ersten Menschen hätten Adam und Eva Stanhope geheißen, die Bündnisse mit Lakaien und Kutschern. Da ist die von Junius verabscheute Nany Par- sons, die der Herzog von Grafton durch die Oper führt, und das Glück der armen Schwestern Gunning. Die ältere wird mit einem Ring vom Bettvorhang Herzogin von Hamilton, die jüngere, Lady Coventry, vergiftet sich durch das Bleiweiß der Schminke. Da ist eine britische Manon Lescaut, die Tochter der Butterfrau, die im Park den schönen Tracy fischt und auf entliehenen Tüchern Hochzeit macht. Es wandern die tollen Pembrokes vorüber, die adligen Filze, Verschwender, Selbstmörder, Duellanten wie der be- rüchtigte Lord Byron, die Beutelschneider der Spielklubs, die Nabobs aus Indien. Die Führer der Stuartpartei werden hingerichtet. Der alte Lord Baimerino redet durchs Gitter mit dem Volk, setzt auf dem Schafott eine Brille auf und zuckt mit keiner Wimper. Lord Kilmanrock bricht zusammen. Dawsons Herz wird von seiner Braut ins Feuer geworfen. Lord Cromartie wird geschont; aber seine Frau gebiert ein Kind, das im Nacken ein Beil als Mal zeigt. Walpole sitzt beim Prozeß auf der Galerie neben dem jüdischen W^irt Norsa, dem Vater der Konkubine seines Bruders. Der greise Lovat wird aus einem hohlen Baume Schottlands hervorgezogen. Die protestantischen Katilinarier wüten. Ihr Haupt, der bleiche Lord Gordon, maskiert sich als bärtiger Israelit und verschwindet im Gefängnis. Wilkes taucht auf, der Zeitungs- WALPOLE 27 Schreiber und Demagog, Wesley, der Erzspitzbube und Apo- stel der Methodisten, Theodor, der König von Korsika. In Cock-Lane spukt ein Gespenst, die Erde bebt, die Trompete des jüngsten Tages schmettert, Lafayette eilt nach Amerika, während sein Weib im vierten Monat ist, Charles Fox spielt trotz seinen Gläubigern Faro und mit Pitt um die Macht, Lunardo hebt sich mit Katze, Hund und Taube im Ballon zu den Wolken. In Paris gellt die Revolution, die Walpole haßt wie die Sünde. Wie jener Irländer auf brennendem Schiff beruhigte er sich: „Ich bin ja nur Passagier." Philosophisch erkannte er mit Shaftesbury: „Die Welt ist eine Komödie für die, welche denken, eine Tragödie für die, welche fühlen." Und er starb, als er schon diese häßliche und unbequeme Not- wendigkeit durchaus vergessen hatte. Der Jesuit. Seinen Namen hören wir nicht. Pere L. . . von der Ge- sellschaft Jesu: das ist sein Inkognito. Von Station zu Station wandert sein Fuß, ohne eigenen Willen. Aus Lon- don, wo ihn ein britischer Ordensmann, ein ehemaliger Re- verend, herumführt, aus Rochampton, wo er den Frauen des Heiligen Kreuzes predigt, holt ihn der Proviuzial nach Lothringen zurück. Seine Mutter stirbt. Er ist ihrem Be- gräbnis fern. Denn dreihundert Zöglinge sollen Lehrstun- den erhalten, die er nicht versäumen darf. „Ich habe mich dem Priestertum geweiht, und Gottes Altar ist mein Platz." Kaum hat er in einer Stadt geendet: da ruft ein Telegramm ihn nach neuem Ziel. Dann steht er in einer Kathedrale und redet über Petri Fortleben in seinen Nachfolgern. Es ist das Jahr des vatikanischen Konzils. Ruhmlos stützt er das Dogma von des Papstes Unfehlbarkeit. Er wird nach Rom befohlen, an den Sitz des Ordensgewaltigen. Die Episode ängstigt ihn. Von Basilika schweift er zu Basilika, von Madonna zu Madonna. Er wohnt im Haus des Heiligen Ludwig, sieht Pius den Neunten, küßt ihm die Füße und nimmt als Gnaden- beweis einen Sündennachlaß in articulo mortis für seine Schwestern mit. Er preßt die schmalen Lippen auf die Ketten der Märtyrer, taucht seine knochigen Finger ins Wasser gesegneter Brunnen. Durch preußische Posten hin- durch reist er über Straßburg, Nancy und Metz, um den Brüdern den Wunsch ihres Generals zu bestellen. Er grollt der Republik, und gern würde er das Los der fünf Blut- zeugen teilen, die von den Kommunards erschossen werden. In Amiens geht er mit einer Prozession unter dem Fenster vorbei, an das seine Schwester sich geschleppt hat, um noch einmal das Bild der Himmlischen Jungfrau zu erblicken. Der Mutter Gottes verspricht er, eine Geschichte seiner Pilger- Mi DER JESUIT 29 fahrt zu schreiben, wenn sie die Kranke genesen lasse. Hier- auf erkennt er, daß diese Bedingung frevelhaft war, und wiederholt sein Gelöbnis bedingungslos. Die Schwester lebt noch einige Wochen. „Der Herr wollte sie bei sich haben, des Herrn Wille ist wohlgetan." Das Alter kommt. Das Rheuma meldet sich, wenn er vor seinem Gott niederkniet. Er wird Rektor in Dijon. Sechsunddreißig Stunden bleibt er unterwegs, wallt in strömendem Regen durch die Straßen von Lourdes. Der Tod ereilt ihn, da er sich schon anschickt, in Paris die Kanzel zu betreten. Vierund vierzig Jahre alt, hat er an das blutjunge Fräulein Marie-Anne de Fallois, den Gegenstand seiner geistlichen Sorge, den ersten Brief gerichtet. Mit einundsechzig schreibt er ihr zum letztenmal. Sie hat einen Offizier geheiratet, den zum Obersten aufsteigenden Herrn de X., und denkt an ihren Beichtvater nicht mehr. Sie erinnert sich nur noch eines Verdrusses, den seine Torheit ihr zugefügt hat, als habgierige Nonnen, denen sie ein Waisenhaus einrichtete, samt den größeren Schülerinnen entflohen. Mit ihrem Gatten ist sie in einer algerischen Garnison. Eine Familienanzeige, die sie zwischen dem Lesen der Revue des deux Mondes und weltlichen Geschäften kuvertiert und mit der Adresse des Pere versieht, liefert ihm den Vorwand, sie zu begrüßen. Sie antwortet nicht. Bald darauf findet sie in einer Zeitung, daß er „entschlafen" ist. Sie hat noch alle zweiundsiebenzig Zuschriften. Ein Blutsverwandter, ihr Bruder vielleicht, läßt sie drucken und gibt sie heraus. In der Einleitung hadert er mit Klerikalismus und Jesuitismus. Doch das Buch ist noch etwas anderes als ein Beitrag zur Religion in Frank- reich: ein Roman von spröder, trauriger Melodie. Zuerst weicht die Korrespondenz von den Floskeln des priesterlichen Verkehrs mit einem vornehmen Mündel nir- gends ab. Leise nur errät man zarte Überraschung, zarte 30 DER JESUIT Unruhe. Der Pere L. . . beklagt sich, wenn das Fräulein ihn vergessen hat, mit halber Stimme. Er fragt, warum sie ihn so grausam bestrafe. Er schildert ihr, wie die Laien- schwester, die Hüterin der Pforte, mit dem ersehnten Brief in seine Stube tritt, und wie er das Siegel aufbricht. ,, Schnell, schnell", so schreibt er eines Maimorgens, vor der Früh- messe, „weshalb eilt meine Feder nicht wie mein Herz?" Das deutsche Wort „Heimweh" soll seine Spannung ver- dolmetschen. Er ist stolz auf sie, die seiner Häßlichkeit un- erreichbar edel erscheint. Demütig wirbt er um ihr Ver- trauen. Ihn bedrückt der Zweifel ihrer Jugend. Er möchte die Hände ausbreiten, um sie zu trösten. Dann wird er, ohne den Übergang zu spüren, heftiger. Ein flackerndes Fieber kriecht ihm in die hohlen Wangen. Plötzlich steht auf dem Papier: „Sine cruce non bene vivit amor. Sie lassen es mich fühlen." Er stockt, ihn erschreckt die Herrschaft, die er gewonnen hat. Zitternd hält er an sich, zitternd ahnt er, daß zwischen der ideellen Gemein- schaft und dem Drang der Sinne ein Band ist. Er, das Vor- bild eines Klerikers, opfert seinen Rosenkranz, sein Brevier, um eine halbe Stunde für einen Brief an sie zu stehlen. In Rom schlägt die Leidenschaft über ihm zusammen. Er streift durch Subiaco, auf den Spuren des heilig-unheiligen Bene- dikt, von dem Montalembert erzält: „Die Versuchungen wer- den ihm nicht erspart. So sehr plagt das Begehren seine rebellischen Sinne, daß er nahe daran ist, seine Zuflucht zu verlassen und einem Weibe nachzulaufen, dessen Schönheit ihn einst ergriffen hatte. Bei der Grotte war ein Dorngebüsch. Er reißt das Tierfell ab, in das er sich zu kleiden pflegte, und wälzt sich nackt umher, bis sein Leib nur noch eine Wunde und das innere Feuer, das in der Einöde ihn ver- zehrte, ganz erloschen war." In Assisi, Loretto, Padua er- wacht der gequälte Mann aus dieser Legende. Die mystische DER JESUIT 31 Krise ist überstanden. Doch als ein Zeichen seiner Gefangen- schaft dringen Bilder voll Dumpfheit in seine Ermahnungen. Jesum ruft er an, dessen Blut er für sie vergieße, der die Arme nach ihr strecke. Die schwer duftenden Lilien, die sie ihm schickt, legt er in sein Evangelienbuch. Sie strebt trotz allem in die Welt, die er fürchtet, in der er lächerlich ist, in der jeder Fant ihn überstrahlt. Eifervoll neidet er ihr die Möglichkeiten einer heiratsfähigen Dame, deren Eltern ein Landgut bei Verdun besitzen und nicht nur zu den Jesuiten, sondern auch zu Herren von Stand Be- ziehungen haben. Gleich die ersten Briefe gelten einem grellen Konflikt, einem Dumasstoff. Marc, ein abgewiesener Freier, hat dem Fräulein geschrieben, wenn sie sich von ihm nicht entführen lasse, müsse er sich eine Mätresse zulegen, und Anne werde Schuld daran sein. Der Pere L . . . ist ent- setzt: „Welcher Sturz, daß er es wagen darf, Ihnen so zu drohen 1" Er fordert, sie solle Marc aus ihrem Gedächtnis tilgen. Er stellt sich ein Drama vor, bei dem einer ihrer Brüder gezwungen sein werde, einem Schänder ihrer Ehre eine Kugel durch den Kopf zu jagen. Man merkt, wie es ihn peinigt, irgendwann auf ihrer Stirn den Schimmer der ,,bo- hemes de l'erreur et du vice", den Schimmer erlaubter, all- täglicher, nur für seine Entbehrung gefahrenreicher Lust sehen zu müssen. Er wacht an ihrer Schwelle. „Und Sie, Anne?" fragt er sie aus: „noch nichts? So darf ich Sie für mich behalten?" Er wirft ihr vor, daß sie einen Ball besucht, daß sie ihr Lächeln feilgeboten hat, während er zu Christus betete. Er warnt sie vor einer künstlichen Liebe, die in den Treibhäusern der Welt aufsprießt, und möchte eher Unglück für sie als Glück, eher die Resignation als das Behagen: „Ver- zeihen Sie mir! Das ist Egoismus." Wenn sie ihm von ihren Triumphen berichtet, tadelt er ihre Gefallsucht, und man ent- deckt, daß ihn selbst ihre Anmut eines hübschen, sauberen 32 DER JESUIT Tierchens, das Sprühfeuer ihrer Augen am meisten erregen. Ungewandt formt er ein Kompliment: „Belle et cruelle: der alte Reim ist immer noch wahr." Auf den Plan tritt Mr. de X., der Erkorene, der eine Vergangenheit hat, Esprit und Dislinktion. Der Pere L . . . wittert den Feind. Er kämpft gegen ihn: „Ich will diesen Wahnwitz nicht." Unter Tränen beschwört er sie, ihm sein Gut, ihr kristallenes Herz nicht zu rauben, dem Bunde treu zu sein, den aufzuheben sie nicht befugt sei. Er entwürdigt sich zur Rauheit. Als sie schwankt, vergeht er. Als sie ihm wiederum genommen ist, stammelt er: ,, Erbarmen Sie sich eines Greises. Ich bin nicht jung wie Sie." Ihrem Wunsch, ins Kloster zu gehen, ihr schwarzes Haar unter der Haube zu bergen, weigert er die Gewährung. Hochmütig schreibt er ihr, daß sie alle Rechte auf ihn habe, die mit dem Vorrecht des Heilandes vereinbar seien. „Ge- horchen Sie Ihren Neigungen, ertränken Sie sich, doch hei- schen Sie meinen Beifall nicht." Zuletzt gibt er nach, mit einem Rest von Hoffnung, daß ihm der Garten ihres Ge- wissens auch fürderhin offen sein werde. Bang fleht er zum Unbekannten (das er den Himmel nennt), ihre erschütterte Gesundheit möge sich kräftigen, ihre Mutterschaft (die ihr nie zu Teil wird) nicht mit dem Tod zu bezahlen sein. Um- sonst klopft er an der Tür der Verheirateten, seiner „Toch- ter", seiner ,, Protestantin", die er kein einziges Mal ohne Zeugen spricht. Er wird ein stumpfer Mönch, der in seiner Dürftigkeit um den Buchstaben zankt. Der vierzig Jahre lang von der Neugier der Späher abhängig gewesen ist. Der einsam ist in einem System, dessen gebieterischer Sinn über ihn hinaus- reicht. Die Jungfrauen. Erst als die Kirche wankt, als aus dem Felsgewirr des Sila der Kalabreser Giovacchino und Ranieri ihre Pro- phezeiungen geschickt haben, als die sanfte, der Erde lä- chelnde Glorie von Assisi verblaßt, ist von neuem die Stunde des Weibes da. Nicht auf den Marktplätzen spüren wir sie, nicht im Lärm der Wilhelmitinnen, der Flagellantinnen, der Apostelschwestern. Schlafend sitzen in ihren Kammern die Jungfrauen, die erstorben über die Welt triumphieren. In Foligno löst sich die von der Fastenzeit geschwächte Angela aus der Starrheit und verkündet ihren Traum von Gott: wie ihr die Liebe sich in Gestalt einer Sichel näherte, wie ihr Rumpf in zwei Hälften zerfiel, eine dürre und eine feurige, wie ihre Zunge abgeschnitten war, daß sie nicht von dem zu reden vermochte, was sich ihr offenbarte. Katharina von Genua, die eingetan ist in den göttlichen Busen, drin alle geschaffenen Formen sich verlieren, nennt sich ihren zer- schmolzenen Gliedern so sehr entfremdet, daß sie zu elend sei, ihren Leib zu tragen, und jubelt dazu. Mit dreiund- dreißig Jahren hat Katharina von Siena, die Entsühnerin der Päpste und Könige, das dreiundzwanzigste Kind des Färbers, ihr Ziel erreicht und grimmig sich zu Tode gefoltert. Verbannt geht diese von Sodoma, dem Glühenden, in zittern- der Schwäche, von Vecchiatta als eine „Prinzessin des My- stizismus" gemalte Heilige durch die getürmte Felsenstadt mit den roten Mauern, durch das Siena der Begräbnisse und und der morte oscura, doch auch der Kunst und des listigen Handels. Sie kasteit sich, speit ihre Nahrung von sich, schwelgt in Liebe und Blut, empfängt die Stigmen und wird durch einen unsichtbaren Ring die Braut des Herrn. Er gibt ihr seine Züge zu schauen, seinen majestätischen Blick, seinen kornfarbigen Bart, und tauscht sein Herz gegen das ihre, das 34 DIE JUNGFRAUEN seine Finger hervorwühlen. In der Katalepsie ist sie eine Gefangene, wenn sie sich ihr entwindet, eine geharnischte Botin des Himmels. Ihre hispanische Schwester w^ar Teresa von Jesus, die erhabene Doktorin, die seraphische Mutter von Avila, die Scheintote und von der Todesangst Beschattete. Wachend fühlt sie selbst ihre Raserei unter den Bissen scharfer Zähne, ihre stundenlangen Ohnmächten, aus denen sie seuf- zend sich erst befreit, wenn das Wachs der Kerzen ihr aut die Lider tröpfelt, die Eiskälte der Hände, die sich wie Stangen anrühren. Sie hört das Brausen großer Ströme, Vogelzwit- schern und Pfeifen, sie wird durch das Grinsen des Teufels erschreckt, der bald eine Kröte, bald eine Flamme, bald ein kleiner Neger ist, und oft wird sie gelähmt von Verzweiflung. Zur Transzendenz beruft sie ein Christus an einer Säule, der seine traurigen Augen auf sie richtet. Das finstere Haus unter dem gezackten Kamm der Sierra, eine Stunde vom Escorial, unter welker Sonne ist ihr Reich, und ein Blutsturz die Ur- sache ihres Hinscheidens. Jehanne d'Arc, die lothringische Bauernmagd, ist gleich der Sieneserin ein Kind der Zeit, da überall bei den Großen der Erde inspirierte Weiber und Männer sich meldeten und mit erschreckten, glänzenden Augen zur Buße mahnten. Zu Karl VI. waren die Dame Marie de Maille gekommen, die ihm die Tiefen der Vorsehung kund tat, und Marie Robine von Avignon, die den offenen Himmel erblickte. Heinrich V. beugte sich dem Einsiedler von Gent. Wort für Wort hat Jehanne in Chinon die Reden wiederholt, mit denen fünfundsiebzig Jahre zuvor ein Landmann aus der Cham- pagne Johann den Guten gewarnt hatte. Um sie her schwärmt eine Sekte, die wünscht, sie solle an der Spitze der franzö- sischen Truppen Jerusalem erobern. Sie verwechselt die Heiden mit den Hussiten, die sie verabscheut, obwohl sie des nämlichen chiliastischen Geistes voll sind. Ihr Gefährte DIE JUNGFRAUEN 35 ist der Franziskaner Bruder Richard, dem syrische Juden die Geburt eines Messias zu Babylon angesagt haben, der gellend vom Widerchrist spricht und Glücksspiele und Frauen- zierat verdammt. Er hält die Magd von Greux für höllisches Blendwerk. Dann folgt er ihr mit dem Bruder Pasquerel, um erst nach ihrer Verbrennung von ihr zu lassen. Mit ihm zieht ein ganzer unruhiger Troß echter und unechter Beguinen; denn eine Beguine ist Jehanne d'Arc, wie nicht nur ihre durch zwei Frauenkommissionen, eine in Poitiers und eine in Ronen, bestätigte Keuschheit vermuten läßt, gewesen. Catherine la Rochelle macht ihr den Ruhm streitig, die zwar schon mehr- fach geboren hat, aber wie eine Jungfrau Gottes in Nächten eine weiße, in Gold gehüllte Heilige schauen will, und zwei Bretoninnen sind da, arme, der Jehanne ergebene Kranke. Die eine rettet sich durch Widerruf, die andere, die Pier- ronne, beharrt, als der Scheiterhaufen schon lodert, bei ihrer Versicherung, Gott habe wie ein Mensch, in langem, weißem Kleid mit ihr gesprochen. Doch alle überwindet die Beguine aus Greux, die in Ronen vor ihrem Sterben zwei Holzstäb- chen, die ein Engländer ihr gibt, zum Kreuz zusammenlegt, sie küßt und lächelnd sich zwischen Brust und Gewand steckt. In blindem Drang steht sie eines Tages unter den Arma- gnacs, den groben Soldaten, die, da sie häßlich ist, sie wieder heimschicken möchten. „Nimm sie nach Hause zu ihrem Alten und gib ihr ein paar Ohrfeigen", spricht der Ritter von Baudricourt zu ihrem Oheim Lassois, der sie gen Vau- couleurs führt. Als sie nochmals kommt und sagt, sie werde drei Söhne, einen Papst, einen Kaiser und einen König ge- bären, bietet der Ritter ihr seine Hilfe zum ersten der drei an. Sie läßt sich nicht spotten und erzwingt das verweigerte Gehör. Über den Landsknecht Jean de Metz, auf dessen Rat sie ihren Kittel mit Hosen vertauscht und ihr Haar kurz 36 DIE JUNGFRAUEN trägt, über den Herzog von Lothringen, der trotz ihrem Ge- heiß seine Konkubine Alison nicht verjagt und die Bäuerin mit vier Sols und einem Gaule abfertigt, dringt sie nach Chinon vor. Dort wird sie vom halbreifen und schon de- krepiten König empfangen und, da die Menge ihr zuläuft, in seiner Umgebung geduldet. Der Herzog von Alencon, Karls Vetter, ahnt mit einfältigem Sinn ihre Größe. Messire Regnault de Chartres, der Reimser Erzbischof, erkennt, wie nützlich diese Besessene ist, die hellen Antlitzes gelobt, mit dem König nach Reims zu ziehen, wo vor Zeiten Chlodwig aus der wundervollen Ampulla gesalbt worden ist. Sie ver- sucht den Entsatz des belagerten Orleans, in weißem Küraß, auf einem bejahrten Pferde, das Schwert von Fierbois und ein Banner mit Gott und der Weltkugel in ihren schwachen Händen. In ihrem Gefolge reitet, sie überragend, Herr Gilles de Rais, der spätere Marschall von Frankreich, Zauberer und Kinderwürger. Die Priester senden der guten Jehanne Proklamationen vorauf, die den Engländern drohen, als ob sie Judith wäre. Die Soldaten gehen mit ihr einen falschen Weg. Dicht vor Orleans sieht sie, daß die Loire sie von Talbot trennt. Sie spürt den Verrat und nähert sich dem Bastard von Orleans, der in der mit nichten abgeschnittenen Stadt befehligt. Sie tadelt seine Hinterlist und hält ihm vor, daß Gott der Herr mit ihr im Bunde sei. Der Bastard ge- horcht ihr zum Schein; denn er ist klug, Grammatiker, Stern- deuter und ein Meister der Heuchelei. Aber Jehanne ver- wirrt sich, als Taten gefordert werden. Es grämt sie, daß Talbot nicht demutsvoll die Schanzen räumt. „Kuhhirtini" ,, Hurenmensch!" schmähen auf dem Wall die betrunkenen Briten, die sie wie die Leute in Lothringen ,,les Godons" nennt, weil sie stets ,,Goddam!" fluchen. Ihr hoffender Glaube wankt. Sie will nach Blois, und schwer nur über- redet der schlaue Bastard sie zu bleiben. In Orleans ist sie. DIE JUNGFRAUEN 37 wenn sie in den Straßen sichtbar wird, die Heldin der Miliz. Von der Schlacht wollen Sires und Soldaten sie in jedem Falle zurückhalten. Beim großen Ausfall schläft sie. Träumend hört sie das Stampfen. Sie erwacht und ruft ihrem Pagen Mugot zu: „Ha, scheußlicher Knabe! Was ließest du mich nicht wissen, daß französisches Blut vergossen wird?" Nicht sie selbst verschafft den Franzosen den Sieg, vielmehr ihre Fahne, die ein nur als „le Basque" bekannter Söldner von der Kompagnie des Herrn von Villars hoch durch die Luft schwenkt. Zu spät ist Jehanne vom Gebet in den Wein- bergen heimgekehrt, zu spät hat sie sich an ihr weißes Banner geklammert, das die nervige Faust des Basken ihr entreißt. Hinfort mißbraucht die Kanzlei des Königs ihren Namen und rechnet in Briefen an die Städte ihr die Erfolge zu, die der Connetable und der Bastard mit starken Schwer- tern erringen. In ihrer planlosen Ekstase nimmt sie am Zuge durch die Champagne teil, der den Briten gestattet, den Krieg zu verschleppen. Sie ist bei dem Heer vor Paris, das, während sie nichts ahnte, bestürmt wird, obwohl der Tag von Maria Geburt ein Tag des Gottesfriedens sein soll, und wird in dem abgebrochenen Treffen gefährlicher als zuvor verwundet. Sie erliegt der Doppelzüngigkeit des Königs, der um ihret- willen Alencon, ihren „beau duc", ins Exil schickt. Taumelnd wird sie vor Compiegne von Lyonnel, dem britischen Bogen- schützen, abgefangen. Messire de Chartres ersetzt sie durch Guillaume, einen Schafhirten. Dieser Jüngling ist „LePuceau" nach der „Pucelle" und zeigt an Füßen und Händen und Hüften stigmatisierte Wunden. Bei Beauvais überwältigen ihn die Feinde. Nach Heinrichs VI. Triumphgang durch Paris wird er in einen Sack genäht. Das Wasser der Seine spült seinen Leichnam fort. So hat er das Schicksal seiner Vorgänge- rin, die in Ronen verbrannt wird, und auch von seiner Stirn wird der Opferwahn geleuchtet haben, der ihre Stirn verklärte. 3 38 DIE JUNGFRAUEN Erschüttert hat selbst France in seinem traurigen und ge- lehrten Buch den Elan ihres Martyriums bestaunt, die wilde, schweigende Kraft, mit der sie für einen König starb, der sie nichts anging. Die Hoheit stiller Gegenden ist um sie. Vor den schwarzen Häschern in Ronen sehnte sie sich nach ihrer Heimat, nach dem rauschenden Baum der Feen, der alten Buche, unter der Sainte Catherine, Sainte Marguerite und Saint Michel ihr erschienen. „Wäre ich inmitten meiner Wälder," entgegnete sie dem Cauchon, „würde ich ihre Stimmen hören." Sie hat zwei Freundinnen gehabt, Hau- viette, deren Lager sie teilt, und Mengette, mit der sie zur Arbeit des Webens und Nähens zusammentrifft. Sie ist fromm gewesen wie ihre Mutter, die im Dorfe ,,la Romee", die „Rompilgerin" heißt; niemals streift sie einen Messing- reif, der Mutter bescheidenes Geschenk, vom Finger. Als dörfliche Halluzinierte, als eine von Prophezeiungen, von Mord und Brand, von hundert Kriegsnächten erregtes Ge- schöpf, ist sie hinaus auf die Heerstraße gewandert. Es traten Nachahmerinnen auf, die mit ihrer Passion wucherten. Fünf Jahre war sie tot, da eilte durch Lothringen das Gerücht, Jehanne d'Arc lebe und habe in einem Orte bei Metz sich ihren Brüdern vorgestellt, die nun von Königs Gnaden adelige Herren du Lys waren. Die Brüder prüften die Fremde und sagten, daß sie ihre Schwester sei. Das Weib saß trefflich im Sattel und sprach wie eine Prophetin. Freudig huldigte ihr das Volk, der König, der zum wenigsten den Jean du Lys beschenkte, und der Rat von Orleans. Die Herzogin von Luxembourg nahm sie auf. Sie bestrickte den jungen Grafen Ulrich von Württemberg, der ihr einen Küraß gab, und zog mit ihm nach Köln. Doch da sie un- züchtige Kleider trug, mit Männern tanzte und sich der Jong- leurkunst befliß, erweckte sie den Argwohn des Theologie- Professors Kalt Eysen; der Inquisitor verbängte den Bann .£1: DIE JUNGFRAUEN 39 über sie. In Arlon heiratete sie Robert des Armoises, Herrn von Tichemont, von dem sie zwei Kinder bekam. „Jeanne du Lys, Jungfrau von Frankreich", nannte sie sich in einem Kaufvertrag. Zwei Jahre hauste sie in Metz mit einem Priester. Dann zog sie nach Orleans, wo derselbe Schenke sie be- wirtete, der Jehanne d'Arc den Wein serviert hatte. Sie sah sich Tours an, befreundete sich in Poitou mit Gilles de Rais, der schon der im Blute watende Magier war, und wurde erst in Paris entlarvt. Sie gestand, daß sie in Rom unter dem Papst Eugen Heeresdienste geleistet hatte. Die Richter be- gnadigten sie, nachdem sie auf steinernem Pranger ausge- stellt worden war. Sehr glimpflich ging es einer dritten Jehanne d'Arc, der von Sarmaize, der nur die männliche Tracht verboten wurde. Eine vierte, die von Dämonen ge- plagte Jeanne La Feronne, stand, vor das geistliche Gericht gezerrt, mit papierener Mütze auf dem Markt von Tours. Dann ließ man sie frei. Antoine du Faur erzählt, daß sie später ein Sündenhaus betrieben habe. Unter der Präsidentschaft Sadi Carnots litt Schwester Jeanne-Marie an Periostitis; sie genas durch die Fürbitte der Jungfrau von Orleans. Es folgten Schwester Julie An- thier von Sankt Norbert, der die Selige einen Brustkrebs, und Schwester Therese von Sankt Augustin, der sie einen Magen- krebs wegnahm. Die Hügel von Domremy wurden durch kirchliche Bauten ihrer Anmut entkleidet. Eine Kapelle, ein Eudistenhaus, ein frommer Gasthof, ein Karmelitenkloster, Läden und Buden erhoben sich, und als Maurice Barres hin- reiste, um zwischen Wald und Fluß der Tradition seine An- dacht zu zollen, seufzte er über die mönchische Entweihung einer Gestalt, die dann in den neuesten Tagen vollends für die Intelligenz der Cures zurechtgemacht worden ist. Neben Katharina und Jehanne verschwinden die mysti- schen Lämmer der deutschen Klöster, verschwinden die 40 DIE JUNGFRAUEN weichmütigenSchwärraerund Schwärmerinnen, die bei jungen Völkern erstanden. Nur einer Transzendenten sei gedacht, die noch vor Roger und Memling lebte, der heiligen Lydwine von Schiedam. Ihr Vater war ein betrunkener Nachtwächter, und sie hatte das derbe Gesicht einer Proletarierin. Mit fünf- zehn Jahren wurde ihr beim Schlittschuhlaufen eine Rippe eingedrückt. Seitdem hütete sie das Bett, in dem alle Seuchen ihr eiterndes Fleisch zerfraßen, und hatte keinen Teil mehr am Leben. Jan Pot, der Geistliche von Schiedam, sagte ihr, daß um der Weltsünde willen die Leiden des Kalvarienberges sich an ihr wiederholten. Sie fügte sich mit lächelnder Ge- duld. Ihre Seele, die töricht war bei Tage, flog durch Qual und Unrat zu den Wolken, und wenn Lydwine von dort zurückkehrte, quoll aus ihren bresthaften Brüsten Milch, an der Katharina Simon, die Witwe, gierig sich labte. Aber das Unbegreifliche war der Wohlgeruch, der nach Thomas a Kem- pis ihrem Siechtum entströmt ist, ein Geruch von Zimmet und Kännel. Die arme Lydwine hat diese Funktion mit vielen Heiligen gemeinsam. Bei Görres steht ein Kapitel mit Auf- zählungen, die eine lange Tradition verbürgen: Dominikus, Franziskus von Paula, die selige Helena, die selige Ida, Jo- seph von Cupertino, der Dominikaner Salomini, der aus- sätzige Tertiarier Bartholus, zu dessen Lager Volaterra und Florenz pilgerten, und ein Heer noch von Geschöpfen Gottes troffen aus Kleidern und Schwären. Und auch Teresa von Jesus hat einem Blatt Papier, worauf sie geschrieben hatte, einem Salzfaß, dessen sie sich bediente, den himmlischen Duft hinterlassen. Lydwine jedoch ist die wichtigste Zeugin dieser Erscheinung, die der Arzt Georges Dumas mit che- mischen Prozessen erklärt hat, mit der Absonderung der Essigsäure, des Essigäthers, der Butterfette, der Ameisensäure, der Kapronsäure, die im Atem, im Schweiß sich durch die Haut verflüchtigen, weil die normale, Wasser, Kohlensäure DIE JUNGFRAUEN 41 und Harnstoff ergebende Verbrennung und Oxydation gehin- dert ist. Als die Völker irdisch und witzig wurden (nur die Kon- vulsionistinnen und die Guyon treten aus der Stumpfheit heraus), haben die Lydwinen fast sämtlich die Beziehung zur Religion abgestreift. Die letzte Lydwine im Nonnenrock ist die Westfalin Emmerich, an deren Lippen Brentano hing, die in allfreitäglicher Substitution blutete. Und es folgen die Seherinnen Justinus Kerners und ihre Nachfahrinnen, die peinlichen trivialen Damen der okkultistischen Vereine. Lorenzaccio. Der Herzog Alessandro de' Medici, der krausköpfige, neger- gleiche Bastard des Papstes Clemens und der Römerin Simonetta, war beim Schalle gläserner Trompeten, als Berg- tölpel maskiert, auf einem Esel in das Nonnenkloster geritten, das seiner Geilheit sich als Freistatt zu öfifnen pflegte, und mit zerbrochenem Rückgrat umgekehrt. Er wurde von seiner Gattin erwartet, dem Kinde Margarete von Österreich, der Tochter Karls V. und der Flämin Vangest, im Palaste Otta- vianos de' Medici, gegenüber der linken Empore von San Marco, an der Straße nach Fiesole. Dort drängte im be- täubenden Geschrei — man feierte den Tag der Könige aus dem Morgenlande, alle Gläser waren voll, und selbst die zag- hafte Herzogin saß mit verwirrtem Haar da — an die Seite Alessandros sich Lorenzino, sein lauernder Feind und kupp- lerischer Vetter. Er raunte dem Tyrannen zu, daß er Ge- legenheit habe, eine edle Beute zu machen. Der Herzog wußte, wen Lorenzino ihm anbot: seine eigene Schwester Laudomine, die Witwe des Alamanno Salviati, die in hof- fartiger Schönheit prangte wie die troische Helena und mit Maddalena, der jüngeren, zu San Frediano in Castello unter der Obhut der Sor Tomasa wohnte. Hitzig fuhr der schon trunkene Alessandro auf, und eilends schritt er mit Loren- zino zu dessen Haus in der Via Larga, wo er seine waffen- rasselnden Satelliten verabschiedete. Nur einen, den Ungarn, ließ er Posten stehen und gebot ihm zu bleiben, bis er ihn rufe. Doch dem Menschen wurde die Zeit lang, und er trollte sich, um zu schlafen. Weißer Schnee war gesunken, auf Gassen und Plätzen leuchtete der Mond, und lachend husch- ten die Maskenzüge. Der Herzog betrat mit Lorenzino ein glühendes Zimmer im Erdgeschoß. Nebenan war das Schlafgemach der Frau LORENZACCIO 43 Maria Salviati, die von Kirche zu Kapelle, von Kapelle zu Kirche gegangen war und an den umflammten Krippen für die Seele des wilden Giovanni delle Bande Nere, für das Glück seines und ihres Sohnes Cosimo in hofl"ender Trauer gebetet hatte. An der anderen Ecke hielt Bernadetto de' Me- dici eine Spelunke für Galgenvögel und Kurtisanen. Ales- sandro warf sich schwer auf das Bett. „Ruht ein wenig," empfahl ihm Lorenzino, „sehr bald wird sie kommen". Müde schlummerte der Neger ein. Lorenzino maß ihn von oben mit bösem Blicke. Selbst im Widerschein des Kaminfeuers stand er fahl und hohlwangig da, und sein von dünnem Barte umränderter Mund, der wüst und schlaff" war, verzerrte sich. Er spähte nach Alessandros off'enem Hals, an Tacitus und die Ermordung des Kaisers Galba denkend. Sorglich raffte er den Vorhang zusammen, bis kein Licht hindurchdrang, verstohlen trug er das Schwert des Herzogs in eine Ecke. Mit den Riemen umschnürte er die ziselierten Scheiden, so daß es unmöglich war sie zu lockern, dann winkte er dem Scoronconcolo. Ein Spießgeselle des Ruffians, Freccia, wachte vor der Tür, deren Schlüssel Lorenzino umdrehte. Er hob den Vorhang und stieß den Degen in Alessandros plumpen Leib. Gurgelnd wälzte der Herzog sich auf den seidenen Kissen. Der Hieb schnitt ihm ins Zwerchfell. Er stürzte, das Bett mitreißend, zu Boden und flehte, ohne daß er begriffen hatte, seinen Feind an: „Lorenzo, beim barmherzigen Gott, laß mir das Leben!" „Nur Euer Leben will ich", zischte der Entbrannte und schob ihm, damit er verstumme, zwei Finger in das Negermaul. Alessandro zerbiß ihm den Daumen und packte einen Schemel, um ihn niederzuschlagen. Scorocon- colo, die Hyäne, betrachtete, mit entzündeten Augen blin- zelnd, die Verschlungenen. Da endlich wurde der Kopf des Herzogs frei, und Scoroconcolo zerschlitzte ihn. Lorenzino grub seinen neapolitanischen Dolch ihm in die Kehle, aus der 44 LORENZACCIO in rauschenden Strömen das dunkelrote Blut barst, und riß ihm, wie ein Metzger einem Schwein, die knorpligen Röhren hervor. Den triefenden Leichnam schleppte er mit dem Ruf- fian auf die Kissen. Da ihm von der Arbeit schwül gewor- den war, legte er sich ins Fenster und atmete die Luft der Winternacht. Mehr Opfer noch forderte jetzt seine plötzliche Begierde. Er nannte dem Banditen den Giomo de Carpi, dem Maddalena und der Palast der flüchtigen Strozzi vom Tyrannen zugesagt waren, Giulio, den kleinen Bastard, und Messer Maurizio, den obersten der Häscher. Denn er vergaß nicht, daß dieser den Herzog vor ihm gewarnt hatte, als er das Panzerhemd Alessandros wie scherzend in einen Brunnen des Castello Capuano fallen ließ; und auch Scoronconcolo hegte gegen Maurizio den Haß der Gilde. Aber der Ruffian teilte die Empfindungen des Brutus nicht, der den Tarqui- nius, den Schänder der keuschen Lucrezia, getötet hat und die Stadt aus der Knechtschaft rettet. Er hatte den Mord voll- bracht, für den er bezahlt war; nun juckte ihn die Haut seines Nackens. Der Morgen kündigte sich an. Lorenzino deckte sich das hohle Antlitz mit dem Mantel und suchte, indes die Banditen unter den Simsen der Häuser vorwärtskrochen, Zeffi auf, den Rechnungsführer der Maria Soderini, seiner in Entbehrung stolzen Mutter. Ihn bat er um Geld; doch der verstörte, graue Pedant, der ihn zuerst die ruhmvollen Beispiele der Antike gelehrt hatte, besaß nur den Inhalt einer mageren Börse. Lorenzino klopfte bei Leonardo Ginori an; niemand regte sich, unsaubere Finochetti in weiß und grün, Pulcinelli mit rotbezipfelten Kappen schwankten vor- über und foppten die Harrenden. Er weckte im Palast des Bischofs de Marzi den von stinkendem Weinrausch um- nebelten Pförtner und reichte ihm einen falschen Brief, eine schleunige Bestellung nach Cafaggiolo, wo sein Bruder Giu- LORENZACCIO 45 liano de' Medici erkrankt sei. Der Bischof, der als Post- meister befugt war, den Weg durch das Stadttor freizugeben, setzte, noch schläfrig, auf den Zettel seine Unterschrift. So ritten Lorenzino, Scoroconcolo und Freccia spornstreichs aus der Porta San Gallo, und die Hufe ihrer Pferde stampften die gefrorene lombardische Ebene. Der Herzog Alessandro ward gegen Mittag gefunden und von den Dienern in einen alten Teppich gehüllt, weil die scheußlichen Wunden das Volk erschreckt hätten. Eine kurze Frist war Blutgeruch in den Straßen und das Fieber einer Verschwörung. Aber Cybo, der Kardinal, Vettori und Guicciardini brachten die Herzogin in die Zitadelle, und die Soldaten des Vitelli umlagerten mit drohenden Hellebarden den schwarzen Quaderbau des Palazzo Vecchio. Sie plün- derten die Häuser Alessandros, Cosimos und Lorenzinos, und da auch das niedere Volk Silberschmuck und Münzen mit dem Doppelbildnis des Tyrannen und des mediceischen Schutzpatrons ergatterte, gewöhnte es sich rasch in die Ord- nung zurück. Cosimo, der mit seinen Gästen Vögel jagte, kam aus Trebbio. Er sprach nicht viel, er hatte eiserne Sehnen, und ohne zu zucken bemächtigte er sich der Herr- schaft. Der Leichnam Alessandros wurde in der Kirche San Gianetto aufgebahrt, um später nach San Lorenzo in das so entweihte Marmorgrab des Lorenzo d'Urbino über- führt zu werden. Der Tyrannenmörder Lorenzino sprengte, in blutigem Schweiß gebadet und kotbespritzt, erschöpft und flackernd, durch die Gassen von Bologna, wo er bei dem Kaufmann Rafaele abstieg. Ein Arzt von Parma mußte ihm die Hand verbinden; der Daumen war nicht ganz von der Wurzel ge- trennt. Lorenzino jagte weiter, nach Ferrara und Venedig, und immer keuchten die beiden Ruffiane hinter ihm her. In Ferrara hörte er, daß der Rat der Acht auf seinen Kopf 46 LOREXZACCIO einen Preis von viertausend Dukaten gesetzt hatte. Über den Lagunen sah er einen feurigen Balken, und als die Gondel, in die er taumelte, vor dem grünlichen Palast des Filippo Strozzi die vollgefressenen Ratten aufscheuchte, war ihm, als biege sich gegen seine röchelnde Brust unentrinnbar die Klinge des florentinischen Sbirren. Köche. Einer von ihnen gehörte zu den Weltüberwindern. Dies war der berühmte Vatel, der freiwilhg den Heldentod starb, einen dunklen, grausamen Heldentod, Der Schauplatz war das lachende Chantilly, in dem Jahrhunderte französischer Geschichte mit ihrem Zauber sich vereinigen. Wo heute die Türmchen aufsteigen, der Ehrenhof sich dehnt und am Portal wohlgepflegte Kinder in den flachen Schloßgraben niedersehen, ist vor mehr als zweihundertunddreißig Jahren der dicke Vatel in Ängsten umhergerast. Der Sonnenkönig war zu Vatels Herrn, dem großen Conde, „Monsieur lePrince", gekommen, dem Erfinder einer nach ihm benannten Bohnen- suppe. Zwölf Aprilnächte schloß Vatel kein Auge zu. Er sah nichts von der frohen Hirschjagd, nichts von den bunten Laternen, die durch das Gebüsch irrten, nichts von Lunas silbernem Schein; unter zentnerschweren Lasten fiel er zu- sammen. Am dreizehnten Abend ging der Braten aus. Dumpf murmelte Vatel vor sich hin: ,,Ich habe meine Ehre ver- loren; diesen Schimpf überlebe ich nicht." Der große Conde eilte zu dem Verzweifelnden, trat in sein Zimmer und be- ruhigte ihn: „Vatel, alles geht gut; nie war etwas so schön wie das Souper des Königs." Der Dicke erwiderte, an zwei Tafeln habe der Braten gefehlt. Der große Conde tröstete ihn aufs neue. Um Mitternacht wurde ein von Vatel be- stelltes Feuerwerk losgelassen ; aber Wolkendunst zog über den Himmel. Das Feuerwerk kostete sechzehntausend Francs. Um vier Uhr morgens stahl sich Vatel, über trunkene, schlafende Diener hinweg, durch die Gänge. Sein Schatten lief mit ihm. Unten traf er ein winziges, bleiches Kerlchen, das im grauen Dämmerlicht zwei Körbe voll Seefische schleppte. „Ist das alles?" stöhnte der Koch, der nach je- dem Meerhafen geschickt hatte. Es war alles. Unsichtbare 48 KÖCHE Tränen weinend stand Vatel da. Dann schlich er, fest wie Leonidas oder Winkelried, auf seine Stube, zwängte seinen nackten Degen in den Türgriff und bohrte sich die Spitze durchs Herz. Purpurn schoß sein Blut hervor. Aber erst beim dritten Anlauf ist er verendet. Inzwischen kamen von überallher die Seefische an. Man holte Vatel, sie zu ver- teilen, man sprengte zuletzt die Tür; da sah man ihn liegen. Monsieur le Prince fuhr sich in die Perücke, der Sonnen- könig fuhr sich in die Nase, sagte, daß er wohl in Chantilly zu viel Umstände mache, und wollte bei dieser Gelegenheit das Schloß dem Conde abnehmen. Etliche Stunden später vergnügte man sich an Vatels Speisen, niemand gedachte sein, und lustig klang das Hifthorn. Er war der treue Ge- setzgeber der neueren französischen Küche, und die Sevigne lobt seinen klugen Kopf, der eines ganzen Staates Sorgen in sich gefaßt habe. Auch unter seinen Vorgängern gab es ernste, im Braten- dunst den Prinzipien zugewandte Philosophen. Der früheste war Taillevant, der Frankreich der Barbarei entriß, der Koch Karls VH., unter dem die Servietten aufkamen; die Stadt Reims widmete sie dem König, als er, mit der Pucelle im Troß, zur Krönung dort einzog. Taillevant ist der Weise der mittelalterlichen Küche, eine ferne, blasse Gestalt wie Albertus Magnus. An der Schwelle der neueren Epoche, die in dem un- seligen Opfer von Chantilly ihre Höhe erreichte, steht die herrschsüchtige Italienerin Catherine de Medicis. Sie brachte die römischen Würzen. Hahnenkämme waren ihre Lieb- lingsspeise, Geflügel und Wildbret; sie verschmähte die Ge- müse und die Schlachttiere. Sie war sehr erhaben und sehr gefräßig. Sie besaß zwar die Methode des Absolutismus, indes noch nicht seine Genußdisziplin. Erst allmählich wurde die Kochkunst verfeinert, dann aber hat sie Blütezeit und KÖCHE 49 Verfallzeit des unumschränkten Königtums bestimmt. Nicht aus Schlachten und Heraldik, sondern aus der Folge der Gerichte ist die erlauchte Chronik des französischen Hofes abzulesen und des französischen Adels. Was ist Vauban neben dem Sieur de la Varenne, dem Küchenmeister des Marquis d'Uxelles, der die „Ecole des ragoüts" schrieb, und neben dem königlichen Koch Montier, der Medizin und Chemie studiert halte! Wer wüßte noch von dem Herrn von Bechamel, Marquis von Nointal, dem Haushofmeister Ludwigs XIV., hätte er nicht die sauce ä la Bechamel eingeführt und das vol-au-vent ge- schaffen! Haben nicht die Hammelkoteletten ä la Soubise den „Feldherrn" Soubise überlebt, der die Schlacht bei Roß- bach verlor! Ewig rühmt man die Filets ä la Pompadour, die Sauce Colbert, den Truthahn ä la Regence und die pains ä la d'Orleans, die Kulturtaten des Regenten, des „Lüstlings". Und war der Untergang der Bourbonen nicht besiegelt, als Ludwig XVL aufkam, der wie ein Roturier, ein Bürger, alles durcheinander aß, in dessen Magen noch, als er während seines Prozesses zum Temple zurückgebracht wurde, sechs Kote- letten, ein Huhn, Eier, Weißwein und Muskat hinabglitten? Er hatte nicht mehr die geringste Befähigung, als Koch zu wir- ken. Nichts, gar nichts hat er geleistet, indes Naturen wie die Marschälle von Richelieu und Duras, der Herzog von Lavaliiere und der Marquis von Brancas alle Träger weißer Kittel beschämten. Langsam, nach den Verwüstungen der Revolution (der man einzig die Straßburger Gänseleberpastete des Maitre Close verdankt), stiegen die mit ihren Herren gestürzten Köche wieder empor. Nicht Bonaparte war ihr Heil, der kleine, gelbe, korsische General, der überhaupt nicht wußte, was Gastronomie ist, und mit verpfuschtem Magen seine Kriege begann, sondern die „ex-nobles", die aristokratischen Diplomaten. Der eine ist Cambaceres, der nach dem Ther- 50 KÖCHE midor mit seinen Freunden in potage ä la ci-devant reine und ä la ci-devant Conde schwelgte, der spätere Herzog-Kanzler. Der andere ist Talleyrand, als dessen maitre d'hötel der große Carcme unsterblich wurde. Schon der Name Careme ist Schicksals voll; ein Koch, der ,, Fasten" heißt. Er stammte von Jean de Careme ab, der unter Leo X. für die Gaumen der Vatikangäste besorgt war und eine „magere Suppe" zur Labsal in trauriger Fasten- zeit erfand. Die Jugend unseres Careme verging in Armut und Entbehrung, wie das Leben Spinozas. Mit achtzehn Jahren trat er bei einem Pastetenbäcker ein. Sein Lehrer in den Grands extra war der illustre Laguipiere, der erste Koch Murats, der nachmals auf der Flucht von Moskau in einem Wagen erfror. Von ihm begeistert, strebte Careme der Vollendung zu. Lasnes unterrichtete ihn im Gefrorenen, die Brüder Richaut lehrten ihn die Saucen. Nacht für Nacht und in seinen kärglichen Pausen durchforschte er Bücher. Mit brennenden Augen zeichnete er; die Geschichte der Tafel bei den Griechen war ihm bis in die Einzelheiten bekannt. Wenn er der Wissenschaft Stunden geweiht hatte, fachte er seinen Herd zu verdoppelter Glut wieder an. Er hatte in seinen stillen Asketenzügen das Merkmal der Eßlustigen, die herabhängende Unterlippe. Sein Genosse ist Riquette, derselbe Riquette, den um die Zeit des Friedens von Tilsit ein besonderer Auftrag nach Petersburg berief, um dort für die französische Küche zu zeugen. Auch Careme wurde ausgeliehen. Den Verbündeten hatte er 1814 das Diner in der „Ebene der Tugenden" zu bereiten. Dann mußte er nach Brighton, als Küchenchef des Prinzen von Wales, der ihn jeden Morgen in sein Zimmer holte und ergiebige Lektionen bei ihm nahm. Careme gewöhnte ihm die blutige, schwere Kost der Engländer ab und befreite die prinzlichen Beine vom Zipperlein. Aber zu dumpf lag AI- KÖCHE 51 bions grauer Himmel auf seinem klaren, französischen Sinn. Der Prinz versprach ihm eine Lebensrente. Unter Tränen lehnte der Koch sie ab; er fürchtete zu sterben. Zehn Jahre darauf absolvierte er bei dem nunmehrigen Georg IV., König von Großbritannien, ein Gastspiel. Der Lady Morgan, die er in einem Kapitel verherrlicht hat, antwortete er: „Es zeugt für Ihre Generosität, Milady, daß Sie sagen, das Talent eines Kochs müsse durch Kränze ermutigt werden, denen ähnlich, die man den Damen Sontag und Taglioni auf die Bühne wirft! Ich danke Ihnen im Namen aller Talente der franzö- sischen Küche." Aus Petersburg, wo noch Alexander regierte, vertrieb ihn die russische Kälte. In Wien servierte er mit dem feinen Montmireil dem Kongreß. Als er Frankreich wieder betrat, schimmerten Diamantringe an seinen Händen. Jedoch er streifte sie ab und ergriff die Feder, „um zu schreiben und Werke zu veröffentlichen". Er wandte dem Prinzen von Württemberg seine Gunst und Gnade zu, und es ist symbo- lisch, daß er auch in der neuen Dynastie der Rothschild den Ge- schmack verbreitet hat. Sehr viel erzählte er von dem Charme der Baronin Rothschild; wie kostbar war dieses Kompliment von Talleyrands Vertrautem! Bei den Rothschilds speiste Rossini, der Maestro, der Gourmand der Gourmands, für den der Koch tiefe Freundschaft empfand. Kurz bevor Careme starb, murmelte er mit herabhängender Lippe leise Worte. Dann war er hinüber. Man wird seinesgleichen nicht wiedersehen. Das neunzehnte Jahrhundert hatte keine Köche mehr. Es verfügte, nachdem auch die Schule der Souperkünstler von 1820 gesprengt war, nur über die demokratische Einrichtung der ,,Restaurateurs". Ihr Stammvater ist Boulanger, der in der Rue des Poulies seine Marmortische aufstellte. Die Heroen unter ihnen sind Männer wie Philippe oder die Brüder Ro- bion, die die „Reserve" in Marseille dirigierten, Caremes für das reisende Publikum. Die Spötter. Der Neffe des Fontenelle. Fünf Wochen, ehe wir ihn beigesetzt haben, sprach mein Onkel mit seiner knurrenden Stimme zu mir: ,,Herr von Aube, Sie haben alle Vorteile einer imaginären, der Willkür der Geschichtschreiber botmäßigen Person, von der man kaum den Namen wissen wird." So erinnerte er mich, daß ich für ihn Staffage sei wie für die du Deffand ihre Katzen und Hündlein. Nie hat er mich geliebt, sein Wunsch war mich zu beschämen. Er nahm mich für einen Pedanten wie des Billettes, der auf den Stufen des Pont-Neuf sich zur Seite drückte, um die blankgewetzten Steine der Mitte zu schonen. Oder wenn er mein verlegenes Gesicht beobachtete, fiel ihm Boursaults Junker ein, der Tölpel aus der Norman- die, der um die Babet wirbt und sich, ohne die sommerspros- sigen Hände zu waschen, zu Tisch setzt. Er hatte vergessen, daß er selbst wie auch ich aus Ronen gekommen war. Der große Corneille, sein erlauchter Oheim, war ihm ein Dichter, doch ein plumper Mensch, dessen Unterhaltung so elend ge- wesen sei wie die meine. Viel hatte er für Thomas, seinen Paten, übrig, nichts für seine Mutter, diesen verfehlten dritten Corneille, und für seinen Bruder, den Geistlichen. Als Kind habe ich gehört, wie sich jemand nach dessen Befinden er- kundigte. „Des Morgens sagt er die Messe auf", erwiderte mein Onkel. ,,Und abends?" ,, Abends weiß er überhaupt nicht, was er sagt." Zahnlos, gichtgeschwollen, halb erblin- det schürte er im Kamin, daß die goldenen Funken seinen rostbraunen Schlafrock versengten. „Wovon ist die Rede?" fragte er mitunter. Durchs Höhrrohr stotterte ich: „Onkel, ich meinte.. ." ,,Bah!" knurrte er voll Überdruß. Das geschah jeden Tag. Aber von Bewunderung zerbrochen war ich zu schwach, ihm nicht zu lauschen. DIE SPÖTTER 53 Selbst des Geistes Personifikation, lieh er den Verehrern, die bei uns sich sammelten, höheren Geist. Andere Worte, die nur in ihm geboren waren, las er von ihrem Munde. Drei Leben hat er, den Dingen entfremdet und doch in ihren Wechsel vernarrt, gelebt. Das erste war das Leben eines bei esprit, damals als La Bruyere im Bild des hustenden, speienden, sich schneuzenden, an seinen Manschetten zerren- den Cydias ihn darstellte. Das zweite war sein Leben als Philosoph. Mißtrauisch gegen das Gefühl, ließ er sich mit der Welt nur so viel ein, als sie ihm profitabel war. Toinon, die Köchin, die, in den Händen den kupfernen Leuchter, Generationen über seine morsche Treppe hinabgeleitet hat, erzählte mir die Anekdote von den Spargeln. Einer seiner Gäste wollte sie in Butter, indes mein Onkel sie nur in Öl aß. Den Gast rührte der Schlag. Mein Onkel springt nach der Küche. „Alles in Öl !'• befiehlt er in unverhohlener Freude. So haben ihn die Akademiker gekannt. Einmal stritten in seinem Landhaus Newtonianer und Cartesianer. Mein Onkel wies ihnen eine Glaskugel, die in der Sonne schwebte und unten heiß, oben kalt sei. Er wettete, niemand vermöge diese Erscheinung zu erklären. Die Physiker stritten, gingen essen und stritten bis zum Abend. Dann enträtselte mein Onkel das Paradox; er hatte die Kugel umgedreht. Zu je- mandem von den Vierzig, der im Falle seines Scheidens deren ständiger Sekretär werden mochte, sprach er: ,,Mein Herr, ich will demissionieren, aber vorher muß ich den Nekrolog auf Sie sprechen." Zum fetten Marquis de la Phare, der über körperliche Unsterblichkeit sann: „Sollte droben jeder so viel wegnehmen wie Sie, so wäre auch ich besorgt, daß ich des Spielraums ermangeln würde." Er mokierte sich über die Wahrheit. Oft vermaß er sich, wenn er sie wie einen Vogel mit seiner gelben Hand fassen könne, sie zu er- sticken; oder zwei Millionen Menschen zu überzeugen, daß 4 54 DIE SPÖTTER es mittags tiefe Nacht sei, wenn nur vier Personen anfingen, „Schon vor achtzig Jahren habe ich das Gefühl in die Ekloge verbannt", sagte er zu Diderot, dem die VergängUch- keit des Irdischen Tränen entlockte, und der schweigend mich, den wie Espenlaub Zitternden, ansah. Das Weib war meinem Onkel das Instrument der Un- vernunft und des holden, mit Klugheit zu genießenden Truges. Über sein Bett hatten wir ihm das Porträt des bärbeißigen Descartes gehängt, des Asketen. Meinem Onkel schien es, als flüstre im schwarzen Alkoven eine reizende Stimme: „Oh, du Tropf du!" Er wärmte.jSich an der Lambert und an der Tencin, der Intrigantin mit dem feuchten Blick. Die Zierde ihrer „Menagerie" war er und manchmal mehr. In jedem neuen Jahr schenkte sie ihm wie den sonstigen Habitues zwei Ellen Samt für Hosen. „Sie haben hier kein Herz," sagte sie und näherte ihren scharf duftenden Arm seiner Brust, „sondern ein zweites Hirn." Die Geoffrin, die Bürgerin, fand, daß er den Grundsatz habe, nicht einmal einen Nagel zu ändern, weil er die Prozesse vermied, und daß ihm das Mitleid fern sei, das unglücklich macht. Absonderlich schien ihm die Ehe und das Absonderlichste ein Vater, dessen Selbst- sucht dadurch enttäuscht wird, daß nur Töchter seiner Mühe lohnen. Aber mit größter Lust gab er seine Sentenzen preis, wenn seine dürren Finger seidene Röcke betasten durften. Die Pupillen der Marquise waren ihm teurer als das Firmament. Mit zweiundneunzig noch besuchte er eine Schöne, die sofort im Deshabille zu ihm herauskam und ihm vorhielt: „Sie sehen, daß ich Ihnen zuliebe aufgestan- den bin." ,,Und einem andern zuliebe legen Sie sich hin," versetzte mein Onkel, „und das giftet mich." Oder er klingelte, als er mit einer Dame allein war, heftig, wie wenn seine Tugend in Gefahr wäre, und flötete die Staunende an: ,,Oh wäre ich erst achtzig Jahre!" DIE SPÖTTER 55 Sogar auf dem Totenbett litt er in Epigrammen. Wankend vor Müdigkeit beugte ich mich zu ihm und schrie durchs Hörrohr: „Wie geht es?" Und mein Onkel: „Es geht nicht, ich gehe." Dann sah ich, wie dieses Gesicht, das niemals geweint, niemals gelacht hatte, das mich vier Jahrzehnte be- herrschte, vom Tod überfallen wurde, wie die Lippen sich zusammenzogen und noch erkaltet zum Spott sich kräuseln wollten. Die Gärten. Im stahlblauen Morgen flogen die Genfer Schwalben um den Pavillon und sein Laubversteck. Der Chevalier Stani- slas de Bouffiers riß sich empor, küßte die rosige Schläferin, verglich die unfertige Gestalt mit den Linien des Originals und taumelte fort. Durch die Vorstadt ging er, durch die bergige Rue du Temple, über den Marche de l'Isle, den Platz der Gaukler, wo bei Monneron, dem Schmied, der gesattelte Schecke seiner harrte. An der blauen Rhone ritt er entlang, am See, durch das Walltor, durch die Büsche des Paquis hinaus nach Ferney. Bauernmädchen schleppten Milch. Sie hatten leichte Kittel wie Aline, die Königin von Golconda. Hell winkten Straßen, Dörfer, Kornfelder. Und bald war alles Glanz und Tireli. Um neun hielt der Chevaher am Portal des Schlosses. In der Gartentür links stand Herr von Voltaire, in Zipfelmütze und Hermelin, mit den Grimassen des Doktors von Bologna, und krähte wie ein Hahn: „Adam, wo bist du?" Verstohlen wurde neben dem Oleanderbaum der Pater Adam sichtbar, der Jesuit, mit dem er Schach gespielt hatte, und dem er die Figuren an den Kopf zu werfen pflegte. „Da ist er," krähte der Schloßherr noch lauter, den Chevalier bemerkend, „da ist er, Monsieur Charles, unser Maler! Er will die Kräfte, die er bei den Hugenottinnen verloren hat, bei uns wieder- herstellen!" Grinsend umarmte er den Sohn der Beauveau- 4* 56 DIE SPÖTTER Craon, der „dame de volupte", die des Lesczynski Freundin war und in ihrer gereimten Grabschrift sich berühmte, sie habe zu größerer Sicherheit schon hienieden sich das Para- dies verschafift. „Sie sollten nicht Gott abschwören," hatte Stanislas, als er noch das Chorhemd trug, seiner Mama ge- raten; „denn stiege er abermals in eines Mannes Verkleidung herab, so würden Sie ihn wie jeden andern lieben." Grin- send hüpfte Herr von Voltaire dem ungetreuen Gast voraus. An den Hecken traf er den grauen Esel. „Bitte, Herr Prä- sident", sagte er. Dies hatte er in Tournay erfunden, um den Präsidenten Des Brosses zuioppen, den Provinzialen, dessen kleiner Satyrschädel im Dickicht der Perücke verschwand. Nach dem Bad, im Gartensaal erzählte der Chevalier vom Abbe Porquet, dem Weinzapf, von Paris und Chanteloup, vom schattigen Montmorency, von Frau von Luxembourg, der Stabsmajorin des Geistes, der Voltaire einst auf einen vier Seiten langen Brief über den „Orest" antwortete: „Frau Marschallin, Orest schreibt man nicht mit h", und die nun eine kleine Alte in brauner Taffetrobe war, von der Gräfin Bouffiers, dem schwatzhaften Idol des Temple, von ihrem Sklaven, dem wider Willen komischen, verstörten Lorenzi. Dazwischen lachte der Chevalier das Lachen eines sorglosen Kindes. Er drehte die Daumen auf seinem Bauch, als streife er die Handschuhe ab. Boshaft sprach er von Rousseau, der unrasiert durch die Alleen von Montmorency gestolpert sei. „Ich mochte ihn am Busen seiner Haushälterin erschlagen lassen", krähte der Schloßherr. Der Mittag glühte. Im Saal meldeten sich die jungen Damen. ,, Kommen Sie", lud Herr von Voltaire sie ein, „das erhabenste Schauspiel zu sehen." In der Nähe des Stalles zeigte er den Errötenden einen in- validen dänischen Hengst, der an sechs Stuten sich plagte. Vom Balkon beäugte die runde Madame Denis das erhabene Schauspiel durch ein Fernrohr. DIE SPÖTTER 57 Palais Royal, Chamfort zerteilte die Schwärme der Nymphen und der zu Patrioten umgewandelten Stutzer, deren Markt das Palais Royal war. Über den Arkaden lag sein Zimmer. „Ich bin gefeit wie der Salamander", so lehnte er die Neugier ab, die sich wunderte, daß er mitten in den kleinen Tempeln der Venus wohnte. Seine Nasenflügel bebten, die Hände kreuzte er auf dem Rücken wie jemand, der eine Peitsche umklam- mert. Er trottete zum Cafe du Caveau, der Stätte, die einst von der grölenden Stimme Pirons hallte, des frechen Silen, des pausbäckigen Burgunders. Über die Scheiben rann das vage Laternenlicht. Gespenstisch wimmerte die Tür. Ein ungeschlachter Gesell drängte sich Chamfort entgegen, der traumbefangen den verschollenen Rameau zu erkennen meinte. Doch schon entwich die Gestalt in den aufreizenden Abend. Im Cafe führte Rivarol das Wort, der Piemontese, den keiner unterbrechen durfte. Er war der eitle, wenig be- schädigte Alcibiades von Paris. In seinen Mienen lag der Hochmut eines Glücksritters, der als frommer Seminarist, als Schreiber eines Rechtsverdrehers, als Magister und Grand- seigneur sich mit gleicher Nonchalance versuchte. Sein Organ hatte den sehnsüchtigen Klang, der den Frauen gefällt. Man wußte, daß auch er dem Geschlecht sehr hold war, und daß er sich von ihm schmeicheln ließ wie der exotische Vert- Vert, der Nonnenpapagei aus Gressets Schnurre. Einzig gegen die Engländerinnen bekundete er Argwohn. „Gott bewahre Sie vor der Liebe einer Britin", seufzte er des öfteren, indes er seine Halsbinde fester zog. Der Grund war Frau Gräfin Rivarol, die Sprachlehrerin aus Schottland, ein Irrtum, von dem er sich bei der zarten Manon, einer Schwester der Manon Lescaut, erholte. Doch so stürmisch war diese Liaison, daß Manon drohte, nach Brüssel zu gehen und dort von ihrem 58 DIE SPÖTTER Talent zu leben. „Ach, Kindchen," beruhigte Rivarol die Kleine, „bei den Belgiern wird der Hang zu schlechten Sitten durch den Geiz ertötet." An jenem Tage sprach Alcibiades schon zwei Stunden lang. Mit breitem Entzücken und wackelndem Bauch assistierte ihm Champcenetz, sein unzertrennlicher Mondschein, sein Sancho Pansa, über den er äußerte: „Ich stopfe ihn mit Geist. Er ist ein dicker Bursche von unausstehlichem Be- hagen." Auch Tilly war dort und der Rest des Hofstaats. Wiederum kratzte Rivarol mit samtnen Pfoten, die eines Tigers Klaue bargen, die Sänger des Parnaß, die Rhetoren der Nationalversammlung. Garat, dem der Geist zurücktrete wie den Leuten das Niesen, der aber manchmal geistvoll sei, weil er aus Heuchelei das Gegenteil von dem sage, was er denke. Giraud, der immer belle: „Absurd! absurd!", weil er überall seine Signatur fallen lasse. Den Abbe Delille, den Lyriker des Kohls und der Rüben. Den Abbe von Vaux- celles, nach dessen Leichenreden man wie niemals sonst die Nichtigkeit des Menschen empfinde. Einen Chevalier, der noch den Unrat beschmutze. Cerutti, dessen silberne Phrasen der Schleim einer literarischen Nacktschnecke seien. Doch nichts bedeutete das gegenüber Rivarols neronischen Witzen auf Mirabeau, den Attila der Tribüne, den von fremden Ideen aufgeblasenen Schwamm. Er gleiche seiner Reputation, denn er sei ein Scheusal. Für Geld sei er sogar einer guten Hand- lung fähig. Wie die venetianischen Dirnen, habe er seinen Tarif an der Pforte. Und dann zerfetzte Rivarol den Robes- pierre, den Schulmeister, der auf die „Aristokrassie" erpicht ist, Josef Chenier, den Bruder des Abel Chenier, den Kain, und die „verbrecherische Vorrede eines unmöglichen Buches", die Menschenrechte. Der träge Sybarit im blauen Frack verstummte. Da fuhr mit zischendem Lachen Chamfort auf. Ein Feuerwerk, das DIE SPÖTTER 59 über Wasser sprühte, war Rivarols Spott, in Gewittern ent- lud sich seines Nebenbuhlers Sarkasmus. Und er schrie gegen das Leben, diese jämmerliche Oper, diese Herberge, dieses Bordell, diese Krankheit, die alle sechzehn Stunden der Schlaf lindere, jedoch der Tod erst heile. Drüben in der Galerie lungerten die republikanischen Nymphen. Die Kabinetts der ersten Etage öffneten sich. Memoire. Kurz vor Weihnachten erfuhr die Wiener Gesellschaft den Tod des Fürsten Charles Joseph von Ligne in seinem Haus auf der Mölkerbastei. Ihn bedauern nicht zuletzt die Kaiserin Marie Louise und der König von Rom, mit welchem der Entschlafene vor der Gloriette und den Laubwänden von Schönbrunn Soldaten gespielt hat. Wir haben das von Goethe verfaßte Requiem gelesen. Es ist ein schöner Wechselgesang des Genius, des Erdgeists, der Anverwandten und der Länder, aus denen Italien sich hervorhebt. Ein würdiger Chor schließt den Reigen. Herr von Goethe bekränzt den Sohn, Charles von Ligne, welcher in seiner Anwesenheit gegen Dumouriez fiel, und preist den Vater. Der Fürst von Ligne versäumte bis zum Anfang Dezember kein Schlittenrennen, kein Diner des Kongresses. In ele- gantem Weiß, über das, wenn bösen Zungen zu glauben ist, auf einer Redoute ein kecker Floh irrte, wohnte er den Ver- gnügungen bei. Nach einem Balle packte ihn ein ungestümes Fieber. Er spürte den Tod, den er sich als stattliches Weib mit einer Schale Opium oder als eine lorbeerbekränzte Krie- gerin geträumt hatte. Lächelnd sagte er, wie der Baron ReifFenberg uns berichtet, zu seinen Töchtern, die um das Bett knieten: „Ich bin doch nicht heilig. Seht ihr mich denn für eine Reliquie an?" In der Agonie rief er mit heller Stimme: „Vorwärts, Maria Theresia!" 60 DIE SPÖTTER Mit Wien und dem habsburgischen Hause verbanden ihn mancherlei Beziehungen. Aber wir dürfen in diesem für Verschwiegene bestimmten Nachruf wohl seiner Ketzereien gedenken: daß er nämlich, als er die Prinzessin Liechten- stein geheiratet hatte, schon am Morgen nach der Brautnacht die Wiener Honigwochen abbrach, um seine Geringschätzung der Familienbräuche darzutun, und daß er Europa den öster- reichischen Connaissancen vorzog. Seine Mutter, eine Prin- zessin Salm, deren Leben „wie eine Wachskerze" zerging, wurde im großen Hüftenrock von ihm überrascht und starb bald darauf. Der alte Prinz von Ligne, ein grimmiger Wallone, verlangte, daß Charles Joseph als Held erschossen werde. Nichtsdestoweniger hat diesen die Belagerung von Belgrad unter Laudon gelangweilt. Aber seinen Leitfaden der Taktik, die „militärischen Vorurteile", soll — wir schreiben das im gegenwärtigen Moment nicht ohne Bewegung — der Kaiser Napoleon während der italienischen Kampagne sehr beachtet haben. Der Fürst von Ligne war als ein Weltbürger mit den ersten Personen der Zeit im Umgang. Neben Katharina, dem Kaiser Joseph und Potemkin ist er über Rußlands Ströme dahingeglitten. Er tändelt in seinen Briefen (die eine Labsal für Kunstrichter sind) mit der neuen Semiramis oder Kleopatra, welche zwar Perlen nicht verzehre, sondern aus- teile: „Offenbar bin ich kein Jansenist, denn diese Herren nahen der Gottheit nur einmal oder zweimal im Jahr, und nun sehe ich, daß mir das zweimal seit vier Monaten oder dreimal seit neun widerfährt." Im Feldlager von Neustadt hatte der Fürst Unterhaltungen mit Friedrich, dessen Esprit ihn durch hundert Madrigals hinriß, und dem er sein Ideal skizzierte: bis dreißig ein hübsches Weib, bis sechzig ein glücklicher General, bis achtzig ein Kardinal zu sein. ,,Ich bin nicht propper genug für Sie, Messieurs, und nicht wert, Ihre Farben zu tragen", sagte der nordische Hannibal, als DIE SPÖTTER 61 der Tabak die weiße österreichische Uniform befleckte, die er aus Höflichkeit gegen den Kaiser angelegt hatte. Das Rendezvous zweier witziger Köpfe wiederholte sich in Pots- dam. Beim Diner sprach Hannibal über Vergil, den schlechten Gärtner, und die Torheiten der Georgica. Er beschuldigte das Klima der Mark, es lasse Orangen und Zitronen ver- dorren. „Nur die Lorbeeren wachsen bei Ihnen", bog der Fürst von Ligne aus. Er hat Friedrichs Neffen, dem nach- maligen Könige, in Straßburg als Postillon gedient. Doch sein Herz war nicht bei den „Potsdamiten". Es war nicht bei Joseph dem Gütigen, dessen Morallehre er das Paroli bot: „Man soll seine Pflicht tun und jedermann eine setzen. Und wenn man sie nicht tut, so kommt es auf eins heraus." Sein Herz weilte in Paris, Saint Cloud, Versailles, wo er „aus Furcht, vor dem Tode zu wenig Pläsier zu haben", den „im- pertinent de la cour" abgab. Marie Antoinette schimmerte ihm als ein Stern. Er war der Galan der Herzogin von Mazarin, einer jener ungeheuren „Trompeten des jüngsten Gerichts", deren Bewunderer Frau von du Deffand als „im- puissants" verleumdet, und der Galan der Künstlerinnen. Die Frau, sagte er, sei ein Kind, das für die Pein des Ge- barens durch die Lust der Sinne entschädigt werde, selbst die Reinste schmolle: „Was beweist Ihnen meine Tugend?" und eine Denkerin müsse man arretieren. Gehorsam war er nur dem Geist und der Schönheit der Frau von Coigny. „Man sucht", schrieb er ihr unter den Nußbäumen der russi- schen Parthenizza, „immer nach der zweiten Hälfte seines Ichs, und dieses Suchen verleitet uns zu allen Extravaganzen." Vom Stil des Fürsten gebe eine Anschauung, was er von seinen eigenen Geschicken überliefert hat: „In Holland bei- nah ertränkt, in der Schweiz gesteinigt, in England von Boxern gestellt, in Venedig ein Cicisbeo der Mutter des Dogen, von Seeräubern aus Ragusa geplündert." „Mes Ecarts ou 62 DIE SPÖTTER ma Tete en Liberte" heißt einer der vierzig Bände seiner ^ Autorschaft. „Die Natur hatte keine Illusion," so beklagte er sich, ,,daß man ihr mit Dingen wie Ehre, guter Ruf, Sitt- samkeit, Egoismus kommen würde. Heute lebt man, als hätte man zweimal zu leben, man rennt hinter dem guten Rufe her. Diese Weisheit wird uns in die Irrenhäuser führen. Sie ist das Delirium der Vernunft." Das Huzzageschrei des Pöbels war ihm nicht sympatisch. Den Brabantern verkün- dete er, daß er niemalsim Winter rebelliere. ,, Griechenland", schrieb er über die Abgeordneten dem Grafen von Segur, „hatte nur sieben Weise. Ihr habt zwölfhundert, zu acht- zehn Francs der Kopf." Er rümpfte die Nase über die neuen Despoten, die Söhne der Tuchhändler und Schuster. Aber auch die Jakobiner nahm er nicht ernst: ,,Die Welt geht weder zu gut noch zu schlecht. Par consequent, chantez!" Soll man nicht darum Herrn von Goethe beipflichten, welcher dem Entschlafenen als dem frühesten Mann des Jahrhunderts gedankt hat? Der Sonnenuntergang. Silbern schlug im Salon zu Valencay der Hammer der Pen- dule. Talleyrand legte den Jaspisstock weg, den er seines lahmen Beines wegen brauchte, und streichelte die Hände seiner Nichte, der Herzogin von Dino. Ein zurückgeschobener Mantel hob ihren untadeligen Wuchs. Freiliegend glänzten ihr Nacken, ihre Schultern. Zwiefach war ihr dunkles, lockiges Haar unter dem Brillantreif gescheitelt. Sie hatte große Augen, eine gerade Nase und einen winzigen Mund, dem ein sonorer Alt entströmte. Zerstreut an den Gueridon stoßend, sah Royer-Collard die Vermittlerin hinwegrauschen. Mit seinem roten Anlitz, seiner kastanienfarbenen Perücke und seinem grünen Rock war er gewiß sehr deplaziert. Be- klommen fragte er sich, ob es nicht bäurisch gewesen sei, Gattin und Tochter in Chäteau-Vieux zu lassen, damit kein ^ DIE SPÖTTER 63 Hauch des Nachbars sie berühre. Als ein Ärgernis halte ihm Herr von Talleyrand, der Helfer von Königsmördern und ver- heiratete Priester, gegolten. Die Undurchdringlichkeit eines Libertins, der auch die Frauen wohl an Felonie gewöhnt hatte, der Zynismus eines Verräters hatten ihn wild erregt. Nun bestrickte ihn (als ein Mann von Prinzipien räumte er das ein) dieselbe Frau, deren Ruf in Chäteau-Vieux so schlecht war, weil die Fürstin Talleyrand noch lebte. Und während er die Absicht gehabt hatte, das erste Signal zur Flucht zu benützen, bannte der phosphoreszierende Blick seines greisen Widersachers ihn fest an den Sessel. „Noch fünf Minuten", bat Herr von Talleyrand. Sein Gesicht war totenblaß und von weißem Haar umrahmt. Er zwinkerte, wenn die Sonne, die durchs herbstliche Gezweig des Ahorn stach, ihn blen- dete. Sein Kinn ertrank in der vielverschlungenen Krawatte der Directoiremode, seine Nase war aufgestülpt wie die Nase eines Cherubin. In den Pausen des Gesprächs rieb er mit der Unterlippe gegen die Oberlippe an. Jedoch dieser Pausen gab es wenige. Herr von Talleyrand war heute mitteilsam, und das Gespräch glich einem unsteten Monolog. „Der Weg zwischen unseren Besitztümern ist nicht sehr gangbar", sprach er mit jenem Doppelsinn, für den er eine lasterhafte Neigung hatte. „Mein lieber Herr Royer-Collard, wir werden hinfort besser harmonieren. Ich möchte in Paris ein Zelebritätendiner geben, bei dem Herr Cuvier im Namen der Wissenschaft speisen soll, Herr Gerard in dem der Malerei und Sie als Statthalter der politischen Eloquenz." „Dann wäre ich also ein Gattungsmuster", sprach dumpf der Parlamentarier. „Sie sind charmant", fuhr Herr von Tal- leyrand fort. „Ihre demosthenische Rede für die Freiheit der Presse hat mich vollends gewonnen. Sie haben Treffliches über das Bestreben gesagt, die Religion zu einem weltlichen Ding zu erniedrigen." Herr Royer-Collard räusperte sich 64 DIE SPÖTTER streng. „Diese Leute sind ebenso töricht wie die Fanatiker der Irreligion," beharrte Talleyrand. „Da war, als der Mensch- heitskultus noch im Schwange war, Larevilliere-Lepaux, der Theophilanthrop, der eine Religion stiften wollte, aber aus ir- gendwelcher Ursache den Kreuzestod verschmähte. Sie, mein Herr, sind ein konstitutioneller Mystiker, ein Doktrinär. Ich hoffe, daß ich Sie bekehren werde. Man ist in Ihrer Partei ja schon duldsamer. Herr von Remusat heiratet das hübsche Fräulein von Lasteyrie, und er nimmt sich ernstlich vor, sich in sie zu verlieben. Herr Guizot heiratet Fräulein Dillon, die in ihm einen zweiten Vater verehrt." ,,Sie ist seine Nichte", murrte Herr Royer-Collard. Man hätte seine Physiognomie für die eines Uhus halten können. ,,Der interessante Chateaubriand", lispelte, als wäre er taub, Herr von Talleyrand, „speit gegen mich Gift und Galle. Die Flugschrift, mit der er den Kaiser Napoleon gestürzt zu haben wähnt, verwahrte er unter seinem Kissen. Nachts schlief er mit geladenen Pistolen. Madame trug das Manu- skript in ihren Strümpfen, wenn sie beim Epicier einkaufte. Madame ist häuslich. Wie eine Löwin hat sie sich gesträubt, ihre Wäscheschränke den Royalisten zu opfern, die Tuch für weiße Fahnen benötigten. Sie waren hart, mein lieber Herr Royer-Collard, gegen den armen Constant. Ich habe ihn sehr geschätzt, obwohl er mir in seinem schülerhaften Epos die Maske des Apsimar umgebunden hat, des listigen Diplomaten. Er war milder als seine Frau von Stael. Im ersten Roman, der Ihnen entgangen sein wird, figuriere ich als Madame Vernon, in Haube und Unterrock, so daß wir beide dort als Frauen travestiert sind; dieser Blaustrumpf meinte sich selbst mit der Delphine. Wie schade, daß der Kaiser, der sie haßte, im übrigen von der Literatur so wenig geahnt hat. Seine Manieren waren die einesArtilleristen, und dcrGeschmack war sein intimer Feind. Hätte er ihn mit Kanonenkugeln zer- DIE SPÖTTER 65 trümmern können, er hätte die längste Zeit existiert." „Sie hießen Fürst von Benevent und trugen Degen und bunte Maschen", grollte Royer-Collard, der während des Empire katonisch in seiner öden Stube gearbeitet hatte. „Das alles ist jetzt wie ein Phantom," zwinkerte Herr von Talleyrand. „Elf Eide auf französische Verfassungen habe ich geleistet. Der zehnte war der, den ich dem König Karl geschworen habe. Er sagte mir, daß ihm, wenn eine Revo- lution komme, nur zwischen Thron und Schafott die Wahl bleibe. Seine Majestät hatte die Postkutsche vergessen. Be- vor der Lärm der Straße uns ein elftes Mal schreckt, werde ich in einer Kapelle oder im Pantheon frieren. O Voltaire! Ich vertrage die Kälte nicht und schlafe unter einem Berg von Nachtmützen und Plumeaus. Sie, mein Herr, sind über sechzig, nicht wahr?" „Zweiundsiebzig", verbesserte Royer-Collard und nahm feindselig seinen altvaterischen Cylinder, „Trösten wir uns," schloß Herr von Talleyrand, indes er mit dem Politiker lang- sam hinaushinkte, bis zur Schwelle. „Ich bin eine Mumie und werde zu Staub werden. Den anderen gehört die Zu- kunft. Es gibt jemanden, der mehr Geist hat als Voltaire, mehr Geist als Napoleon und alle Minister. Dieser jemand ist Tout le Monde." Einsam betrachtete Herr von Talleyrand den herbstlichen Park. Die Sonne streifte den Dachrand des Treibhauses. Sie war ein pompöser Feuerball. Dann erlosch sie, und graue Schleier umspannen den Hintergrund. Cassaneus. Am 5. März 1766 duellieren sich wegen der Binetti in dem noch unbelaubten Garten bei Warschau der Podstoli und Ulanenoberst Branicki und Giacomo Casanova, Cheva- lier de Seingalt, Doktor der Rechte von Padua, Sekretär des Kardinals Acquaviva, Fähnrich auf Korfu, Violinkratzer im Theater San Samuele, Schatzgräber, Freimaurer, Gefangener des Inquisitionskerkers neben dem Dogenpalast, Lotterie- direktor in Paris, Finanzagent des Kardinals Bernis, Spieler, Gauner, portugiesischer Bevollmächtigter beim Augsburger Friedenskongreß, Hausfreund einer Londoner Courtisane, halb angestellter Erzieher im Potsdamer Kadettenkorps, Bergbauinspektor in Kurland, Schmarotzer bei Kaiserinnen, Königen und Ministern. Eine Kugel durchschlägt dem Bra- nicki den Bauch, und der Venetianer wird gezwungen, sich von Warschau zu entfernen. Mit dem Grafen Clary, dem Lügner, reist er nach Breslau, mit der argen Maton nach Dresden, in Leipzig beglückt er die als Zofe verkleidete Aren- berg, in Wien chikaniert die Sittenpolizei ihn und die Blasin. Der Dieb Pocchini und die beiden Slawonier überfallen ihn. Der Statthalter Schrattenbach weist ihn aus, zerquetscht ihn mit dem Pantoffel Ihrer Majestät der Kaiserin Maria Theresia. In Augsburg soupiert er während dreier Monate beim Grafen Lamberg, in Köln gibt er dem Tintenklexer Jacquet, der ihn einen Abenteurer genannt hat, einen Fußtritt. In Spaa stößt er dem Gauner mit dem Ring seinen Degen drei Zoll tief in die Brust. In Paris stellt ihn der Marquis de Lille, der Neffe der guten, alten Urfe, die er durch die famose Ver- jüngungskur um eine Million betrogen hat. Seine Eleganz wird schäbig, seine Gesichtshaut faltig, sein Blick wird stumpf, er verliert, trotz der aretinischen Berichte in den Memoiren, die Unermüdlichkeit des Priapus, die einst Nym- .16 CASSANEUS 67 phen und Schäferinnen zu Tausenden antrieb, ihm ihre Sympathie zu bezeugen. Ein letztes Mal unternimmt er in Spanien, mehr als „Fortunas Spielball" zu sein. Er erbietet sich, die Sierra zu kolonisieren. Doch als er nach der Haft im Buen Retirö Madrid verläßt, hat er nur einen Galarock, Uhr und Tabaksdose. Aus Barcelona und Florenz wird er verjagt, in Neapel hält er die Bank mit dem Falschspieler Goudar. Ein Fünfzigjähriger, kehrt er nach Venedig zurück. Durch Spionendienste, die er von Triest dem Staatstribunal geleistet hat, erwirkt er die Aufhebung des Bannspruchs. Seine Bettelbriefe lohnt die Signoria mit Almosen von ein paar Zechinen. Er, der Wollüstling, der Graphomane, de- nunziert die jungen Patrizier, die jungen Frauen, die Theater- direktoren, die Schriftsteller. Ein Pasquill gegen die Aristo- kraten raubt ihm auch diese Zuflucht. Morsch und ver- düstert sieht er sich wiederum in Paris, das ihm mißfällt, seit die Pompadour, Choiseul und Crebillon, seine glanz- vollen Relationen, nicht mehr da sind. An der Tafel des Abbate Eusebio Lena sitzt er neben dem Grafen Joseph Waldstein, der mit ihm über die hebräische Kabbala und den Schlüssel Salomonis plaudert und, befremdet und inter- essiert, den zerrupften Habenichts einlädt, ihm nach Böhmen zu folgen. Casanova sagt zu; denn das Jahresgehalt von tausend Gulden lockt ihn. Aber er macht Umwege, ehe er zu der Sinekure sich meldet. Er geht mit seinem Bruder Francesco, dem Schlachtenmaler, nach Wien und dient dem venetianischen Gesandten Foscarini als Sekretär, ein Jahr lang, bis zu dessen Tode. Dann will er nach Berlin, um Mitglied der Akademie zu werden. Er fährt über Brunn und Czaslau, wo er einen Wagenunfall hat, nach Karlsbad, wo er hofft, die Prinzessin Lubomirska zu finden. Bei Teplitz trifft er abermals Waldstein, im Kreise seiner Standesge- nossen, des Prince de Ligne, des Fürsten von Anhalt, der 68 CASSANEUS Clarys und Jablonskys. Dann sitzt er eines Tags in der Postkutsche und erwacht in Dux, dem „böhmischen Chan- tilly", zwischen dessen Steinen das grüne Gras wächst. Zwei nach dem Schloßpark zu gelegene Stuben sind ihm durch gräfliche Gnade überlassen; drüben die weißgetünchte Bibliothek wird sein Arbeitsraum sein. Ein goldner Adler mit gekrampften Fängen, der sterbend sich hochwirft, hängt an der Wölbung, und Weinlaub umrankt die Scheiben. Diese Bücher soll der Chevalier de Seingalt ordnen und beauf- sichtigen. Nach ein paar Stunden sind sie ihm nichts neues mehr. Von Ungeduld erfaßt, geht er hin und her und hin- aus zur Tür über den weiten Hof. Er trägt einen schmutzig- weißen Federhut, einen zerschlissenen Galarock, die In- signien des goldenen Sporns auf der Brust, eine schwarze Samtweste, Zwickelschuhe und Rohrstab. Im Ballettschritt rennt er durch die einzige Straße. Die Buben stürzen ihm nach. „Dem Grafen sein Italiener", lachen die Marktfrauen einander zu. Grimassierend hört er es, wütend stampft er mit dem Fuße auf. Dann ist er am Ende der Häuser, am Rande der Äcker, wo die mit Ochsen bespannten Pflüge blinken, und schnell trippelt er in das Schloß zurück. Solange er in der oberen Etage seinen Gebieter weiß, zwingt er sich, seinen Ingrimm zu hehlen. Er klopft bei ihm an, er produziert sich vor der illustren Gesellschaft, die der Graf Waldstein aus Teplitz mitbringt. Er schreibt für das Liebhabertheater, und er verspricht der Frau Gräfin- Mutter ein Heldenepos zum Preise des Mannes, dessen Bild- nis an den Wänden des Schlosses hängt, die ,,Albertiade", worin er nach virgilischer Manier den Herzog von Friedland in die Unterwelt hinabsteigen und mit seinen Vorfahren zu- sammentreffen, seiner Kindeskinder Ehen schauen lassen will. Jedoch die „Albertiade" gelangt kaum über die Vorrede hinaus. Der Graf ist, wie sein unzufriedener Pensionär er- CASSANEUS 69 kennt, amusisch. Er hält sich einen Bibliothekar wie andere einen Beichtvater und würde die ganze Bibliothek „für ein einziges der Pferde hergeben, die Ariost gefeiert hat, oder für eines von jenen des Achilles, die, wenn man Homer glaubt, wie Professoren gelehrt waren". Bei einem der Rennen, die er veranstaltet, beschädigt Casanova sich das Schienbein. Dem Pflaster, das der Graf ihm anbietet, zieht er ein Kata- plasma seiner eigenen Apotheke vor. Als der Graf sich auf Reisen begibt, ist der Bibliothekar allein mit dem Schloßintendanten, den Duxern, dem Stalltroß. Er verabscheut diese Teutonen, deren Götter Mars und Bacchus sind, die wie ein Tier aus dem zoologischen Kabinett ihn angaffen und bedrängen. Nach allen Windrichtungen schickt er Briefe; aber sein Menschenhaß entzweit ihn mit seinen Korrespondenten. Opiz, der Finanzinspektor in Czas- lau, wird sein Vertrauter. Unter seinem römischen Arkadier- namen Eupolemos Pantaxenos begrüßt er den Schäfer Lau- rinto Itacideo. Er weiht ihn ein in die Niederschrift seiner Erinnerungen: „Je me trouve en les ecrivant jeune et ecolier. Je donne souvent dans des eclats de rire, ce qui me fait passer pour fou, car les idiots ne croient pas qu'on puisse rire etant seul." Aber bald bricht der Zank aus; denn Casa- novas Manuskripte sind unleserlich, und der Finanzinspektor in Czaslau hat, ein Bewunderer der Revolution, durchaus stupide philanthropische Gesinnungen. Bald ist es nötig ihm zu sagen, daß er in seiner Rechthaberei eine „querelle d'Alle- mand" sucht. Der Finanzinspektor entdeckt bei dem Fran- zosen Toussaint, einem Nachkommen des Theophrast, die Worte: „Menagez la couardise devant le poltron Casenove." Der Chevalier de Seingalt entgegnet mit Stolz: „Erfahren Sie, daß ich fünfmal in meinem Leben Menschen, die mich der Feigheit beschuldigten, zur Ader gelassen habe, und daß ich, wenn Herr Toussaint noch existierte, ihm eine höchst un- 5 70 CASSANEUS willkommene Visite machen würde." Der Opiz hat sich ge- schmeichelt, von den Opizi Pallavicini oder Obizzi in Genua oder Venedig abzustammen. Jetzt weist man ihn auf das „opice" der Böhmen, „terme qui indique singe". Der „Affe" rächt sich durch „Koza nova" (was böhmisch „die neue Ziege" besagt), und „cosa vana" das italienische Anagramm. Es ist ein Volk von Jakobinern und ungesitteten Demokraten. Als Dorothea, die Tochter des Schloßpförtners Kleer, schwan- ger ist, bereitet ganz Dux vier Tage lang sich den Spaß, Ca- sanova für den „Urheber ihrer Entjungferung" zu erklären; bebend protestiert er. Die Stubenmädchen bringen ihm die Biskuits und den Wein nicht, die sein durch die Dünste der Bleikammern geschwächter Magen fordert. Der Kaffee und die Milch sind schlecht, die Makkaroni zu wenig, die Polenta ist versalzen. Die Jesuiten und die Mönche in Ossegg planen Giftattentate. Die Waldsteinsche Fabrikinspektion zu Ober- leutensdorf ist unhöflich genug, Zahlung für das gelieferte Tuch zu begehren. Der Bäcker Theodor Seifert mahnt in lateinischen Rechnungen an Beträge „pro semulis et pane", für Semmeln und Brot. Der Erzfeind ist Feltkirchner, der grobe Verwalter, ein verabschiedeter Leutnant des Regiments Waldeck, der dem Narren und Müßiggänger wegen der tau- send Gulden Pension aus der waldsteinischen Kasse gram ist. Schadenfroh hetzt er die Bedienten gegen den Alten auf, dessen Köchin drei von ihnen und den Läufer des Grafen dem Chirurgen überliefert hat. Von Feltkirchner ermuntert, reißt der Hausoffizier Karl von Wiederholt Casanovas Por- trät aus einem Exemplar seines ,,Icosameron", seines phan- tastischen Romans über Eduards und Elisabeths Reise in das Innere der Erde, und hängt es auf einen Schloßabort. Dem zahnlosen Gentiluomo schwinden die Sinne. Dann schreibt er an Feltkirchner gegen zwanzig Briefe voll er- habener Gekränktheit und niederschmetternder Verachtung. .'& CASSANEUS 71 Und dann trifft Wiederholt auf dem Marktplatz den Chevalier de Seingalt und verprügelt ihn mit einem Weidenrohr. Mit glasigen Augen sitzt Casanova in der Einsamkeit. Der Graf kehrt nach Dux zurück, Feltkirchner und Wiederholt verlieren ihre Ämter. Doch auch das Gewissen des Vene- zianers ist nicht rein. Er hat für Caroline, die Mätresse des Schloßherrn, zu der er nicht ganz klare Beziehungen hat, einen schöngeistigen Brief an den Grafen Chodkiewicz ge- schrieben, worin die Dame fragt: „Welchen glänzenden Vor- teil wird mir ein Fehltritt verschaffen, den ich gegenüber meinem Liebhaber begehen würde?" Stumm, mit zwei Pisto- len in der Hand, tritt der Graf Waldstein bei Casanova ein. „Wie könnte ich meinen Wohltäter töten?" ruft dieser. Der Scherz dünkt ihn Ernst. Schluchzend umarmt er seinen Gönner. Bei Nacht und Nebel fährt er nach Weimar, m'o er an Wielands und Goethes Namen seine Hoffnungen neidisch zerrinnen sieht, nach Prag, wo Meinert w^ohnt, der Abbe Maffei und leider auch Josef Krug und der Advokat Michael Schuster in der Langen Gasse, der Vertreter des Juda Schiff, die in Geldangelegenheiten ihn bedrängen, und nach Wien zu Francesco. Unrasiert, eine Pelzmütze auf dem Kopf, ein rotwollenes Tuch um den Hals, irrt er über den Graben, bis er dem Grafen Waldstein wieder begegnet und froh ist, von ihm nach Dux zurückgeholt zu werden. Er stirbt im Juni 1798 in den Armen des Reichsgrafen und des Prince de Ligne. Seine letzten Worte sind: „Großer Gott und ihr übrigen Zeugen meines Todes, ich habe als Philosoph gelebt und scheide als Christ von der Welt." Man begräbt ihn auf dem Friedhof neben der Barbarakirche, und in die Sterbematrikel trägt der Dechant mit falscher Schätzung des Alters ein: „Herr Jakob Cassaneus, ein Venezianer, 84 Jahre alt." 72 CASSANEUS „Wenn ich nicht schlafe," steht auf einem Zettel derDuxer Schloßbibliothek, „so träume ich, und wenn ich des Träu- mens müde bin, so bekritzle ich Papier; dann lese ich, und zumeist verwerfe ich, was meine Feder ausgespien hat." Hier mathematische Abhandlungen und der Entwurf eines Briefes an Bailly : ,,Herr Präsident, ich war mitPythagoras in Ägypten, als ich meine Arbeit über die Verdoppelung des Kubus be- gann." Hier ein Dialog zwischen Robespierre und dem Ga- leerensträfling Bonneville, der den Unbestechlichen als ein der Hölle entsprungenes Monstrum verflucht und ihm zu- heult: „Ich habe kein anderes Mittel gefunden, mich Ihrer entsetzlichen Tyrannei zu entziehen, als daß ich Galeeren- sträfling wurde." Hier ein langer Brief an die Fürstin Clary, dort ein Dialog zwischen einem Philosophen und einem Theologen, ein Traumgespräch mit Gott, acht Gesänge einer italienischen Ilias, ein Zettel mit Notizen über Seifenfabri- kation in Warschau oder über Maulbeerzucht, ein Dialog mit O'Reilly, dem irischen Arzt in Oberleutensdorf, dem man Sottisen sagt, ein Prager Zeitungsblatt mit dem Bericht über einen Aufstieg des Luftschiffers Blanchard, Rezepte, Pässe, der „Precis de ma vie", ein „Essai d'Egoisme", der „Polemo- scope" oder: ,,Die trügerische Lorgnette" oder: ,,Die durch Geistesgegenwart entlarvte Verleumdung", die Tragikomödie für das Schloßtheater der Fürstin Clary, Dialoge mit den Namen Alcibiades, Marc Anton, Aspasia, ein Bruchstück einer Tragödie „Le grand sacrifice", ein Libretto „II Plebiscito Fa- tale", eine Musikkomödie „II Collerico", eine Untersuchung, weshalb der Kaiser Josef nicht volkstümlich sei, Sonette, kleine Verse, Kabbala und ein Fragment, das die Memoiren ergänzt. Dazu die Briefe der italienischen und österreichi- schen Freunde, Briefe von Zaguri und da Ponte, von Kau- nitz, Lobkowitz, Lamberg, Collallo und Frauenbriefe: zärt- liche von Francesca Buschini aus Venedig, von Manon Ba- Wb CASSANEUS 73 letti, von Henriette Schuckmann, die „serva amatissima" unterzeichnet, Briefe der bösen Charpillon und der mitleids- vollen Elisabeth von der Recke, der Schwärmerin, die auf den Umschlag schreibt: „Du vin et des Boulions accompa- gnent cette lettre." Der kleine Marmorgott ist Harpocrates, der Gott des Schweigens, der in einem Tempelchen im Schloß- park stand, und den Casanova mit der poetischen Grazie eines ausgedienten Tanzmeisters in einem Gedicht auf die Reize der Gräfin Clam-Gallas anrief: „Dux, dans ton parc un temple solitaire Me montre un Dieu qui defend du fracas. Je vois Harpocrate severe Qui de son doigt m'ordonne de me taire. II faut brüler pour eile et soupirer tout bas." In hellbraunem Holzrahmen hängt am Fenster ein Kupfer- stich, das Bild eines alten Mannes mit steif gewellter Perrücke, einem Habichtsprofil, dem Munde Friedrichs des Großen und mißtrauischen, stechenden Augen. Darunter ein lateinischer Spruch: „Altera nunc rerum facies; me quaero, nee adsum; non sum, qui fueram; non putor esse, fui." Der Spruch hat seinen Platz in einem obszönen Traktat. Aber dunkle Weis- heit scheint aus ihm zu quellen, tiefster Gram eines, dem alles unwirklich geworden ist. Benjowski. Von dem Tage ab, an dem Graf Benjowski erstmals zu Herrn von Nilow, dem Gouverneur von Kamtschatka, geführt wurde, war sein unerschütterhcher und mit kalter Schlauheit betriebener Plan, diesen Stellvertreter der Zarin Katharina zu hintergehen und sich mit den übrigen Sträf- lingen der Deportationskolonie zu furchtbarem Aufstand zu vereinigen. Ein langes Abenteurertum hatte ihn gewöhnt, seine Sache auf nichts zu stellen: die Flucht aus Ungarn, der Dienst bei den polnischen Konföderierten, die Gefangen- schaft in Rußland, das Entweichen aus Petersburg, die Ver- haftung im Gasthof kurz vor der Abreise des holländischen Seglers, die wütend ertragene Schlittenfahrt in Ketten, die Fälschung der Staatsdepesche, als die Kosaken betrunken waren, und die letzte Schmach auf stürmischer See, wo man ihn und seine Genossen nicht als Edelleute, sondern wie Bestien behandelt hatte. Kaum war er im Dorf der Ver- bannten, kaum stand er im Hause Krustjews mitten unter ihnen, da bemächtigte er sich der Führung. Er unterdrückte die Äußerungen der Unvorsichtigen, er spähte und forschte, bis er alle Schwierigkeiten kannte, und am nächsten Tage wurde er zum souveränen Chef eines Geheimbundes gewählt, dessen Mitglieder sich durch Eid auf die Bibel verpflichteten. In den Ausschuß kamen Krustjew, der Gardeleutnant Panow, der Artillerieoberst Baturin, der Gardekapitän Stephanow, der Senatssekretär Solmow, der schwedische Major Wyn- bladth, Benjowskis Freund, und Wassili, sein alter Leib- eigener. Todesstrafe war auf den Verrat gesetzt. Schon nach seinem zweiten Besuch in Nilows Haus wußte Benjowski, wie er zum Ziele gelangen würde. Mit Wohl- gefallen hörte der stets berauschte Gouverneur die Erzählung dieses Mannes von Welt, der, als sei das gar nichts, Latei- BENJOWSKI 75 nisch, Frg^izösisch, Deutsch, Russisch und Ungarisch durch- einander sprach und mit angenehm gesetzten Worten ihn selbst lobte, die Gouverneurin, den Sohn, die drei Töchter und die hauptstädtische Feinheit ihrer Sitten. Mit herab- lassender Gnade wurde er zum Hauslehrer ernannt und von den Zwangsarbeiten freigesprochen. Auch der Kanzler und der Kosakenhetman begegneten ihm nun huldvoll. Sie spielten Schach mit ihm, sie ließen ihn sogar gewinnen, und der Hetman befahl ihm, reichen Kaufleuten, an die er verloren hatte, für ihn diese Summe wieder abzujagen. Am nächsten Morgen nahm Benjowski sein Lehramt auf. In der großen Familienstube fand er seine Zöglinge. Am teil- nahmsvollsten zeigte sich die Jüngste, Athanasia. Sie er- kundigte sich nach der Stimmung des Fremdlings und blickte ihn mit verzückten Augen an. Benjowski zählte erst dreißig Jahre, und in seinem blassen, häßlichen Gesicht war eine lasterhafte Verwegenheit, die unwiderstehlich fesselte. Atha- nasia fragte ihn nach seinen Blessuren; er hinkte, denn im Siebenjährigen Kriege hatte ihm eine Kugel das rechte Bein verkürzt. So trug er mit fingierter, träumerischer Schwermut die romanhaften Begebenheiten vor, deren Held er gewesen war. Aber er verschwieg, weshalb er, der Sohn eines kaiser- lich österreichischen Generals, Ungarn hatte verlassen müs- sen, und auch, daß er seit langem Ehemann war, erzählte er der schwarzlockigen Athanasia nicht. Als er geendigt hatte, zerfloß sie in Tränen. Eines Tages in dieser Woche zog ihn Frau von Nilow mit gefallsüchtiger Ziererei auf die Seite. Umständlich berichtete sie ihm, sie sei die Tochter eines nach Sibirien verbannten schwedischen Obersten und zur Heirat mit Nilow gezwungen worden. Jetzt stehe Athanasia ein ähnliches Los bevor; ein gewisser Kuzma, ein wider- licher Mensch, sei ihr als Bräutigam zugedacht, und keine Mutter vermöge in dieses einzuwilligen. Benjowski ver- 76 BENJOWSKI sprach, den Gouverneur andern Sinnes zu machen. Dann ging er zu Athanasia, die krank auf ihren Kissen lag. Wei- nend warf sie sich ihm in die Arme. Es begann nun ein Doppelspiel, aufregend und doch für Benjowski desto verlockender, je mehr ihm die Entdeckung drohte. In nächtlichen Sitzungen wurden dem Geheimbund neue Genossen zugeführt, die bei dem Protopopen der Sträf- lingskirche auf ihren Schwur das Sakrament nahmen. Schon flackerte der trübe Brand der Meuterei empor, und schon wurden die Feinde wachsam. Der Kaufmann Tschulosnikow gab in heftigen Worten seinen Verdacht gegen Benjowski zu erkennen und lief zum Gouverneur, um seine Einkerke- rung zu fordern. Abgewiesen, überfiel er, von seinem Vetter begleitet, den Günstling Nilows zwischen den Blockhäusern mit Knütteln und Messern. Dem Vetter schlug Benjowski die Hirnschale ein. Tschulosnikow, der gleichfalls schwere Wunden davontrug, wurde zu sechs Monaten Zwangsarbeit verurteilt und sein Vermögen konfisziert. Bald danach suchte der Kaufmann Kasarinow den ungarischen Abenteurer mit vergiftetem Zucker wegzuschaffen. Benjowski brachte den Zuckerhut zu Nilow, der Kasarinow und zwei andere Kaufleute einlud, mit ihm Tee zu trinken, und ihnen den weißen Giflstaub in die Tassen schüttete. Winselnd umklam- merte Kasarinow die Knie des Gouverneurs und klagte Ben- jowski arglistiger Rebellion an. Ein Sträfling namens Biat- zinin habe alles verraten. Der Gouverneur glaubte dem Kaufmann nicht und schickte ihn ins Gefängnis. Biatzinin wurde nach dem Spruch des Kriegsgerichts erschossen. Dann kam ein Tag, wo Benjowski selbst, des Verrats angeschuldigt, den Verschworenen gegenüberstand. Der Giftbecher auf dem Tisch glänzte durch den dunklen Raum, und aller Mienen waren finster. Stammelnd verteidigte Benjowski sich. Im Gouverneurhaus flehte Athanasia den Vater um die Rehabili- BENJOWSKI 77 tation ihres Geliebten. Unter Trommelwirbel wurde Ben- jowskis Freiheit proklamiert und seine Verlobung mit Atha- nasia nach altem Brauch durch eine nächtliche Unterredung der Brautleute im Zimmer der Braut vollzogen; die Mutter führte Benjow^ki hinein und gab ihm ihren frommen Segen. Düster erst, dann mit gereizter Frechheit sann von diesem Tage ab Stephanow auf das Verderben Benjowskis, der ihn vor das Kriegsgericht stellte. Eine besinnungslose Leiden- schaft für Athanasia war in dem Armen und Neid auf den Nebenbuhler. Um den Wahnwitzigen unschädlich zu machen, ■verlangte Benjowski von Athanasia, daß sie sich stellen solle, als werde sie Stephanow erhören. Zitternd willigte sie in ihrer grenzenlosen Liebe ein. Aber immer deutlicher wurde, daß sie Benjowskis Wesen ahnte. Als Flucht und Schreck- nisse vorbereitet waren, erschien sie verstört bei ihrem Bräutigam. Mit dem Schrei: „Ich bin unglücklich und ver- loren!" warf sie sich ihm an die Brust. Furchtbar, ein Kampf verzweifelter Mörder gegen täppische Kosaken, war der entscheidende Überfall auf die Festung. Der Gouverneur sprang an Benjowskis Kehle; mit seinem Säbel schlug der Chef der Verschwörung ihn nieder. Doch von Tränen über- strömt, bat Athanasia den Mann, der sie und die Ihren ge- opfert hatte, er möge sie mit sich nehmen. Und sie dankte ihm, als er ihr erlaubte, in Soldatenkleidern ihm auf das Verschwörerschiff zu folgen. Im tiefsten Winter befahl Benjowski, die Anker zu lichten. Eisberge wälzten sich heran, die mit Kanonenkugeln weg- geschossen wurden. Walfische zogen vorüber, gejagt von ihren Todfeinden, den Schwertfischen, An der Westküste der Beringinsel, wo man in einer Bai vor Anker ging, fand man eine Hütte, in der unter einem Zuber ein Schreiben eines verschollenen russischen Kapitäns lag. Fünf Kreuze staken im groben Sand. Nachts erfuhr Benjowski, daß 78 BENJOWSKI Ismailow ein Komplott angezettelt habe, um ihn zu ver- haften und nach Kamtschatka zurückzukehren, sonst aber das Schiff in Brand zu stecken und auf der Schaluppe zu entfliehen. Benjowski ließ die Aufrührer in Ketten legen. Ismailow, Parentschin und dessen Weib wurden auf der Insel ausgesetzt, die übrigen Verschworenen mit Knuten ge- züchtigt. Dann sah man den verschollenen Kapitän, einen Sachsen, der gleiches wie Benjowski erduldet hatte und ihn in seiner kleinen Festung empfing. Bei einem großen Feuer saßen sie zusammen und sprachen über die Gründung von Kolonien. Durch gewaltige .Eismassen ging es weiter. Ben- jowski versuchte die Nordpassage. Aber das undurchdring- liche Eis zwang ihn zur Rückkehr. Ein neuer Aufstand unter Stephanow zerrüttete die Besatzung. Schnee fiel herab, ein Orkan drohte das Schiff zu verschlingen. Endlich er- reichte man die amerikanische Küste. Die Späher gerieten in ein Dorf, aus dem alles forteilte. Nur eine tätowierte alte Frau und einige Kinder blieben in den Hütten versteckt, worin Bogen hingen, Pfeile und ein Anzug aus Vogelbälgen. Auf den alcutischen Inseln, zu denen man von dort trieb, verbrüderte Benjowski sich mit dem Taon, dem Oberhaupt der Eingeborenen, der alle aufforderte, sich das Gesicht zu waschen, und Kohle in die Glut warf mit den Worten: „Mit Feuer wollen wir die Kosaken verbrennen!" Dann zerbrach er die Pfeile als Sinnbild der Freundschaft. Die Aleuten tanzten zum dumpfen Klang einer Trommel und betäubten sich mit Fliegenschwammtee. Die Gefährten Benjowskis schmuggelten fünfzig galante Aleutinnen an Bord. Er be- fahl, sie auszusetzen, und schenkte ihnen Spiegel zum Trost. An einem Abend erklärte Stephanow, er sei der Herr des Schiffes. Die Meuterer sperrten Benjowski und seine Ad- jutanten im Vorderdeck ein. Als die Horde betrunken war, befreite Benjowski sich. Den Stephanow ließ er an einen BENJOWSKI 79 Mast binden. Einen anderen dieser tollen Gesellen streckte er durch einen Pistolenschuß nieder. Tage mit furchtbarer Hitze, Nächte mit Gewittern steigerten die Raserei an Bord. Landvögel flatterten über die Wogen, Benjowskis Hund bellte und schnupperte die Luft, ein Matrose rief: „Alaska! Alaska!" und zeigte in die Ferne. Das Schiff lief in einen Hafen ein. Ringsum war Frucht- barkeit. Ein Trupp brachte Kristalle und goldhaltige Erze. Das Goldfieber bemächtigte sich der Gehirne, und Begierde brannte in den leeren Augen. Doch Benjowski sah den Untergang voraus, wenn er jetzt nachgeben würde, und nur mit Gewalt und Trug riß er die von Stephanows bösem Geist Beherrschten fort. Wieder segelte man auf dem Weltmeer. Sträucher schwammen herbei, an deren einem ein Stück Seide befestigt war. Die japanische Küste tauchte auf. Kleine, gelbe, süß lächelnde Menschen kletterten auf das Schiff und liefen umher. Ein Japaner hatte Papier und Pinsel bei sich und notierte sich alles, was ihm auffiel. Benjowski wurde im Lusthaus des Königs empfangen, der, mit schwerer grüner und blauer Seide angetan, auf einem Sofa von gelber Seide saß. Auf den Liu-kiu-Inseln traf er Eingeborene, die von Jesuiten getauft worden waren. ,,Hisos! Hisos!" riefen sie, „Christos! Christos!" und hielten die Hände gen Himmel. Benjowski mußte einem der japanischen Mäd- chen, die in weißer Seide, mit blumengeschmücktem Haar ihm vorgeführt wurden, den Schleier überwerfen; dies be- deutete, daß er sie zur Braut wählte. Sie hieß der „schei- nende Mond", und sie hatte nur ein blumenhaft zartes Lächeln, als er ihr den Abschied gab. In einer Bai der Insel Formosa wurden die Fremdlinge von einem Pfeilhagel über- schüttet. Panow wurde im Bad von ihm getötet. Benjowski vollstreckte ein Strafgericht. In Macao starb Athanasia, die nur noch ein Schatten gewesen war. Benjowski selbst er- 80 BENJOWSKI krankte auf den Tod. Auch Wyndtblath machte mit dem irrsinnigen Stephanow gemeinsame Sache. Nur das Leben hatte Benjowski gerettet, als er nach einer zweijährigen Odyssee in Isle de France eintraf. Sobald er genesen war, bot er seine Dienste dem franzö- sischen Statthalter, dem Herzog von Aiguillon, an, der ihm ein königliches Infanterie -Regiment übertrug. Ein Jahr später reiste er mit seiner Frau, der Tochter des ungarischen Magnaten Grafen Hensky, die er seit der Kampagne in Polen nicht mehr gesehen hatte, im Namen Frankreichs nach Madagaskar ab. Unter phantastischer Mühsal eroberte er das Land. Doch er wollte nicht französischer Beamter sein, sondern König, wie drüben auf Korsika Theodor Neuhof. Eine alte Sklavin, eine Prophetin, mußte den Madagassen erzählen, daß Benjowski der Sohn der Prinzessin Ramini sei, der Tochter des letzten Königs Ampansakabe. Zananhar, der höchste Gott der Madagassen, habe es ihr im Traume offenbart. Zwei königliche Kommissäre wollten den Unbot- mäßigen verhaften. Aber er unterwarf sich nicht. In feier- licher Versammlung ließ er sich von den Madagassen mit der Königslanze schmücken, und die Madagassinnen leisteten der Gräfin Benjowski den Treueid. Dann fuhr der König von Madagaskar nach Europa. In Paris behandelte man ihn so schlecht, daß er sich, schäumend vor Zorn, von Frank- reich lossagte. Zwei Jahre lang lebte er in Österreich. Aber der Kaiser Josef verschmähte ihn. Von England begab er sich auf einem Fahrzeug, das ein Handelshaus in Baltimore ausrüstete, wiederum nach Madagaskar in See. In wildem Gefecht wurde er von einer französischen Kugel durch die Brust geschossen, und so starb er Nelsons Tod. Der Großkophta. Goethe schreibt in seinen Annalen: „Haben wir nicht in den neueren Tagen Cagliostro gesehen, wie er, große Räume eilig durchstreifend, wechselweise im Süden, Norden, Westen seine Taschenspielereien treiben und überall Anhang finden konnte? Ist es denn zuviel gesagt, daß ein gewisser Aberglaube an dämonische Menschen niemals aufhören wird?" „Nach gewohnter Weise", um seine Betrachtungen „loszuwerden", hat er über den Sizilianer den „Großkophta" verfaßt. Und als er in Palermo, der Geburtsstadt Cagliostros, weilte, beschloß er, die Herkunft des Schwindlers zu er- forschen, die schon für das französische Ministerium unter- sucht worden war. Er stellte fest, daß Cagliostro wirklich Joseph Balsamo heiße. Sein Vater, der Händler Peter Balsamo, war jüdischer Abstammung. Die Mutter lebte bei Josephs Schwester, einer Frau Capitummino, in einem elenden Häuschen der Straße 11 Cafaro. Als Engländer, unter dem Namen Milton oder Joff, hat Goethe das Zimmer mit den schwarzen Heiligen- bildern, mit den einst vergoldeten Lehnstühlen, dem ausge- höhlten Backsteinboden betreten. Die taube Alte, um die zwei blatternarbige Kinder und eine Schlafkranke hockten, freute sich des Fremden, der ihr von ihrem berühmten Sohn Botschaft bringe. Die Schwester lud ihn zum Rosalienfest ein und meinte, daß der Bruder, für den sie bei seiner schnellen Abreise Sachen eingelöst habe, ihr noch vierzehn Unzen schulde. Als Goethe ging, sprangen die Kinder auf den Balkon. Später schickte er Geld und bekam zwei Dank- briefe, in denen die Mutter den guten Joseph, den sie für den Spender hielt, „alle Stunden" segnete. Jedoch er war schon im Gefängnis der Inquisition und harrte des Todes. Caghostro war von barmherzigen Brüdern, den Benfratelli 82 DER GROSSKOPHTA in Caltagirone, erzogen worden. Sie steckten ihn in die Apotheke, wo er der Wissenschaft der Medizin mit ahnungs- vollem Betrügergeist sich näherte. Im Refektorium sollte er aus der Geschichte der heiligen Frauen vorlesen; er schob die Namen der verrufensten Dirnen Palermos unter. Dann entwischte er den Brüdern. Auf den Straßen seiner Heimat prügelte er sich mit der Stadtwache. Er befreite Mörder, fälschte Theaterbillets, Pässe und Testamente, leistete Kupp- lerdienste, wobei er seine Familie nicht vergaß, erpreßte Gelder, stahl eine Uhr und einen mechanischen Spazierstock. Zugleich war er als ruhmrediger Wundermann tätig. Er kurierte seine Schwester durch ein Tuch, das mit heiligem Öl getränkt war, und zog auf der Erde geheimnisvolle Kreise. Dann prellte er den Goldschmied Murano, dem er einen ver- grabenen Schatz zusagte; er befahl ihm, zweihundert Unzen unter einen Stein zu legen, und nachdem Joseph Balsamo auf Italienisch, Lateinisch und Arabisch gebetet hatte, kamen sechs schwarze Teufel und raubten dem guten Murano den Beutel. Nun hielt Balsamo es für klüger, zu entfliehen. Er reiste nach Messina, wo ein Grieche ihn den Okkul- tismus und die Taschenspielerei lehrte, schlich mit ihm als Charlatan und Trödler durch Ägypten und Kleinasien und gelangte nach Malta, wo „der große Meister Don Manuel Pinto d'Alfonseca, der in einem alchimistischen Laboratorium den Stein der Weisen suchte, sie als wertvolle Mitarbeiter aufnahm". Einsam fuhr Balsamo nach Messina zurück, streifte Prinzen und Banditen und zog mit gefälschten Briefen in das Rom Clemens des XIII. ein, wo er in Haft saß, weil er einen Herbergskellner mißhandelte. Fast wäre der sizilianische Figaro Kardinal geworden; aber er heiratete. Sein Weibchen war die hübsche, sinnliche, listigdumme Lorenza oder Seraphina Feliciani, die Tochter eines „buta- dore'S eines Klempners. Bourget beschreibt den jungen DER GROSSKOPHTA 83 Gatten, der sich zum Grandseigneur umwandelte: „Cagliostro schien für die Rolle des Signor Tulipano in der italienischen Komödie geprägt. Er war von mittlerem Wuchs, dick, hatte olivengrünen Teint, einen sehr kurzen Hals, ein rundes Ge- sicht mit zwei dicken, hervorquellenden Augen und einer offenen, aufgestülpten Nase." Mit Lorenza, die Gimpel locken und sich von dem liebenden Gatten in flagranti er- tappen lassen mußte, brandschatzte er die Länder. In Spa- nien, wo er als Pilgrim im Mantel von schwarzer Leinwand, mit Muscheln dekoriert, nach San Jago di Compostella und zur Mutter Gottes von Pilar wallfahrtete , gab er sich für einen preußischen Obersten aus; ein milder Pfarrer reichte ihm statt Geldes Schweineschinken. In England betrank er sich wie ein Lastträger. Von Calais nach Paris fuhr Lorenza mit einem Intendanten in der Kutsche; Joseph ritt hinter- drein. Seine Frau verschaffte ihm etliche Wochen Gefängnis, dann söhnten sie sich aus. Seit jener Zeit hat Balsamo sich Marquis di Cagliostro genannt. Er wurde Menschenarzt und Freimaurer. In allen Städten begründete er Logen und verkaufte er Elixiere. In London erschien er zum zweiten Male und ward mit seiner Frau in die Loge der Hoffnung zugelassen. Lorenza mußte eine Nacht lang mit einem Strumpfband schlafen, worauf die Worte „Einigkeit, Schweigen, Tugend" gestickt waren. Er beglich die Hotelschuld mit einem leeren Koffer. Im Haag leitete er als Großkophta des ägyptischen Ritus feierliche Konvente. Er stieg in Venedig ab, in Nürnberg, wo er eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt, auf ein Papier zeichnete und von seinem Bewunderer einen Diamantring eintauschte, in Berlin und Leipzig. Er hatte Prunkkleider an und fuhr in verglaster Goldkutsche, der Herolde voraus- sprengten. In Kurland betrog er die empfindsame Seele von Tiedges Freundin Ehsa von der Recke. Er gab an, nur zwei 84 DER GROSSKOPHTA bis drei Stunden in einem Lehnstuhl zu schlafen, seine ein- zige Nahrung seien Makkaroni. Er erzählte, daß er auf dem Roten Meer geboren und hundertundfünfzig Jahre alt sei, und rechtfertigte sich, wenn er unzüchtige Worte sprach oder die Wunder mißlangen, mit der Gegenwart böser Geister. Zuletzt wurde er entlarvt und ausgewiesen, ehe er zur Zarin Katharina, der nordischen Semiramis, gedrungen war; Ni- colai hat eine Schrift Elisas gegen den Betrüger Cagliostro veranlaßt. Er kam nach Warschau, wo man ihm ein Landhaus, Klein- odien und Gold überwies, nach Frankfurt am Main, wo er mit zwei „lUuminaten" in einer Grotte gegen die Despoten sich verschwor. Diese Geheimgesellschaft hatte Emissäre an den Höfen, Geld in den Banken von Amsterdam, Rotterdam, London, Genua und Venedig und rühmte sich, Nachfolgerin der Templer zu sein. Als Triumphator betrat er Straßburg; dann bezog er wie Rousseau ein niedriges Häuschen. Er kühlte mit einigen Tropfen Liquor einen, der in Brand schon halb tot lag; ausgetriebener Schweiß und Milch einer Ziege waren sein Arkanum. Zu Lavater, der, um ihn zu sehen, nach Straßburg kam, sprach er voll HofFart: „Sind Sie von uns beiden der Mann, der am besten unterrichtet ist, so brauchen Sie mich nicht; bin ich es, so brauche ich Sie nicht." Und auf ein briefliches Verhör, wie er seine Kennt- nisse erlangt habe, schrieb er zurück: „In verbis, in herbis, in lapidibus." Zwölf „Damen der Welt" und zwei Schau- spielerinnen hatten ihn begleitet. Vor seinem Fenster drängte sich das Volk. Der Kardinal von Rohan lud ihn ins erz- bischöfliche Palais. Durch ihn eroberte er Paris, die Stadt des Lichtes. Sein Hotel in derRue Saint-Claude wurde über- laufen. Rohan stellte seine Büste mit der Goldinschrifl: „Divo Cagliostro" auf. Er ahmte dem kabbalistischen Grafen von Saint-Germain nach, dem Günstling der Pompadour, der DER GROSSKOPHTA 85 dem fünfzehnten Ludwig den enthaupteten Dauphin im Spiegel gezeigt hatte, und dessen Diener bekundete, er sei „erst seit dreihundert Jahren" in des Grafen Dienst. Caglio- stro Heß, wenn er bei einer seiner Anbeterinnen soupierte, vier Kuverts und vier Stühle mehr, als der sichtbaren Gäste waren, aufstellen; und wenn man ihn fragte, erwiderte er, dies seien die Plätze erhabener, überirdischer Wesen. Die Toten Diderot, Voltaire, d'Alembert und Choiseul setzte er an den Tisch. Seine Blendlaterne zauberte den Prälaten in die hochzeitliche Tafelrunde von Kana. In den Gärten ent- deckte er Haraadryaden und einsame Nymphen. Den jungen Kavalieren versprach er die berühmtesten Hetären, Lais, Phryne, Aspasia, Leontion und Ninon de L'Enclos zu Lager- genossinnen. Madame Cagliostro stand einer Loge von sechs- unddreißig Damen vor. Als Priesterin saß sie auf dem Thron; die Damen hatten sich bis ans Knie zu entblößen und wurden von Schwertgenien mit Seidenbändern gefesselt. Um drei Uhr nachts schwebte der unsterbliche Cagliostro auf goldener Kugel als Genius mit der Flammenkrone nieder und hielt eine Rede. Dann wurden andere sechsunddreißig Genien hereingelassen, die Liebhaber der Damen. Man trank nur Wein und Punsch, walzte und hörte auf den zärt- lichen Liebesgott. Cagliostros Stern erlosch durch die Halsbandgeschichte. Er soll den einfältigen Rohan vor der Lamotte gewarnt haben, doch wohnte er mit ihr in demselben Hause, und als sie verhaftet wurde, wies sie zur näheren Erläuterung auf ihn. Man weigerte ihm die Postpferde nach Lyon, wohin er reisen wollte, um eine seiner ägyptischen Logen zu be- gründen, nahm ihm seine Pulver, Elixiere, Balsame und Liköre und schleppte ihn mit seiner Gattin zu Fuß nach der Bastille. Dort bedeutete er den untersuchenden Richtern, er könne ihnen seinen wahren Namen nicht nennen, allein 6 86 DER GROSSKOPHTA dem König werde er ihn mitteilen. Man hielt ihn für einen Sohn des verstorbenen Großmeisters von Malta mit einer Tochter des Scherifs von Mekka. In einem Fiaker holten ihn zwei Gerichtsdiener zum Prozeß nach dem Palais de Justice. Er trug ein grünes Kleid, eine modische Frisur, sah zufrieden aus und spaßte. Ein Krüppel ging voran, den man mit drei Bouteillen und einem Kasten von Eisenblech belud. Die Lamotte wurde zu Stäupung, Brandmarkung, Kirchen- buße mit einem Strick um den Hals und Kloster auf Lebens- zeit verurteilt. Cagliostro, der Kardinal und die Oliva wur- den freigesprochen; aber die Minister des Königs verbannten den Charlatan aus Frankreich. Die Logen gaben ihn preis. Wie der Schmetterling in das Licht, irrte er nach Rom. Der Vatikan sperrte ihn als Ketzer in die Engelsburg, seine Frau, die ihn abermals denunziert hatte, in das Kloster Santa Apollonia. Dann brachte ihn die Inquisition nach dem Fort San Leon in Urbino, wo er heuchlerisch büßte, um seine Schergen zu täuschen, und ein dunkles Ende fand. ( Bäder. Wenn in jener fernen Zeit Herr von Montaigne eine Badereise antrat, so war eine ganze Karawane um ihn, Pferde, Reitknechte, Diener, und höchstens fünf Meilen täglich wurden im langsamsten Trab der Welt zurückgelegt. Herr von Montaigne war mit Ausdauer bestrebt, an heil- bringenden Brunnen sich zu erholen. Ihn quälte ein Blasen- leiden so stechend, daß ihm die Philosophie der Skepsis fast verging. Er hielt sich darum am liebsten in Badeorten „mit gutem Tisch und guter Gesellschaft" auf. Zuerst versuchte er es in Banieres, das zur französischen Heimat gehörte. Dann zog er nach Plombieres, an der Grenze von Deutsch- land und Lothringen. Der Ort liegt in einem kleinen Tal- kessel. Das Wasser war sehr heiß oder sehr kalt, und Herr von Montaigne mußte es von einem Glas ins andere gießen. Dem Königinnenquell entströmte eine Flüssigkeit, die nach der Süßholzwurzel roch. Alaungeschmack besaß ein Quell, der unten ani Berge entsprang. Herr von Montaigne trank jeden Morgen, ohne Medizin vorher, neun Gläser. Jeden zweiten Tag stieg er ins Bad, nachdem das Gesinde ihn ge- schröpft und purgiert hatte. In Plombieres genas man auch von Hitzpocken und Geschwüren. Herr von Montaigne plauderte oft mit Herrn von Andelot, dessen Bart und Brauen zur Hälfte weiß starrten, als seien sie mehlbestäubt. Der Grund dieser Seltsamkeit war sein Gram um seinen Bruder, der mit den Grafen Egmont und Hoorn in Brüssel hingerich- tet wurde. Herr von Montaigne saß gern in dem ovalen Hauptbad, einem von Stufen umrandeten Bretterverschlag. „Es wird sehr auf Anstand gehalten," diktierte er seinem Sekretär, „obwohl die Männer nur mit einer Hose bekleidet und im übrigen nackt sind; die Frauen tragen nur ein Hemd." Zwei Wochen später ging es nach Baden in der Schweiz, 6* 88 BÄDER einem von Edelleuten bevorzugten Schwefelbad, das sich schöner Gasthäuser und sogar reservierter, mit Glasfenstern versehener Badestuben für Damen erfreute. „Der Aderlass", heißt es im Tagebuch, „wird so stark angewandt, daß die beiden öfFentHchen Bäder bisweilen mit reinem Blut gefüllt schienen." Herr von Montaigne nahm täglich fünf große Gläser vom Schwefelbrunnen und kroch bis an den Hals ins Badebassin, während die Einheimischen, spielend und trinkend, nur bis zu den Hüften tauchten. Kurz war der Aufenthalt des Philosophen in Battaglia bei Venedig, der dritten Station, einem Schlammbad. Monate hingegen blieb die Karawane in Lucca. Die Bagni della Villa waren das Entzücken der Fremden. Und der Sekretär berichtet, was Herr von Montaigne bewunderte, wie er Bälle veranstaltete, und wie schwach er vor der Abreise sich fühlte. Sein Beispiel erweckte im siebzehnten Jahrhundert manche Nacheiferung. Die Bäder in Vals, Pougues, Bourbon, und wie sie sonst noch hießen, kamen in Flor. Noch immer wurde mit Reisedispositionen begonnen, und es galt für ein Gebot der Klugheit, erst sein Testament zu machen. Für diese Gläubigen lebte in den Tagen von Molieres Argan, Molieres Purgon und Diafoirus der berühmte Doktor De- lorme, der die Badereisen als Panazee ausschrie. In Kissen und Wolltücher verpackt, glotzte er aus seiner Sänfte, die mitten in eine Stube gestellt war; ringsherum waren vier Kohlenbecken entzündet. ,,I1 faut aller aux eaux", pflegte er bei den Konsultationen zu murmeln, und selbst zer- schossene, lahme Kriegshelden empfingen nichts als diesen Trost von ihm. „Die warmen Brunnen", orakelte einer seiner Amtsgenossen, „zerschmelzen die Phlegmen und bringen die Säfte ins Gleiche, indem sie die Unreinlichkeiten des Blutes aussondern und ihnen den Weg durch die Poren der Leder- haut öfl'nen. Sie heilen die Hautkrankheiten, den aus einem BÄDER 89 Katarrh des Magens, aus Winden oder Blähungen zu erklä- renden Zahnschmerz, das Ohrensausen und die Epilepsie, die von unreiner Fülle des Gehirns herrührt.'* Dicht bei Paris flössen die Quellen von Auteuil und Passy. Die in Auteuil war eisenhaltig und tötete die Fische, die in Passy war ein Sauerbrunnen. Hierhin fuhren die vornehmen Pariser in Karossen, und die Anhänger des Badeorts priesen mit Lei- denschaft seine Vorzüge; doch es fanden sich auch Ketzer, die versicherten, wer in Passy Kurgast sei, den jucke die Haut. Im Jahre 1676 reisten Frau von Montespan und Frau von Sevigne nach Vichy. Die zweite, deren haushälte- rische Natur uns allen durch ihre Episteln vertraut ist, wich auch im Mineralbad von ihren Grundsätzen nicht ab. Be- friedigt meldete sie ihrer Tochter, daß das Leben in Vichy ganz billig sei und zwei junge Hähne nur drei Sous kosteten. Um fünf Uhr morgens stand sie bei der Quelle, deren Mi- rakel sie vom Rheuma befreien sollte. „Man trinkt das Wasser", schwatzt Frau von Sevigne, „und schneidet Ge- sichter dazu; denn der Salpetergeschmack ist gräßlich." Um acht Uhr begab man sich zur Messe. Gegen Mittag scharte man sich zur Kurpromenade, zeigte Toiletten und klatschte über die Augen der Frau von Ludre, das Haar der Frau von Brissac, über Intrigen und Skandale. Im kühlen Abend lustwandelte man zum Ufer des Allier. Frau von Sevigne liebte die „Haine, die Bäche, die Wiesen, die Ham- mel, die Hunde und die Bauern, die la bourree tanzen". In diesen Ländler war sie so vernarrt, daß sie die Mädchen häufig einlud, ihn abends vor ihrer Gesellschaft aufzuführen, bei Geige und Tamburin. Das Idyll von Vichy ist doppelt bescheiden, wenn man es mit den Bädern des achtzehnten Jahrhunderts vergleicht. Mehr als Plombieres, dessen steiniger Boden und düsterer Himmel Voltaire erschauern ließen, mehr als Forges, dieses 90 BÄDER öde Loch, mehr als Bourbon, wo vor Diderots Augen Frau von Noce ihr Hündchen duschte und ihren Aflfen Frau von Pers, war Cauterets, das Pyrenäenbad, en vogue. Die Her- zogin von Choiseul brachte einen Abglanz von Versailles dorthin. Eine Reihe großer Damen waren ihre Nebenbuhle- rinnen. Diners, Soupers, Bälle und Konzerte verdrängten das Kurprogramm. Der Sänger Jeliotte, ein Apoll, und die Tische beim Zuckerbäcker wurden eifriger umstritten als das Brunnenhaus. Die Nächte wurden im Glücksspiel ver- geudet, und bald lockte der Klang des Goldes die hellhörige Rasse der Industrieritter herbei. In einer Komödie von Dan- court tritt ein solcher Galgenvogel auf, der Chevalier von Bressaudiere, dessen Spezialität die Badeorte sind. Doch am tollsten ist jetzt das Getriebe in Spaa: „Hypochondrische Mylords, die traurig auf- und niedergehen, Pariser Dirnen, junge Leute, die den Engländer markieren, indem sie durch die Zähne sprechen und sich wie die Stallknechte kleiden. Französische Bischöfe mit ihren Nichten, alte Herzoginnen, die mit einem Stock ä la Vendöme von der Promenade kom- men und drei Finger dick Weiß und Rot aufgetragen haben. Widerwärtige und verdächtige Gesichter inmitten eines Berges von Dukaten, Augen, die das Geld verschlingen, das am grünen Tisch gesetzt wird. Russische Fürsten mit ihren Ärzten, Pfälzerinnen und Kastilianerinnen mit jungen Beicht- vätern, Gauner aus allen Gefängnissen Europas. Charlatane aller Arten, Abenteurer aller Gattungen, Abbes aus allen Ländern, zwanzig Kranke, die wie Verrückte für ihre Ge- sundheit tanzen." Im neunzehnten Jahrhundert, als die beiden Gewitter der Revolution und der napoleonischen Weltherrschaft vorüber- gerauscht waren, eroberten die deutschen und die österreichi- schen Kurorte den ersten Platz : Baden-Baden, das Stelldich- ein der Dandys von 1820, und die lauschigen Verstecke im BÄDER 91 quellenreichen Böhmen. Der weimarische Staatsminister von Goethe wandte sich den Auen und Hügeln zu, deren wechselnde Szenen ihm das Bewußtsein von Freiheit, An- regung durch merkwürdige Personen, Material für geologi- sche Forschung, dichterische Motive boten und die Zeugen letzter Liebeswirrungen wurden. Von Ulrike von Levetzow träumte der Entsagende, der in die Worte der „Trilogie" sich rettete. Zu Karlsbad, im Goldenen Brunnen, bezauberte ihn der Sopran der Madame Catalani. Ein Dolmetsch der wackeren Bürger, feierte er in schicklichen Versen ,,Der Kaiserin Ankunft": „Aber heute neu mit Machten, Sprudle, Quell, aus deinen Höhlen! Faltet aus die frischen Frachten, Ihr, des grünen Tals Juwelen, Holde Blumen euren Flor!" Er besang das „klein-geblümt Gefäß", aus dem die Mon- archin ihren Sprudel schlürfte, die Stelle, wo die „Nymphe der Kühle" sie betrachtete, und das Feuerwerk bei ihrem Scheiden. „Ihro des Kaisers von Österreich Majestät" und „Ihro der Kaiserin von Frankreich Majestät" umgab er mit Huldigungen. Den Fürsten von Metternich sah er, den Ur- heber der Karlsbader Beschlüsse, „und fand an ihm wie sonst einen gnädigen Herrn". Dazwischen versenkte er sich in die Natur, zu der sein Genius unablässig sich den Eingang öffnete. Um 1830 wurde die Melodie einer neuen Bäderepoche an- gestimmt. Den Leonardo des Bergquells löste ein Ariost des Seebads ab. Heinrich Heine, das unartige Kind der Roman- tik, hörte die Rhythmen des freien Meeres. Er schilderte das Publikum von Norderney, das ganz anders war als das Pu- blikum von Marienbad und nicht im entferntesten so bunt wie die Gäste, die allmählich, noch über ihren Mut stau- nend, an Hollands und Belgiens Küste sich versammelten. Auf die Elegie der Hauswiesen folgte die Elegie des Strandes, auf die begrenzte Perspektive einer Flur die bis dahin nicht 92 BÄDER bekannte, wogende Unendlichkeit. „Die Badestellen beider Geschlechter", so schrieb der Dichter der Nordsee in seiner frühen Manier, „sind voneinander geschieden, doch nicht allzuweit, und wer ein gutes Glas führt, kann überall in der Welt viel sehen. Es geht die Sage, ein neuer Aktäon habe auf solche Weise eine badende Diana erblickt, und wunder- bar! nicht er, sondern der Gemahl der Schönen habe da- durch Hörner erworben. Die Badekutschen, die Droschken der Nordsee, werden hier nur bis ans Wasser geschoben und bestehen meistens aus viereckigen Holzgestellen, mit steifem Leinen überzogen. Jetzt, für die Winterszeit, stehen sie im Konversationssaale und führen dort gewiß ebenso hölzerne und steifleinene Gespräche wie die vornehme Welt, die noch unlängst dort verkehrte." Nachher, als Heine schon der Europäer war, hat er ein- mal in Bareges, das wie Cauterets an den Pyrenäen hing, den Juli und August zugebracht. Er labte seine Seele mit der Musik der Felsen wasser, er schwärmte für die silber- füßige Mademoiselle Belhomme, die Tanznixe der Pariser Großen Oper. Er glossierte die Geduld des Herzogs von Ne- mours und die ,, rotgesunden, beefsteakgemästeten Gesichter" der Briten. Er spottete über die Konsultationszettel der Söhne Äskulaps, diese „Empfehlungsbriefe an den Zufall", und über die steinernen Badewannen, diese „provisorischen Särge, worin man alle Tage sich eine Stunde üben kann im Stilleliegen mit ausgestreckten Beinen und gekreuzten Ar- men, eine nützliche Vorübung für Lebensabiturienten". Schließlich sind noch Heines „Bäder von Lucca" da, das Intermezzo von Gumpelino, Hyazinth, Lätizia, Francesca und Bartolo, das Spiel einer Phantasie, die, so frech sie war, doch ihr Kompliment gemacht hätte, hätte sie geahnt, daß sie auf den Spuren des Herrn von Montaigne sich tummelte. Um 1860 herrscht das Seebad beinahe exklusiv. Ostende, ^ BÄDER 93 Scheveningen, Cannes, Pau, Bath, Hastings nehmen ihren Aufschwung. An den KHppen von Biarritz erhebt sich die Villa Eugenie, erheben sich die aristokratischen Schlösser, die Hotels, das Casino. Durch Trouville, das normannische Fischerdorf, wälzt sich der Sturm der französischen Bour- geoisie und der europäischen Flaneure. Das Seebad mit den Tausenden, die auf Dünen lagern, den Amateur-Badelehrern, den „baigneuses" von Profession, mit dem Korso, den Re- gatten, den Jockeirennen, dem Roulettetisch, hat seine de- finitive Form. Und nun ist es ein vergrößertes Spaa, das Spiegelbild einer Weltstadt. Dichter. Die dämonischen Poeten. Shaws „Candida" ist vielleicht ein langweiliges Stück. Aber eine Rolle ist darin: die Rolle des jungen Eugen Marchbanks, der berauscht Frau Pastor Morrell folgt, der weiblich milden. Schmerzvoll sind seine Augenbrauen ge- schweift. Er hat ein Taschentuch als Krawatte. Zu Jakob Morrell, der ihn getroffen hat, wie er auf einer Kaibank schlief, sagt er mit der Grausamkeit des Knaben: „Ich zittere nicht vor der schweren Verpflichtung und den großen Gaben des Dichters! Der Mangel dieser Gaben bei anderen, der macht mich zittern!" Als er hört, daß Frau Candidas Finger Zwiebeln und Petroleum antasten, fährt er auf. In den Him- mel will er mit ihr, wo die Lampen Sterne sind. Und als er um sein Idol umsonst gekämpft hat, als sie für Jakob stimmt, verläßt er sie mit einer Geste des Ekels: „Nun denn hinaus in die Nacht mit mir!" Denn er ist der Poet, der Ausgestoßene, der Verzweifelte. Er ist ein Nachfolger Werthers, und da er mit dem nüch- ternen Spott eines fabianischen Sozialisten geschaut ist, der letzte. Mit dem armen Seraph und Hauslehrer Hölderlin ist er verwandt, der, zu Frau Susette Gontard hingerissen, sie anschwärmte: ,,Es gibt ein Wesen in der Welt, worin mein Geist Jahrtausende verweilen kann." Mit Lenau, der Frau Sofie Löwenthal beschwor: „Unser gemeinsames Leiden soll uns heilig sein", dem finsteren Pathetiker, der in Dithy- ramben Entschädigung suchte. Mit den Byroniten und mit Wagners „Fliegendem Holländer", in dessen Motiv die hohle Quinte tönt. Zweimal werden diese Schicksalsmenschen im Theater Ibsens sichtbar. Wie Shaws Jüngling entweicht der zerlumpte Ulrik Brendel oder Hctman, und er prahlt: „Die dunkle Nacht ist am besten." Eilert Lövborg, der DICHTER 95 Dichter und Gast im Salon des rothaarigen Fräuleins Diana, erschießt sich nach Heddas Wunsch. Hamsuns „Poete mau- dit" ist Johann Nilson Nagel, der Nebelwanderer der „My- sterien". Ein jeder hat den Kainsstempel, den Freiligrath, der deutsche Volkstribun, auf Grabbes Stirn drückte, und den heute Frank Wedekind beansprucht. Ihr Auge rollt in „a fine frenz", dem „schönen Wahnsinn", von dem Theseus im „Sommernachtstraum" redet. Kometen möchten sie sein, friedlose Boten des Hasses. Sie gehen umher wie nach Emer- son die Denker, „mager und bleich, mit kalten Füßen und heißem Kopf. Die Nächte verbringen sie ohne Schlaf. Sie sind Abstraktionisten." Die Lügner. Für Schiller ist der Dichter ein Bewahrer der Natur. Für Nietzsche, dessen ,,Zarathustra" das „Narren- und Dichter"- Lied der Schwermut sang, ein Mond- und Gottsüchtiger, ein Verhehler der Natürlichkeit. Gutes und Böses schafft er, nach Byrons „Lament of Tasso", aus zuviel Gefühl und Geist. Mit Notwendigkeit begehrt er das Unwirkliche, wie das ge- brechliche Emblem des Tasso von Weimar, der Seidenwurm, nicht ruht, bis er seinen Sarg gesponnen hat. In Bahrs „Mar- syas" steht: „Das Gefühl, unfähig des Lebens zu sein, die Scham darüber, die Angst davor und der Wahn, das Leben ersetzen zu können, dies alles bis zu einer explosiven Be- klemmung gesteigert, macht produktiv." Produktion ist die Ausflucht derer, denen die Tat, das einfache Dasein versagt ist. So behauptet Hofmannsthal, der Ästhet, ein gutes Ge- dicht sei mehr als eine Feldschlacht. Daudet erzählt, daß er durch die Panik von 1870 Tarta- rins Schöpfer wurde. Aber der Held der Dichterseligkeit ist Peer Gynt, der norwegische Erzschelm. Brandes teilt 96 DICHTER mit, daß ein junger Däne das Modell war, ein schwatzhafter Aufschneider, der ein Kostüm von weißem Atlas trug und auf Kreta und in Rom sich „inspirierte". Man lasse Peer Gynt in eine Photographenstube übersiedeln, und er wird der flunkernde Hjalmar sein. Poeten schleppen ein zweites, ein imaginäres Ich auf ihrem Rücken. Ihm nur kommt Be- deutung zu. Lest, wie hartnäckig Beyle die „häßlichen Ein- zelheiten" ,,par du romanesque" hinwegtäuschte, bis der größere Stendhal da war, und mit wie schlechtem Gewissen Alfred de Musset beteuert: „Ich selbst habe gelebt und nicht ein künstliches, von meinem Stolz und meiner Sorge er- zeugtes Wesen." Sind nicht schon die Gebote des Klanges, des Rhythmus ein Zwang zur Unwahrhaftigkeit? Konnte nicht bei Flau- bert die Vokalfarbe eines Wortes über ein ganzes Werk und seine Gestaltung entscheiden? Am Reime, der nach Byron nützlich ist, „weil er der Geistesstörung der Dichter zuvor- kommt und sie verhindert", hängen Glück und Unglück der Völker. ,,Auch im Drang" können, so seufzte Hebbel, „die Dichter sich nicht verleugnen, sie müssen ja auch iü einem solchen Fall nach der höchsten Vollendung der Form streben, und die Form erkältet alles Subjektive, da sie ver- allgemeinert." Erstarrung haucht uns an. Frei vom Zweifel sind bloß die Pfuscher. ,,Alle schlechte Kunst kommt aus echtem Empfinden", sagt Oscar Wilde. * * * Konfessionen. Darum soll man den „beichtenden" Dichtern mißtrauen. Denn keiner von ihnen (auch der abgeschminkte Wilde von ,,De Profundis" nicht) hat den unversehrten Adel des Wun- dermannes Goethe, der seine ,, Bruchstücke einer großen Konfession" entwarf. Sie sind belastet: Rousseau, der seine DICHTER 97 hundert Schäden aufdeckte, um bombastisch-theologisch sich zu preisen, Tolstoi, der ganz Europa in seinen Magenkatarrh hineinzog , und Strindberg , „der Sohn der Magd", der Ber- serker in der Ehe. Man hüte sich vor den Gewalttätigen, den Leuten mit einer „Mission". Fontanes Spruch war: „Du dichtest, das ist das Wichtigste, du dichtest, das ist das Nichtigste!" Um wieviel zukünftiger ist eine solche Devise als der Nordlichtschein Ibsens, des tyrannischen Erlösers und Wiedertäufers, Ibsens, der den Dichter mit einem ge- nesenden Skorpion im Wasserglas verglich oder an ein nächt- liches „Richten" dachte? * * * Dichterliebe. Arg ist es um die Liebe der Poeten bestellt. Robert Brow- ning huldigte dem Lyriker Fräulein Barrett. Sie wäre, schrieb er ihr, seiner Verlobten, sein Licht geworden, auch wenn sie keine Zeile verfaßt hätte. Er wollte sie nicht durch die „Sprache der Poesie" entwerten. Und doch brach sie in Pisa das gerührte Schweigen und schenkte ihm, aus dem Zimmer fliehend, die „Portugiesischen Sonette" als Nieder- schlag der Brautschaft. Weil sie es nicht lassen konnte. Dichter lieben auf Umwegen, in wortreichen Fiktionen. „Arnes soeurs" sind sie, schwärmende Bettinen mit ,, Liebes- tau", die Objekte brauchen, Goethe, den Fürsten Pückler, Friedrich Wilhelm den Vierten. Oder Zärtlinge wie die Basch- kirtseff, die anonym mit Guy de Maupassant tändelte, wenn- schon er im Antwortbrief sein „Gewerbe eines Zcilenverkäu- fers" verwünschte, das ihm diese Bewunderung eintrug, „Briefe an eine Unbekannte" heißt ein Buchtitel des bitte- ren Merimee; diese „Lady Seymour" war, wie er zu spät sah, eine Gouvernante aus Boulogne. Der Herkules Balzac knüpfte seine Liebschaften stets durch 98 DICHTER _ literarische Briefe an. „Der Schriftsteller", sagt er zu Gau- tier, „muß sich der Weiber enthalten, sie betrügen ihn um seine Zeit. Er muß sich darauf beschränken, ihnen zu schrei- ben; das bildet den Stil". Als Frau von Hanska sich ihm anbot, nannte sie sich die „Fremde". Er nannte sie „Engel", „süße Blume", „beredter und anmutiger Stern". So wurde die Fremde Madame de Balzac. Als sie ihn sah, fiel sie aus den Wolken. Als er starb, war Herr Gigoux in ihrer Kammer. Die Apostel, die Sehnsüchtigen sind Träumer von unge- wöhnlich heikler Natur. Ihr Typ ist Jean Paul, der „aller Frauen Mann" war, der „zwischen Äther und Schlamm" wechselte wie sein Rocquairol, und sobald er eine „Palästra der Seele" hinter sich hatte, das „aufgeschöpfte, stofflose Leben" verschmähte. Eine der gelehrigen Titaniden, Karo- line, die „Luna", wandelte später als Eheweib neben ihm. Wenn er Reisen machte, hielt sie ihm vor: „Mein süßer Gott, wann liege ich wieder an deiner heiligen Brust? Meine Seele ist gierig nach deinem Allerheiligsten; dein Schnupf- tuch nahm ich, es hatte noch einige Wärme von dir." Ihn kümmerten sein Schlafrock und der Biervorrat. Sie stöhnte: „Könnte ich meine Seele zu deinen Füßen aushauchen!" Er mahnte sie, seine Briefe aufzuheben: ,,Du kannst der Welt mit ihnen zeigen, daß ich einen leichten Stil habe." „Heiraten Sie kein Genie", warnt Mrs. Carlyle. Flaubert urteilte, der Dichter sei eine Monstrosität. Frauen, die Künst- ler als Gatten wählten, bewiesen Verirrung der Instinkte. Auch hier sind die Katastrophen desto schlimmer, je höher die Romantik ihren Flügelschlag spannte. Man weiß von Lord Byron und Lady Lamb. Auf den ersten Blick sagte sie: „Dies blasse Antlitz ist mein Schicksal"; denn Childe Ha- rold war trotz seinem Klumpfuß schön, aß nichts und galt für einen „Piraten". Sie war toll über seine Untreue, ver- brannte sein Bild auf einem Scheiterhaufen, den Kinder DICHTER 99 umtanzten, vererbte seinen Ring auf andere und spielte Selbstmord. Er meinte phlegmatisch: „Sie vertreibt sich die Zeit!" Für die Unbill rächte sie sich durch den Skandal- roman „Glenarvon". Indiskret war auch Constant, als er der Stael müde wurde, „der Furie, die mich verfolgt, mit Schaum vor dem Munde und dem Dolch in der Hand". Der falsche Sainte-Beuve dichtete das „Livre d'Amour", das Frau Adele Hugo kompromittierte und zu Victor Hugos Tochter mit salbungsvoller Väterlichkeit sich wendete. Der Grübler und Märtyrer Kierkegaard zerbrach, ähnlich wie Kleist, den Bund mit Regine Olsen. „Zur Buße" veröffentlichte er das „Tagebuch eines Verführers", das ihn als Scheusal stäupen sollte. Es dünkte ihn „ausgesuchte Galanterie", wenn er dort auf dem Papier als „humoristische Individualität" Re- ginen eine Beihilfe zur Aussteuer verhieß. Diese Profanie- rung ist asketisch und teuflisch. Ein Hanswurst aus dem Kaffeehaus ist der Dichter Gilbert in Schnitzlers „Literatur", der mit der Dichterin Margarete um die Wette die einst getauschten Liebesbriefe ausschlachtet. * * * Die Eingeschlossenen. Die Dichter leiden selbst unter ihren Funktionen. Und wäre ihr Zustand nur jenes überwache „doppelte Sehen", von dessen Pein Maupassant in „Sur l'eau" berichtet. Ver- sunken spazierte Hebbel durch den Prater, das Haupt tief herab, mit verschränkten Armen: „Sprach ihn jemand an, dann entfuhr ihm der heftigste Laut der Abwehr. Manch- mal überhörte er die Anrede und schwankte, leise singend, vorbei." Für ihn war Dichten eine stürmische Krankheit wie für den Hypochonder Franz Grillparzer, der mit der Empfindung eines nahenden Fiebers aufstand und die „Ahn- frau" verfaßte. Jacobsen schreibt, der Dichter sei „un- 100 DICHTER normal", „etwa wie das Volk es sich mit den Seiltänzerkin- dern vorstellt, daß man ihnen die Gelenke bricht, während sie noch klein sind". Durch die schwächlichste Episode von Schnitzlers ver- wöhnter Kunst, durch seine „Lebendigen Stunden", klingt der Gram des Entbehrens. „Ist es nicht ungleich wertvoller," äußert Ibsens Professor Rubek, „ein Leben in der Sonne zu führen, als sich in einer naßkalten Höhle mit Tonklumpen und Steinblöcken zu Tode zu plagen?" Wie traurig ist die Szene: Turgenjew, Flaubert, Goncourt, Zola sitzen beieinan- der, und drei gestehen, daß sie niemals etwas von wahrer Liebe erfuhren. Indes, sonst wären sie wohl keine Dichter. So hielt auch Goethe den Absentismus für ratsam und meinte, Byron (der bekennt, nur aus Ekel oder Unvermögen passiver Zuschauer geworden zu sein) habe sich auf über- große Empirie eingelassen. Die Dichter als Säulenheilige, als unkirchliche Mönche. Dann ist Flaubert ihr Patriarch. Was war ihm Madame X.? Was waren ihm Reisen? „Wirkliche Bilder", schreibt er der Sand, die ihn nach Nohant lud, , »würden in meinem Hirn die mühsam erdichteten Bilder verdrängen. Mein ganzes Kartenhaus stürzte zusammen." Er sperrte sich ein wie ein Maulwurf, verabscheute den doppelten Genitiv, der trotz allem in „Madame Bovary" sich einschlich, wälzte eine Bibliothek für die ,,SaIammb6", in der, seiner Gelehrsamkeit zum Hohne, unmögliche Mosaiken, Kamele, Schmelzöfen, assyrische Münzen, Kakteen und Palmen sich finden lassen, und deklamierte bei brennenden Kerzen grimmiger als Balzac. * ,,Der Schaffende muß gestorben sein", sagt Thomas Mann, der Arbeiter in unpersönlicher Prosa. Und doch sind diese Hehler und Bemakelten, diese Gestorbenen das brausende Herz der Welt. Die Umstürzler. Die Wahren und die Falschen. Eine Vision steigt auf: Mirabeau. „Ein schlechter Sohn," sagen die. Richter in seinem Scheidungsprozeß, „ein schlechter Gatte, ein schlechter Vater, ein gefährlicher Mensch." Sein Revolutionarismus ist die wütende Vergel- tung an dem alten Mirabeau, dem „ami des hommes", und hat die gleiche animalische Echtheit wie seine Überfälle auf Weiber, seine Spionagen, sein Betrug mit dem Namen der Lamballe. Die Generalstände murren, als er kommt. Drohend springt er gegen den Zeremonienmeister an und später gegen die äußerste Linke. Er wird ein zweiter Richelieu, sein „Art d'oser" w^ächst ins Große, als der Intendant der Zivilliste, Herr de la Porte, beauftragt wird, für ihn zu sorgen. Und nur der Zusammenbruch eines Körpers, dessen Magen, Zwerch- fell und Eingeweide entzündet sind, dessen Herzbeutel ein gelber Schleim füllt, setzt dem Triumph dieses Umstürzlers ein Ziel. Ein paar kleinere Raubtiere heften sich an seine Spuren und brüllen fort, wo sein Gebrüll verstummt ist; Danton etwa, der Herkules mit der zerschmetterten Nase, der „dans le Neant" eingeht und am SchafFot sich selbst zuruft: „Danton, keine Schwäche!" Geschöpfe sind sie einer Zeit, die keinen Vorwand braucht, die sich des Skrupels entwöhnt hat und nach Gefahren verlangt. Im Geistigen kommt sie von Laclos, dem Kriegssekretär der Revolutions- armee, auf de Sade, das „Opfer der Bastille", der in seinen Romanen die Minister zerreißt, den Marquis mit den, wie er sich schmeichelt, blutberonnenen Händen. Daneben gibt es die lyrischen, die tugendhaften Schüler Rousseaus, in denen das Idyll seufzt und die zarte Schwär- merei. Marat, der sein Ekzem hat wie Mirabeau die Blattern und nur deshalb, nicht aus sardanapalischer Wollust, 7 102 DIE UMSTÜRZLER Charlotte Corday in der Badewanne empfängt. Den Racine betet er an, wenn Danton sich dem Corneille verwandt glaubt, und ein Roman spricht für ihn, mit ländlicher Liebe, rieseln- den Quellen und flüsternden Hainen. Robespierre, den man nun doch rehabilitieren sollte, nachdem sein jedes Geßner würdiges Begleitgedicht zu ein paar an die Freundin ge- schickten Rebhühnern bekannt geworden ist. Er war den Vögeln und den Blumen zugetan. Noch einen Tag, ehe er im Konvent vor der Brutalität einer Pistole erschrak, hascht er Maikäfer. Sehr sauber hält er seinen blauen Rock, er ist die Provinz mitten in Paris. Und wer weiß, was aus dem Sprecher der „Rosengesellschaft" geworden wäre, hätte ihn nicht die unholde Pflicht seinen stillen Beschäftigungen ent- rissen! Sein glorreichster Tag ist der zwanzigste Prairial, wo er als Hoherpriester auftritt, mit dem Blumenstrauß, dem Bündel von Weizenähren und der Fackel in frommer Hand. „Wie hätte ich", so schreibt er, „allein mit mir in Kämpfen bestehen können, die mehr als menschliche Kraft erfordern, hätte ich nicht meine Seele zu Gott erhoben!" Ein Bieder- mann war der Atheist, dem Robespierre unter das Beil half, der rheinische Baron Anacharsis Cloots, der ,, Redner des Menschengeschlechts", der die kostümierten Botschafter der exotischen Völker in die Nationalversammlung lud, die sagenhaften Araber, Chaldäer, Syrer und Chinesen: Pio Olivades, de Truck de Boetzlaer, van de Pol, de Capellen, de Nyss, Abbema, de Kock, de Balsa, de Raet, van de Stenne, Robert Pigott, Chavis und Chamas. Und Fouquier-Tinville, der bestallte Ankläger des Wohlfahrtsausschusses, der zu stöhnen pflegte: ,,Wäre ich doch Landmann geblieben!", der von seines Vaters, des Ackerers, Windmühle und Tauben träumte und ein Madonnenbild auf der Brust trug, als er Marie Antoinette in den Tod stieß. Und Fouche, der Ora- torianer, der, einen Früchtekranz um die Schläfen, in Nevers DIE UMSTÜRZLER 103 den Hohenpriester spielte, der tränenseligste Familienvater, der frohlockte, wenn er nach Paris melden durfte, daß er zweihundertunddreizehn Lyoneser vor die Mündungen der Geschütze stellen werde — er, das bescheidene Werkzeug einer ,, guten Sache". Das weiße Roß. Sein Reiter ist der Marquis de Lafayette, der neue Scipio. Carlyle vergißt niemals, es zu erwähnen, so oft der Befreier Amerikas sich in den Straßen zeigt, vergißt es so wenig wie den Federbusch, der vom Hut des Bürgergenerals flattert. Doch im Paris des Louis Philippe, den der Marquis als „die beste der Republiken" umarmt, ist er, nutzlos und dekorativ, die „Vorsehung zu Pferde". Er ist nach Heines Zeugnis der Abgott der Gewerbsleute und Kleinhändler, er heißt im Lied „Lafayette aux cheveux blancs", während er stets eine braune Perücke hat, und sein Landsitz winkt, mit der Einfalt seiner Feste, als der ,,Hof des souveränen Volkes". Das weiße Roß verdient des Sinnbilds Unsterblichkeit. Es ist die Revolution der Dramen und Gedichte von Hugo, die Revolution der Gesten und der Worte. Eine Revolution, bei der Petöfi und Jokay auf öffentlichem Platz in Budapest die zwölf Artikel verkünden, wo Petöfi Strophen deklamiert und Jokay das „y" seines Namens, ein Adelsprivileg, ab- legt, um sich hinfort „Jokai" zu nennen, die Revolution, deren Glanznummer Kossuths magyarischer Schnürrock war. In Rußland schließt Stepan Tropimowitsch sich an, Dosto- jewskijs „fleischgewordenes Warnungszeichen", Dostojews- kijs Replik auf die europäische Generation Turgenjews, der Insarow schuf, den „bulgarischen Patrioten", den Revo- lutionär als homme ä femmes, und den dumpfen Basarow, der sich für die Frau Odinzow entzündet. Gegen den Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts ver- 104 DIE UMSTÜRZLER wandelte sich der ,,panache" Lafayettes in den Muschikrock, in den Schafpelz des Grafen Tolstoi, des letzten „abdizieren- den Aristokraten". Ein letztes Mal stellte er, der Nachahmer des ideologischen Fürsten Krapotkin, der die graue Hose des Amurkosaken und den Kittel des Geographen den Silber- litzen der Garde vorzog, die Revolution aus Edelmut dar. In gerader Linie stammt er von Berthold Auerbach. „Ich bin Eugen Baumann", sagte er zu dem Verfasser der Dorf- geschichten, den der bärbeißige Russe verschüchterte, weil er glaubte, ein Namensvetter seines Helden sei gekommen und wolle ihn wegen Ehrenbeleidigung verklagen. ,,Elle est de l'annee de la Sonate ä Kreutzer" (dieser Predigt wider die Fleischeslust), meinte, als ihr Mann der Greis von Jasnaja Poljana war, lachend die Gräfin zu Herrn Bourdon, auf Sascha, die Tochter Alexandrine, deutend. Und hinter dem Quietismus wittert man die Vertrocknung der Säfte, hinter den Proklamationen dessen, der „nicht schweigen kann", den ungestillten Drang Tropimowitschs des Zweiten. Der hektische Revolutionär. Wie ein Phantom starrt mit seinem traurig schönen Grie- chenkopf der Chevalier de Saint -Just, der vielleicht die Seele der großen Revolution war und vielleicht dem Pro- vinzler Robespierre voranging. Durchaus verschieden ist er von den anderen egoistischen Jünglingen, die neben ihm ihr Glück machen wollten. Von Desmoulins, dem Geliebten der heiteren Lucile, der über Saint -Just bemerkte, er trage sein Haupt so ehrfürchtig wie das heilige Sakrament, und der diesen Hohn mit dem Verlust des eigenen Hauptes zahlte; von Fahre d'Eglantine, dem Unbestechlichen, dem patrio- tischen Alcest, dem Bukoliker des ,, republikanischen Kalen- ders", dem Taugenichts, der das reizende Lied „II pleut, il DIE UMSTÜRZLER 105 pleut, bergere" geträllert hat. Saint-Just ist keusch, empfind- licher als ein Weib. Sein Verhältnis mit Fräulein Henriette Le Bas, die er in Züchten heiraten sollte, geht auseinander, als er entdeckt, daß seine Braut schnupft. Nur dann ver- zerrt diesen sanften Mund eines Antinous, der zu küssen sich sträubt, die Leidenschaft, wenn er die Nationalversammlung zur Rache entbietet. Wenn es Louis Capet gilt, auf den jeder Franzose das Recht des Brutus hat, wenn es dem Hause Österreich gilt oder Danton, dem Verräter. Hektische Glut färbt seine Wangen. Die Phrase von den ,, reinen Händen" ist ihm geweiht. Er vertraut seiner himmlischen Sendung, die Schuldigen zu „demaskieren". Mädchenhaft, traurig, von Licht Übergossen steht er auf dem Karren, der ihn nach La Greve bringt. Nichts läßt sich denken, das ebenso rein, ebenso ideal wäre. Aber ihm ähneln die Erzengel der Revolution von 1850. Ihr riesiger Chorege ist der Hegelianer Bakunin, der die „schaffende Lust der Zerstörung" an den Kunstschätzen des Dresdner Zwingers auslassen wollte. „Was Häuser I" rief dieses träumerische Kind aus, „mögen sie in die Luft fliegen." So lodert auch in Herzen der Fanatismus, in die- sem natürlichen Sohn des Fürstes Jakowleff und einer Deut- schen, dem „Gottesgesandten", den während des Exils, in Schnee und Dunkel, die Liebe einer Kusine Natalie aufrecht- hielt. Dann riß es ihn fort zu seiner revolutionären Mission, dann gab er seine Ehe der „Sache" preis: „Haben wir uns wirklich von allem in der Welt befreit, von Gott und Teufel, vom römischen Recht und vom Polizeirecht, um uns schlicht wie Herakles zu Omphales Füßen zu legen?" Man beachte die Mystik in Mazzini, dem Lateiner, an den Giuditta und Madeleine sich klammern, dem Verschwörer, den nach dem Jenseits dürstete. Und man steige in den mystischen Hexen- kessel der „Dämonen" hinab. 106 DIE UMSTÜRZLER Die Revolutionärin. Vielfach ist geschrieben worden, sie sei in ihrem Wonne- mond eine Dirne gewesen und die Göttin der Vernunft eine „Kurtisane". Aber es scheint, daß die Kurtisanen sehr prüde waren. Dasselbe Fräulein Maillard von der Oper, das sich die rote Jakobinermütze auf die Locken drückte, hat, die Beine in Männerhosen, das Bois de Boulogne bewacht und mit einem Offizier die Klinge gekreuzt, weil ihn die For- men einer Passantin verwirrten. Theroigne de Mericourt, die streitbare Terwagne aus Lüttich, die nicht bloß durch den Bastillensturm berühmt ist (an dem sie keinen Teil hatte), war zwar eine „fille entretenue", doch sie ,, übertrieb die Reserve ihres Geschlechts, und sogar die harmlosesten Scherze machten sie erröten". Wie in einer Strindbergischen Ehe redeten die Frauen der Freiheit, die ins Geäst der Bürgereiche die Myrten der Liebe schlangen, und ihre Gatten sich Bruder und Schwester an. Diese Damen waren Hel- dinnen der Feder (wie Olympe de Gouges) und Heldinnen in den Konventikeln. Sie prügelten ihre Genossinnen, die sich des Männerkostüms weigerten. Sie waren, mochten sie auch dem Priap im Grunde freundlich sein, aus Überzeugung geschlechtslos, und selbst die Bürgerin Tallien, die Amazone im blauen Kaschmirkleid, mit der hohen, festen Brust, haßte als Freundin der Verfassung (noch nicht des Barras, noch nicht ,,Notre Dame de Thermidore", noch nicht ,,Notre Dame de Bon Secours") die Sybariten. Die Umstürzlerinnen im Frankreich der Bourgeois hat George Sand, die Frau von Nohant und Dichterin der „Indiana", angeführt. Spitz und schrill flackert ihre Stimme in Louise Michel fort, dieser in die Luft der politischen Kneipen verschlagenen Sand, die mit ihrer Gevatterin das Ressentiment der unehelichen Ge- burt gemein hat, die versetzte Mütterlichkeit, den geistigen Hochmut, die Symptome der seelischen Erkrankung. Sie DIE UMSTÜRZLER 107 wähnt, in Notzucht gezeugt zu sein und das persönHche Brandmal der sinnhchen Schande als Märtyrerin der Mensch- heit tilgen zu müssen. Hager, häßlich geht sie in einem alten, schwarzen Rock, eine rote Rose baumelt ihr um den Scheitel. In Neukaledonien büßt sie, die „Parlotte", die Petroleuse, alle Insignien des Geschlechts ein, sie wird die knochige „Vierge rouge". Sie verschenkt ihre Nahrung, ihre Schuhe, ihre Strümpfe. Als Montegut ihr neue Garderobe kauft, verschenkt sie auch diese Bazar-Erwerbung, weil die verwaschenen Lumpen revolutionärer sind. Sie hockt in einem Loch in Levallois und löffelt mit Bettlern die Suppe aus. Dann erfaßt sie, da die Gesellschaft Psychose als Ver- brechen bestraft, Angst vor der Zelle. Sie flieht zu Krapotkin nach London, mit ihrem Hunde Cesar und ihrem ekligen Papagei, den sie gelehrt hat, Constans zu beschimpfen und „Vive la Republique" zu kreischen. Bis zu ihrem Sterbejahr haust sie mit den Katzen, die sie als „La Mere aux chats" von allen Straßen mitzunehmen pflegt. Bis zu ihrem Sterbejahr ist sie, die wütende Communarde, ist ,, Lärme ä-l'oeil" die besessene Heilige der Frauenrevolution. Sie hat nur eine bürgerliche Attrappe hinterlassen, die Journalistin Madame Severine, die Schülerin des Communards Jules Valles, die Christus auf Golgatha das erste sozialistische Plakat nennt, „Notre Dame de Germinal" in der dreyfusianischen Sage. Erst die russischen Umstürzlerinnen haben das Beispiel der Bettlerin aus Haute -Marne vollendet. Ihr Revolutions- trieb ist der Atrophie der Sexualität entsprossen, die jetzt Artzibaschew durch sein papiernes Traktat kurieren will. Unterernährt sind die Nihilistinnen, die fiktive Heiraten mit fremden Studenten eingehen, um nach der Schweiz vorzu- dringen, die in den Baumwollfabriken von Moskau agitieren oder von den Matrosen in Kronstadt sich entjungfern lassen, um als Bordellmädchen sie für die Revolution zu gewinnen. 108 DIE UMSTÜRZLER Unterernährt ist die „Nihilistin" der Kowalewska, sind die Sassulitsch, Perowskaja und Larionow, die blassen jungen Damen mit den Revolvern, samt ihrer blassen Schwester Tatjana Leontjew, die in ihrem Arbeitskörbchen Sprengstoffe verbarg und zu Interlaken den gesunden, dicken, roten Herrn Charles Müller an der besonnten Hoteltafel tötete. Weiche, zapplige Nagetierchen sind diese Umstürzlerinnen, wie Pologne, das grauseidene Kaninchen von Zolas russi- schem Mechaniker Suwarin, der Zigaretten dreht, mit weißen Augen ins Leere sieht und von Mord und Brand faselt. Und wie Pologne werden sie hingeschlachtet. Sie sind die Revolutionäre mit zitterndem Gewissen, die Revolutionäre aus Dummheit, aus Erschöpfung. In ihnen schluchzt die Hysterie des Christentums, dessen neue Dogmatik man Robespierre verdankt, und sie sterben nur mit dem bohrenden Schmerz, dem fressenden Leiden. Der Opiumesser. In Edinburg verschied am 8. Dezember 1859 Thomas de Quincey. Er war Polyhistor, Nationalökonom, geschulter Hellenist und eine Art von Dichter gewesen. Lange Zeit war seine Figur nur unter dem verstaubten Anhang der „See- schule", der Coleridge, Wordsworth, Southey und Charles Lamb, den Forschern bekannt. Aber durch die „Bekennt- nisse eines englischen Opiumessers" ist er unsterblich ge- worden, und Baudelaire hat in den „Paradis artificiels" ihn enthusiastisch gepriesen. Sein Lebensschicksal war grau in grau. Es ließ ihn, der ein weichherziger Sucher des Ideals war, in der Mittelmäßig- keit enden. Er stammte aus einer wohlhabenden Familie, lief mit sechszehn Jahren fort und wäre beinahe unterge- gangen. Nach Studien in Oxford büßte er sein Vermögen ein, von dem er einen Teil dem verehrten Coleridge schenkte. Ähnlich wie Poe wurde er in der Welt der Zeitungen und Zeitschriften herumgestoßen; denn wie der große Amerikaner besaß er nicht die Gabe, ein „raoneymaking author" zu sein. Als Redakteur eines provinziellen Toryblatts ,,The West- moreland Gazette" hatte er den Einfall, dem Publikum in einer besonderen Veröffentlichung mitzuteilen, daß er von jetzt ab statt der politischen und vermischten Nachrichten nur Mordprozesse bringen werde. Später zog er mit seiner Frau von London nach Edinburg und schloß seinen Berui als Mitarbeiter des dort erscheinenden „Blackwood's Maga- zine" ab. Bereits hier muß gesagt werden, daß er im Jahre 1804, während der ersten Tage eines Londoner Aufenthalts, dem Genuß des Opiums verfiel. Er wandte dieses Mittel zunächst gegen Zahnschmerz an und nahm es, wenn man seinen Versicherungen glauben darf, bis 1812 in geringen Dosen. Im Jahre 1813 suchte ihn, als er das Studium auf- 110 DER OPIUMESSER gegeben hatte, eine qualvolle, durch die Leiden und den Hunger seiner Jugend verursachte Magenerkrankung heim, die ihn zu gesteigertem Opiumverbrauch antrieb. Seine Ge- sundheit wurde gänzlich zerstört. Es gelang ihm, wie er pathetisch schreibt, „die verfluchte Kette, die mich hält, Ring für Ring bis zum letzten Glied zu sprengen". Jedoch er selbst bezeugt, daß er nachher „in einer dritten Anbetung des schwarzen Götzen" gesündigt habe. Auch erklärt er in seinem Buche ,,Murder as a fine art", sein Stil sei liederlich, und er könne ihn nicht verbessern, so wenig Herrschaft habe er über die betrübenden Erregungen seines haltlosen Nervensystems. Der scharfsinnige Bewunderer Ricardos und Verfasser der gegen Malthus gerichteten „Logik der poli- tischen Ökonomie" war ein geistiges Wrack. Aber aus den Prüfungen ging etwas wie ein poetisches Wunder hervor. Seltsam zwar, wie auch dieses „Kind der Nacht und des Todes" in seinen romantischen Ausschweifungen bis zuletzt ein Engländer geblieben ist. Bis zuletzt redet er in seinen Schriften manchmal wie ein pedantischer Schulmeister. Gleich im Anfang seiner „Confessions" bringt er den mora- lischen Vorurteilen den notwendigen Tribut dar, indem er sich von der Bekenntnisliteratur der zweifelhaften Damen, der Schwindler und Abenteurer beflissen absondert. Er wählt in der gutartigen Heuchelei des Geschwächten für seine Beichte den Titel einer Selbstanklage. Nirgends entzieht er sich den theologischen Begriffen, preist mit Überschwang den Frieden der Natur und der unschuldigen Kreaturen Gottes, schwelgt quietistisch in dem Weh und Ach der dem Höchsten entfremdeten Menschheit und spricht von einem kindlichen Glauben, der an den Sabbaten mit leichten Schrit- ten aus den kummerbeladenen irdischen Tälern zu Gottes Füßen hinaufsteige. Er prunkt mit seiner Wissenschaft vom Altertum und zitiert die in England unvermeidliche, haus- DER OPIUMESSER 111 backene Weisheit des Doktors Johnson. Die britische Senti- mentahtät schleicht sich ein. Sie zaubert in das Gemach des Schülers das umrahmte Bild eines anmutigen Mädchens, das er wie eine heihge Patronin küßt. Sie macht aus einer jugendlichen, frierenden Straßendirne, der sich der Heimat- lose in der Oxfordstreet beigesellt, und die ihn für den Schutz gegen den Ring der Polizisten durch ein Glas ge- würzten Portweins entlohnt, eine reine Freundin. Sie bettet den Gealterten in Behaglichkeitsträume, zu deren Ergänzung er nur noch um warme Kaminvorleger, zwei Tassen und Untertassen, eine unerschöpfliche Teekanne und ein lieb- reizendes Weibchen mit den Armen der Aurora und dem Lächeln der Hebe petitioniert. Aber diese Laterna magica verzerrt sich. Der Stuben- hocker entpuppt sich als ein gequälter, friedloser Mensch. Der weitschweifige, träge Humorist, der im Gedanken an seinen wohl längst von Motten zerfressenen Universitätstalar rückblickend sich über die Kupfernase des Pedells belustigte, wird bissig und höhnt. Er schlägt sich zur Partei der Dichter, die seit der Erschaffung der Erde von den Geheim- nissen der Seele mehr verstanden hätten als die Professoren, beschuldigt die Ärzte der Unmenschlichkeit und nimmt die Würde eines Philosophen für sich in Anspruch. Er versucht sich auf den Spuren Swifts, in demokratischen Satiren. Die misera plebs nimmt er gegen den Hochmut der Bischofs- haushälterinnen in Schutz. Auf den Märkten Londons streift er umher, das Murren oder die Genugtuung zu belauschen, die Teuerung oder Billigkeit der Nahrungsmittel bei den kleinen Leuten erweckt, irrt durch das Viertel der Armen, beharrlicher als ein Gepäckträger oder Droschkenkutscher, an Kreuzungen oder Sackgassen vorbei. Er fürchtet sich vor der „Roheit" der Gesellschaftsinstitutionen. Die Ereignisse seiner Knabenjahre wirken nach. Ein Kind mit einem Kinde, 112 DER OPIUMESSER hat er damals im Zimmer eines Wucherers geschlafen, unter Sofafetzen und einem schlechten Plaid geborgen. Tags kauerte er irgendwo im Parke. Er war außerstande, Tränen zu ver- gießen, wie einer, der voreilig in die Dinge hineingesehen hat. Aber er weinte, wenn er die Drehorgel hörte und der verlorenen Ann gedachte. So ließ er sich allmählich von der Sklaverei des Opiums fesseln. Nicht interessiert, daß er dieses Betäubungsmittel nahm, sondern wie es ihn spiritualisierte. Englische Unter- staatssekretäre und Kirchenbeamte, doch auch die Fabrik- arbeiter von Manchester nennt er als Adepten der Sekte, er ist vorsichtig, er ist lehrhaft. Und dennoch klingt aus seinem Buche der Ton einer ,,candeur tragique", die mit der Un- mittelbarkeit datierter und undatierter Notizenzettel sich preisgibt. In der Schule des Ungemachs war seine Frau um ihn; sie wusch ihm den Nachtschweiß von der Stirn. Aber die Krankheit ließ ihn nicht los. Die Entziehungskur, die er einmal durchzuführen trachtete, vermehrte seine Pein, kraftlos mußte er seine spekulativen und mathematischen Entwürfe unterbrechen. Das Abschicken eines Briefes wurde ihm zur Unmöglichkeit. Er war, nach seiner lauten Klage, wie einer, der ans Bett gebannt ist, indes man den Gegen- stand seiner zärtlichsten Liebe beleidigt oder mißhandelt. Das furchtbare: Zu spät! zermalmte ihn. Sein inneres Schauen hob mit einem bangen Hindämmern an, wo er von den Wogen der Musik getragen wurde und in süßen Chören alle Leidenschaften sich ihm vergöltlichten, wo er die Nächte am offenen Fenster saß und auf den von sanfter Ruhe überstrahlten Ozean vor Liverpool starrte. Je- doch das, wie er witzelnd feststellte, für einen Penny käuf- liche, in der Westentasche transportable, mit der Post in Paketen versendbare Glück Opium hat ihm zu weit Besserem gedient. Er rühmte es ^Is den gerechten, erfinderischen DER OPIUMESSER 113 Balsam, der von den Händen das vergossene Blut wasche, als die Erbauerin von Städten und Tempeln, die über die Kunst des Phidias, des Praxiteles, über die Pracht von Babylon und Hekatompylos erhaben seien, als die Besitzerin der Schlüssel des Paradieses. So goldene Akkorde erbrausten in ihm, so überirdische Gnaden trösteten seine Jämmerlich- keit. De Quincey hatte stumpfe Träume gehabt wie alle Spätlinge aus dem Jahrhundert der politischen und physi- kalischen Umwälzungen, das zum Schmerze dieses Tiefen in seiner Traumfähigkeit gestört war und das Hirn der Menschen der Eifersucht von Geisterwesen überantwortete, die — wie er sagt — es mit Wahnsinn oder fleischlichem Stumpfsinn schlügen und nur durch den Anzug neuer, zen- trifugaler, religiöser und philosophischer Faktoren bekämpft werden könnten. Seit seiner Isolierung aber war er von Transcendenz umringt. Der Weg zum Jenseits öffnete sich ihm wieder. Die Wirklichkeiten wurden in seinen Träumen verdoppelt, ihre schwachen Farben brannten in diesem Glut- ofen wie Schriftzüge in sympathetischer Tinte. Eine unge- heure Angst überwältigte ihn. Die Empfindung des Raumes und der Zeit ging ihm abhanden, Landschaften schwollen ins Riesige, Stunden in Ewigkeiten. Das Verschüttete wurde aufgefrischt, die Seele erneuerte sich wie ein Palimpsest, von dessen Schichten eine griechische Tragödie, eine Mönchssage und ein Ritterroman gleichzeitig zu lesen sind. Von da an schlägt das Kostbare um in das Grauenhafte. De Quincey hat gebeichtet, wie die „Tyrannei des menschlichen Ant- litzes" ihn erschreckte; auf zerklüfteten Wassern schwammen Myriaden flehender, wutentbrannter Gesichter. Ein gelblich- grüner Malaye, der durch Zufall, ein Almosen erbettelnd, seine Hütte passierte, suchte ihn allnächtlich heim, bevöl- kerte seine Träume mit den Gefühlsassoziationen der süd- asiatischen Mythologien, mit tropischen Bäumen und Tieren, 114 DER OPIUMESSER mit der Scheußlichkeit unzähliger Krokodile, martervollen Verunstaltungen dessen, was ihm das Heiligste war, des Ge- dächtnisses an die kleine Ann und die Promenaden im gelben Laternenschein der Oxfordstreet, so daß er mit dem Schrei: „Ich will nicht mehr schlafen!" wie ein Halbver- rückter erwachte. Nur ein künstliches Echo solcher Verheerungen ist der Inhalt seines späteren Werkes „Suspiria de profundis", das eine grandiose Traumfuge ,,The English Mail -Coach" ent- hält. Hier wird die Spirallinie seines Gedankens archi- tektonisch. Aus dem Nebelspuk des Brockens und der ver- schollenen Stadt Savannah-la-Mar tritt in feierlichen Umrissen das Traumsymbol der römischen Göttin Levana und der drei Madonnen, der Mutter der Tränen, der Seufzer und der Finsternisse, die das Herz des Neugeborenen quälen, um seinem Geist Vollkommenheit zu verleihen. Noch einmal hat die „candeur tragique" das Wort, der Dulder und Ge- zeichnete, der Paria, der im Bann der Illusionen sein Schle- mihltum vergaß. In „On Murder as a fine Art" ist er ein anderer. Der Unterdrückte geberdet sich kriminell, der Zaghafte ruchlos. Diese aus Journalartikeln zusammengestoppelte Essayreihe hat keine entschuldigende Vorrede. Nicht Früchte ratio- nalistischer Bildung im Geschmack von The Idler and The Rambler werden mehr gereicht. Das Lob des Mordes wird gesungen, die Taten eines Familienschlächters werden als Iliade, die von einem nachstrebenden Brüderpaar besorgten Kopien als Äneide glorifiziert. Der mächtige Ersinner von „Gullivers Travels", der ehedem als Turm in der Ferne ragte, ist jetzt de Quinceys leibhaftiger Patron. Er beruft sich für sein Unterfangen auf Swifts Vorschlag, der Hungers- not des irischen Proletariats durch Mästung der zarten Kind- lein zu steuern, und wagt die Fiktion eines Liebhaberbundes» DER OPIUMESSER 115 worin Gentlemen von London über die Mordtaten diskutieren und sie nach den Regeln akademischer Kunsttheorien ab- schätzen. Ein Raffinement der Brutahtät wird gezeigt. Duld- sam tadelt de Quincey den Mord als eine unpassende, im höchsten Grade unpassende Linie des Benehmens. Er stellt ihn als etwas Ungefährliches hin, weil er lediglich die Vor- stufe zum Diebstahl sei; aber er führe zu den infamsten Ausschreitungen der Trunksucht, der Sabbatübertretung, der Unhöflichkeit und Geschäftsverschleppung. Er empfiehlt ihn als philanthropisch; denn nach Marc Aurel sei die Kennt- nis des richtigen Todesmomentes eines der edelsten Güter. Das Kriminalregister wird zum Quell der Genüsse, die sonst Bildsäulen, Gemälde, Oratorien und Kameen bieten. Für den Mord wird das dramaturgische Verlangen einer Läute- rung durch Furcht und Mitleid erhoben. Wie in einer An- gelegenheit der Lyrik werden Coleridge, Wordsworth,Southey und stürmische Verse Shelleys ein Zeugnis zu verkünden gezwungen. Skizze, Gruppierung, Licht und Schatten, Poesie und Empfindung sollen wesentliche Momente sein. Ein Kanon legt genaue Vorschriften des Taktes auf. Er will, daß das Opfer nicht im öffentlichen Leben stehe, daß es gesund sei, damit die barbarische Hinmetzelung eines Kranken in Wegfall komme, daß es Kinder habe, damit das Pathetische des Aktes vertieft werde. Das Halsabschneiden wird wie eine griechische Tragödie in Chor und Gegenchor, Strophe und Antistrophe angeordnet. Zuweilen verirren sich diese Roues der Sensibilität über die schmale Brücke des Vor- satzes ins Land der Tat. Sie gehen auf den Kontinent, prak- tizieren ein wenig und töten nach hitziger Boxerei etwa einen Mannheimer Bäcker, um ihr seelisches Gleichgewicht wiederzufinden. Das Dokument „On Murder as a fine Art" hat sehr öde Partien. Aber der Griffel de Quinceys schafft groteske Schil- 116 DER OPIUMESSER derungen, die das Buch vor einem Übermaß des Langweili- gen bewahren. Er setzt um die Klubtafel greise Amateure des Mordes, die den Erinnerungen an entschwundene Zeiten nachhängen und die Verbrechen der Neueren als ungefüge, ehestens der Rauheit eines Dürer oder Füseli ebenbürtige Plagiate beschimpfen. Einen Großmeister mit dem Spitz- namen „Kröte im Loch" stellt er hin, der wie ein finsterer laudator temporis acti umhergeht, jedoch nach einigen Mas- senmorden eine Renaissance, ein zweites Zeitalter Leos des Zehnten proklamiert, mit himmlischem Lächeln bei einem Freudendiner der Gilde sitzt und, als die Orgie ihren Gipfel- punkt erreicht hat, in Tobsuchtskrämpfen des Morddurstes hinausgeführt wird. Abseits von diesen Szenen ist in fahler Beleuchtung die Maske des Verbrechers Williams zu sehen. Aus dem Prozeßmaterial rekonstruiert der einstige Spalten- füller der „Westmoreland Gazette" Thomas de Quincey die Greuel dieses Epikuräers, der den Säugling in der Wiege aufweckte, bevor er ihm den Schädel zertrümmerte. Diese Gottesgeißel, dieser häusliche Attila mit dem gelbgefärbten Haar und den kreidigen Mienen, der stets in Escarpins, niemals im trivialen Schlafrock ans Werk geht, ist ein Popanz der unteren Romantik und die harmlose Beschäfti- gung eines stillvergnügten Bücherwurms. Aber„On Murder" hat Oscar Wilde angeregt und jenes Kapitel der „Intentions" über den Giftmischer und Kunstkenner Wainwright. Sankt Helena. Auf zwei Chasse-Marees, kleinen Fahrzeugen, die jeder Sturm zerbrechen muß, will er von Rochefort aus die Überfahrt nach Amerika erzwingen. Zu seinem Gefolge redet er von den Ufern des Mississippi, wo er unter Feigenbäumen als Bürger des freien Amerika sein Leben beschließen werde. Sechzehn Fähnriche erbieten sich, die Nußschalen im Dunkel der Nacht aus dem Hafen zu lassen. Dann jedoch sieht der Kaiser die Unmöglichkeit ein. Vor der Küste Frankreichs segeln die englischen WachtschifFe , im Vortop die weiße Flagge der Bourbonen, im Großtop die Flagge der heiligen Allianz. Die Pulverwolken aus ihren Geschützen wälzen sich über die grüngrauen Fluten. Dem Ufer zunächst kreuzt der „Bellerophon", ein alter, schwarzer Kasten. Zweimal schickt Napoleon Unterhändler an Bord, um Freigabe der Passage zu erbitten, Savary, den Herzog von Rovigo, den Polizeiminister, und in der Uniform eines Marineoffiziers den Grafen de Las Gases, den hageren Emigranten. Alles, was Maitland, der Kapitän des „Bellerophon", zugesteht, ist Aufnahme des Kaisers und Überführung nach England. Am Abend diktiert Napoleon den Brief an den englischen Prinz- regenten. Der General Gourgaud, sein Adjutant, gibt das Schreiben auf dem „Bellerophon" ab. In der Helligkeit des nächsten Morgens erwartet Maitlands Schiff die große Beute. Eine Barkasse geht nieder, den Kaiser vom „Epervier" abzuholen. Auf dem Achterdeck des „Bellero- phon" sind die Seesoldaten aufgestellt, und indessen die Bar- kasse längsseits kommt, zerrt ein junger Midshipman unter lautem Hallo dem Bootsmann ein Stück seines Backenbarts aus, zum Andenken an die historische Stunde. „Haben Sie ihn?" ruft Maitland den ersten Offizier an, der das Fallreep emporklettert. Ihm folgen Savary und Graf Bertrand, der 8 118 SANKT HELENA Großmarschall des kaiserlichen Palastes, und dann Napoleon selbst, in langem, grünem, bis an das Kinn zugeknöpftem Rock, mit Dreispitz und hohen Stiefeln, ohne Waffe, jedem Blick bekannt und jedem fremd. Vor dem Kapitän verbeugt er sich leicht, spricht einige französische Worte, prüft lächelnd die Offiziere und begibt sich mit ungleichen Schritten auf die Kajüte zu. Er ist dick und keine sechs Fuß groß. Sein tiefschwarzes Haar ist kurz geschnitten, lange Brauen be- schatten seine Augen. Hinter ihm eilen außer Savary, Bertrand, Las Gases und Gourgaud die Adjutanten Marquis de Montholon und L'Allemand, die Gräfinnen Bertrand und Montholon und vier Kinder. Sobald der Zug in den Offiziers- kamraern verschwunden ist, löst sich die Spannung. Um sechs Uhr abends und am Vormittag zeigt Napoleon sich an Deck. Er trägt nun weiße Hosen, seidene Strümpfe mit goldenen Schnallen, eine grüne Uniform mit roten Auf- schlägen, Stern und Kreuz der Ehrenlegion. Die Sonne von Austerlitz strahlt herab. Er ist gut gelaunt. Einen vorwitzigen Fähnrich kneift er ins Ohr. Er scherzt mit der hochge- wachsenen Gräfin Bertrand und ihren Kindern, zu deren Schutz die Matrosen die Pfosten mit Tauwerk verstricken. Vom „Süperb" erscheint Admiral Hotham an Bord des glücklicheren ,, Bellerophon", um sich bei dessen Gast zu melden. Er setzt den Hut nicht wieder auf, solange er mit dem Kaiser spricht. Napoleon stattet dem ,, Süperb" einen Besuch ab. Er prüft die Front der Ehrenwache und richtet das Bajonett eines Mannes im ersten, das Gewehr eines im zweiten Gliede. Am Nachmittag nimmt der „Bellerophon", durch den ,,Slaney" angekündigt, den Kurs nach England. Eine Woche dauert, bei flauem Wind und völliger Wind- stille, die Segelfahrt. Zumeist ist Napoleon sichtbar. Die rechte Hand schiebt er in Weste oder Hosentasche, mit der linken hält er die goldene Tabatiere, in die vier römische SANKT HELENA 119 Münzen eingelassen sind. Gleichgültig beachtet er den Him- mel. Einmal murmelt er: „II faut avoir patience." Das Diner wird unten serviert, auf silbernen Schüsseln. Um neun Uhr legt Napoleon sich zu Bett, auch an einem Abend, wo die jungen Offiziere ein Theaterstück mit männlichen und weiblichen Rollen zum besten geben; er lacht, doch nach dem dritten Akt zieht er sich zurück. An dem Tage, da Kap Ushant am Horizont auftauchen soll, betritt er schon nach Sonnenaufgang das platschnasse Deck. Von einem Midshipman gestützt, setzt er sich auf die Gleitschiene einer Lafette. Sieben Stunden späht er durch das Fernrohr nach dem letzten, winzigen Fleck des Landes, dessen Ruhm er gewesen ist; dann fällt er mit schwer hangendem Kopf dem Marschall Bertrand in die Arme. Bei Tisch erzählt er von Abukir und den ägyptischen Schlachten. An einem Montag fährt der „Bellerophon" in die Tor-Bay ein. In aller Hast wird der erste Offizier nach Plymouth entsendet. Das Schiff ankert noch innerhalb der Außenmole. Lungernde Schul- knaben in einem Boot fangen eine schwarze Flasche auf, die ihnen ein Matrose zuschleudert. Der Korken riecht nach Schnaps, und drinnen steckt ein gerollter Zettel mit der Aufschrift: „Wir haben Bonaparte an Bord." In fünf Mi- nuten weiß es ganz Plymouth. Orkanartig schwillt der Lärm. Der Sund füllt sich mit Booten. Musikanten spielen französische Melodien, um „Boney" hervorzulocken. Klein und dick steht er auf der Heckgalerie, in roter Uniform, mit goldenen Epauletten, weißer Weste und weißen Hosen und nimmt, während auch die Schiffsoffiziere das Haupt ent- blößen, den mit einer Kokarde verzierten Dreispitz ab. Das Publikum schreit: „Hooray!" Wenn Napoleon unten ist, hängen die Matrosen eine Tafel aus: „Er ist beim Frühstück!" Plötzlich werden die Wachen verdoppelt. Drei Kanonen- boote und Fregatten lagern sich hinter den „Bellerophon". 8* 120 SANKT HELENA Unsicher erst, dann immer bestimmter heißt es, daß an Maitland scharfe Ordres gekommen sind. Sein Gast ist hin- fort der kriegsgefangene General Bonaparte. In den Zeitun- gen von London und Plymouth liest man, Napoleon werde auf die Insel Sankt Helena, fern im südlichen Weltmeer, verbannt werden. Die Gräfin Bertrand hinterbringt dem Kaiser die Neuigkeit. Er fährt zusammen, dann weigert er sich mit starrem Trotz. Am letzten Juli verkünden der Admiral Lord Keith und Sir Herbert Bunbury ihm offiziell das Urteil. Bleich, ohne Hut, ungepflegt, wandelt er auf und ab. In hysterischer Raserei wirft die Gräfin Bertrand sich ihm zu Füßen; nur Bertrand und Montholon hindern sie, sich aus einem Fenster des Zwischendecks herabzustürzen, und nachts hat sie Fieberphantasien. Von Keiths Flagg- schiö", dem „Tonnant", wird der „Bellerophon" nach Berry- Head gebracht. Nochmals heischt Lord Keith bei Napoleon Einlaß. Da Savary Drohungen ausstößt, werden den Fran- zosen Degen und Pistolen, deren Kolben mit einem großen silbernen ,,N" geschmückt sind, genommen. Drei Degen sind Napoleons persönliches Eigentum; bei Marengo und Austerlitz hat er sie getragen. Der Gefangene und sein Troß werden auf die „Northum- berland" überführt, die nach Sankt Helena zu segeln be- stimmt ist. Nervös harrt der Admiral Cockburn. Endlich ist Napoleon da. Sein Anzug ist vernachlässigt, seine Haut grau und schwammig. Er verabschiedet sich von Maitland — er will reden, vermag es nicht — und von Savary und L'Allemand, die ihn nicht begleiten. Den Matrosen des „Bellerophon" nickt er zu. Piontkowski, ein polnischer Offizier, der um die Erlaubnis gebeten hat, als Diener mit- zureisen, und abgewiesen worden ist, rennt droben sinnlos umher. Als Arzt Bonapartes geht O'Meara, der Ire, statt des seekranken Leibarztes an Bord der ,,Northumberland". Vier- "S SANKT HELENA 121 tausend goldene Napoleons, die in der Schatulle des Kaisers sich finden, werden bis auf zweihundert mit Beschlag be- legt; man läßt ihm sein silbernes Eßgeschirr mit den ägyp- tischen Landschaften und den Türkenporträts, seine goldenen Messer, Gabeln und LöflFel, seine kleine Bibliothek und seine Garderobe. Zehn Wochen wahrt „Boney" das Gesicht. Er plaudert mit einigen Engländern, am liebsten mit dem Schiffsarzt Warden, und er bittet sogar die Kapelle, „God save the king" und „Rule Britannia" zu spielen. Im übrigen verfällt er in den langen Schlummer dessen, der nichts mehr zu hoffen hat. Man hört, daß er in Unterredungen mit Vertrauten den Selbstmord als eine feige Flucht aus dem Leben ablehnt. Bei der Admiralstafel, an der Bertrand Platz haben, seine Gemahlin, Montholon und Las Gases, spricht er mit Cock- burn über Rußland, den russischen Winter und Moskau, als ob er nur ein Schauspieler und nicht der Autor des Dramas gewesen sei. Dazu ißt er mit Appetit. Beim Fisch und beim Fleisch gebraucht er die Finger; ein Becher Rotwein mit Wasser ist sein Tafelgetränk. Der Farbgeruch an Bord ver- ursacht ihm Kopfschmerzen. Schlaflos geht er bei Mond- schein an Deck spazieren und erzählt von den Mamelucken, den tapfersten Reitern. Am Abend eines Oktobertages sieht man in einem Licht- kreis, den die untergehende Sonne zieht, das Eiland, und nach kurzer Nacht steigen im Dämmerlicht seine schwarzen Felsen auf. Die Franzosen haben sich versammelt: das Ehepaar Bertrand, das Ehepaar Montholon, Las Gases, der sich auf seinen Sohn lehnt, um über die Reeling schauen zu können, Gourgaud, der befangen lächelt, und offenen Mun- des die Dienstboten. Eine volle Stunde später erscheint Napoleon. Mit seinem Fernglas prüft er die Kanonen auf den Höhen. Dann verspottet er die weinende Bertrand, die 122 SANKT HELENA sehr elegante Strümpfe angezogen hat. Nach Sonnenunter- gang, als die Stadtbewohner verschwunden sind, siedelt er in das Haus des Lieutenant- Governors über. Am Morgen reitet er mit Cockburn durch die Berge nach dem Landgut des Kaufmanns Balcombe, das über gähnenden Tiefen auf einem Felsen liegt. In einem gotischen Häuschen wohnt er, bis die Umbauten in Longwood fertig sind. Mit seinen schweren Soldatenstiefeln klettert er über die von Feigen- büschen eingefaßten Pfade und das prasselnde Geröll. Tupelo- bäume mit blaugrünem Laub, die wie alte Sonnenschirme aussehen, sind die Vegetation der Insel. Kanarienvögel, Amadavats und japanische Spatzen mit rotem Schnabel sitzen in den Wipfeln. Auch Rebhühner flattern herum, die von den Kolonisten hergebracht worden sind, Goldfasane werden gezüchtet und Pfaue. Die Regenzeit naht. Um die Mitte Dezember ist der Pavillon für den General Bonaparte geflickt. Er hat vier Zimmer und ein Warmwasserbad da- bei. Es sind niedrige, mit Erdharzpappe gedeckte Räume, über deren Bohlen die Ratten laufen, und deren Mauern aus Lehm und Stroh sind. Las Gases und Gourgaud wohnen in Holzschuppen, die Bertrands in Hutsgate, eine Meile ent- fernt. Ein einziger Gummibaum ist vor Napoleons Haus. Und langsam gewöhnt sich der Kaiser, seit er bei jedem Ritt von englischen Offizieren verfolgt wird und eine doppelte Postenkette ihn umringt, sein Gefängnis nicht mehr zu ver- lassen. Im April wird Cockburn abgelöst. Auf der Fregatte „Phaeton" trifi't Sir Hudwon Lowe ein, der Ersatzmann. Da Cockburn ihm geraten hat, sich für morgens um neun Uhr in Longwood anzumelden, richtet er sich danach und geht hin. Der Gefangene schlägt den Besuch des neuen Gouver- neurs aus und läßt antworten, er sei krank. Umsonst rennt Hudson Lowe bei Sturm und Regen zwanzigmal vor Napo- SANKT HELENA 123 leons Fenster auf und nieder. Er beschließt, sich zu rächen. Nicht mehr als Figuranten sind die Vertreter der Großmächte, die im Juni kommen, der österreichische Baron Stürmer, den ein Botaniker begleitet, der Marquis de Montchenu, ein Geck in Lackschuhen, der den Frauen und Mädchen nachstellt, und der Schotte Baimoral, der russische Kommissionär, der ein fatales Abenteuer hat und nach Rio de Janeiro segelt. Aber solange die Diplomaten da sind, ist Sir Hudson Lowe bemüht, dem General die Verbindung mit ihnen zu nehmen. Las Gases, dem Napoleon, mit Büchern und mit seinem Degen die Landkarten auf den Dielen festlegend, die Geschichte seiner Siege zu diktieren angefangen hat, wird wegen ver- räterischer Korrespondenz verhaftet und samt seinem Sohn nach der Kapkolonie transportiert. O'Meara, der Arzt, wird, weil er bestätigt, der Kaiser sei leberkrank, des Amtes ent- hoben und nach England geschickt; in Kistchen mit dop- peltem Boden schmuggelt er seine Notizen hinüber. Auch Gourgaud geht, und wie er, so rettet sich Frau von Montho- lon. Die Bücher für Napoleon, die die Fregatte „Newcastle" auslädt, werden von den Engländern vierzehn Tage den Ratten preisgegeben. Der Oberkanonier des „Baring" gibt eine Büste des Königs von Rom ab, die ein Bildhauer in Livorno für hundert zu zahlende Guineen angefertigt hat. Vierzehn Tage zögert der Gouverneur, ihre Aushändigung zu gestatten. Nicht anders verfährt er mit den aus Indien abgesandten Geschenken des Hauptmanns Elphinstone, einem Schachspiel, zwei Körben und Spielmarken aus Elfen- bein, weil er überall die kaiserliche Krone und das „N" findet. Er kargt mit Fleisch, Geflügel, Holz und Kohlen für den Haushalt des Verbannten, der wütend wird, so oft ihm der Name seines Peinigers ans Ohr dringt. Als die Gräfin von Loudoun in Plantation-House zu Gast ist und Napoleon beim Diner zu sehen wünscht, sendet Hudson Lowe eine 124 SANKT HELENA Einladungskarte an den „General Buonaparte". Den Gummi- baum läßt er niederhauen. Der Kaiser rast: „Dieser Mann ist nur ein Schreiber und hat nie einen Kanonenschuß ge- hört; alle seine Feldzüge hat er zwischen der Feder und einer Flasche Tinte gemacht." Er höhnt über das Gesicht seines Kerkermeisters, sein fuchsiges Schottenhaar, seine scheelen Augen. „Der Kalabrese da ist mir ein Ekel. Dieser Hudson Lowe vergiftet alles, was er sieht und berührt. Der Kerl sollte sich große Zugpflaster auflegen lassen, um die widerliche Lymphe aus ihm herauszuziehen. Das reine Gal- gengesicht!" Und es übersprudeln sich itahenische Schimpf- reden. Woche vergeht auf Woche, Monat um Monat, Jahr um Jahr, und nur Bilder ohne Zusammenhang bleiben im dump- fen Halbschlaf dieser Einsamkeit den Miterlebenden haften. Einmal ist es Napoleon, der, von einem Strohhut geschützt, die Hände in den Rocktaschen, im Garten steht und zu den kreuzenden Fregatten hinblickt. Dann wieder der Kaiser auf der Veranda, pfeifend, um den Kopf die rote Nacht- mütze. Oder bei Tafel in der Hitze der Wachskerzen; sein Gefolge spricht im Flüsterton. Hinter den Stühlen in silber- bestickten Röcken und in grünen Röcken mit Goldlitzen die Diener. Wenn den Kaiser sein Jähzorn heimsucht, zerbricht er Weingläser. Mit dem Fuße des zerbrochenen Glases klopft er summend im Takt, und seine unwirsche Träumerei endet mit lautem Grunzen. Oft liest er in der Bibel oder in den Kirchenvätern. Oft sieht er überhaupt nicht auf; jeder Spalt in den Fensterläden muß verstopft werden. !m Dezember 1820 verfällt der Körper des Gefangenen. Sein Magen behält nichts, seine Haut ist leichenfahl. „Es ist kein Öl mehr auf der Lampe", sagt er zu Montholon. Jetzt pflegt ihn ein Korse, der Doktor Antommarchi, den sein Onkel, der Kardinal Fesch, ihm aus Europa geschickt hat. SANKT HELENA 125 Auch zwei italienische GeisÜiche sind eingetroffen, die Abbes Buonavita und Vignali, ein Koch und ein Kellermeister. Die Flucht ist unaufhaltsam, und auch die Bertrands und Mon- tholon wollen desertieren. Im März legt Napoleon sich end- gültig zu Bett. Am 1. April wird der Militärchirurg Dr. Ar- nott geholt. Der Kaiser ist schwach, ein fettes Gespenst. Sein langer Bart macht ihn fürchterlich. Seine Wäsche und sein Schal triefen von Schweiß. Nur im Nebenzimmer darf eine Kerze brennen. Am 16. April schafft man ihn aus dem Schlafraum in den Salon, am 21. beichtet er dem Abbe Vi- gnali. Er beauftragt Bertrand, seiner Familie zu sagen, daß sie sich mit großen Häusern verschwägern solle, damit künftig Päpste aus ihr hervorgingen, und diktiert Testamente, in denen nichts ist als der Gedanke an seinen Sohn mit der Habsburgerin. Am 3. Mai liegt er in Ohnmacht, dann rollt er die Augen. Nachmittags empfängt er das Heilige Abend- mahl. In der Nacht zum 5. Mai deliriert er: „Frankreich — Spitze des Heeres — Josephine." Er springt aus dem Bett und reißt Montholon nieder. Er stirbt abends sechs Uhr, als die Sonne verscheidet. Die Sektion ergibt Magenkrebs und eine Leberkrankheit, worüber die Protokolle der Ärzte stumm sind. Die Leiche wird auf Napoleons Feldbett aufgebahrt, in der vollen Uniform der Nationalgarde. Auf einem Tisch am Fußende steht die Büste des Königs von Rom. Fünf Tage nachher geschieht die Beisetzung unter Weidenbäumen. Als der Sarg hinabgesenkt wird, feuern die Feldgeschütze mit der Infanterie drei Salven ab. Die Somnambule. Die Vorgänge, über die hier berichtet wird, gehören einer Zeit an, in der auch der Protestantismus vom Über- natürUchen erregt war. Der edelste ihrer Mystagogen ist Friedrich von Hardenberg, der Dichter Novalis, der Sänger der Hymnen an die Nacht, der „Herrnhuter mit der hek- tischen Sinnhchkeit", den Friedrich Schlegel auf dem Sterbe- lager sah, und über dessen Anblick er schrieb: „Hardenbergs Gesicht ist lang geworden, er windet sich gleichsam von dem Lager des Irdischen empor, wie die Braut von Korinth. Da- bei hat er ganz die Augen eines Geistersehers." Mit seinen Visionen stimmen die Träume der Naturphilosophen über- ein. Gott müsse Mensch werden, so lehrt Schelling, damit der Mensch wieder zu Gott komme; der Anfang, die Heilung sei ein Zustand des Hellsehens, worin göttliche Kräfte den menschlichen entgegenwirken. Baader vertieft sich in das Lebensgeheimnis, das er in der „Polarität" des männlichen und des weiblichen Gegensatzes erblickt, und in das Geheim- nis der Wiedergeburt; alle Menschen sind totgeborene Seher. Der Professor Ritter spricht in seinem Buche über den Si- derismus die Worte aus: „Alle unsere reinen Handlungen sind somnambulistisch; jeder trägt seine eigene Somnambule bei sich." Im Mittelpunkt des Interesses steht eine neue Theorie, die unbegrenzte Hoffnungen wachruft und die ver- borgenen Kräfte der Natur erschließen soll, der Mesmeris- mus, der tierische Magnetismus. Von Mensch zu Mensch, das besagen die Anpreisungen der Gläubigen, gehe ein Flu- idum, und die Vereinigung magnetischer Menschenkraft auf kranke Personen sei fähig, sie zu heilen. Ein Berliner Arzt, der Professor Wolfart, veranstaltet magnetische Experimente mit dem ,,Baquet", einem magnetisierten Gefäß, an das die Kranken gesetzt werden, und der Professor Kiser erfindet DIE SOMNAMBULE 127 das Baquet ohne Magnetisation, dessen Heilwirkung nur auf der „siderischen", der geistigen Kraft der Stoffe beruht. Allenthalben treten Damen auf, die mit dem „zweiten Ge- sicht" begabt sind. Baader schreibt über eine Patientin des königlichen Krankenhauses in München, eine Somnambule, deren Empfindungen sich mit unheimlicher Macht äußern. Als er an ihrem Bett sitzt, erhält er durch Fernwirkungen heftige Schläge über die Arme. Und eine elsässische Sehe- rin, Maria Kummrin, vollzieht an der Freifrau von Krüdener, der Stifterin der Heiligen Allianz, die Erweckung. Im Jahre 1809 heiratet Schleiermacher die einundzwanzig- jährige Witwe seines Jugendfreundes, des Stralsunder Regi- mentspredigers Ehrenfried von Willich. Es ist eine jener Ehen, wie man sie kultiviert, eine Ehe der Wirklichkeits- scheu und der Gefühlsableitung. Ein Roman des Schmer- zes geht ihr voran. Schleiermacher selbst ist in dem Bund- Willichs mit Henriette von Mühlenfels der seelische Mittels- mann gewesen. In Briefen, die ein Echo der abgerissenen, wilden und ätherischen Klagen aus dem „Werther" sind, hat sie ihm den Tod ihres ersten Gatten gemeldet, und dann wird aus dem: „Mein geliebter Freund! mein Vater!" ein „Lieber! Lieber!" und so ist auf einmal die neue Ehe da. Sie wird nicht allein durch die menschliche Situation, son- dern auch durch die früheren Erlebnisse und eine angeborene Eigenschaft Schleiermachers vorbereitet. Er steht im ein- undvierzigsten Lebensjahr und ist in seiner Beziehung zu den Frauen zweimal enttäuscht worden: in seiner Freund- schaft für die Herz, für die er die Briefe über Lucinde schrieb, und in seiner Leidenschaft für Eleonore von Grunow, um derentwillen er Berlin verlassen hat. Seine natürliche Schwäche hat er selbst bekannt. „Ich muß mich anschlie- ßen an ein Hauswesen", beichtet er der Herz. Die Beruhi- gung an der Seite Henriettens von Willich ideaHsiert er durch 128 DIE SOMNAMBULE seine Güte. Fünf Kinder kommen zu den zwei Kindern aus erster Ehe hinzu. Das letzte ist der blondlockige Nathanael. Und man sieht die stillen Tage der Schleiermachers vor sich, wenn man die Erinnerungen des ältesten Sohnes liest, des Stiefsohnes Ehrenfried. Im Sommer wandert die Familie aus der Berliner Kanonierstraße aus und bezieht ein Häus- chen am Rande des Tiergartens, am Kanal, der noch Schaf- graben hieß. An der Potsdamer Straße stehen nur zwei Häuser. Ringsum ist grüne Wildnis, und wenn Reisekutschen nahen, wird auf der Chaussee das Posthorn geblasen. Zehn Jahre dauert die Ebe. Kein äußeres Zeichen läßt vermuten, daß sie in Gefahr ist. Nur als zitterndes Flämm- chen lebt in Henriette die alte Irritation fort, bereit, hervor- zubrechen und alles zu verzehren. Noch immer, wie un- mittelbar nach dem Tode Willichs, hat sie den Blick dem Jenseits zugewandt, und sie ist überzeugt, daß ein Verkehr mit den Geistern der Entschlafenen möglich sei. Da trifft es sich, daß Schleiermacher wegen eines Magenübels von Wolfart magnetisch behandelt wird, und daß die Kur gelingt. Er selbst bewahrt eine unüberwindliche Angst vor dieser neuen Geheimwissenschaft. Mit um so drängenderer Gier ver- tieft Henriette sich in ihre Erscheinungen. Sie lernt eine Frau Karoline Fischer kennen, die Witwe eines sächsischen Offiziers, die ärmliche Schwester des Gymnasiallehrers Lom- matsch, bei dem sie mit ihrem Töchterchen Luise lebt. Die Fischer ist somnambul. Sie kann, wie Humboldt bezeugt, nicht gehen und nicht essen. Sie trinkt magnetisiertes Was- ser und morgens eine Tasse Kaffee. Ihr Kopfschmerz löst sich in einem Abszeß, der durch das Ohr fließt. Stunden- lang liegt sie im Krampf, und in diesem Zustand spricht sie in Versen, in schönen Versen, denen die Hörer andächtig schweigend zu lauschen pflegen. Verstorbene werden ihr sichtbar, die zu den anwesenden Hinterbliebenen Worte des DIE SOMNAMBULE 129 Trostes und der Ermahnung reden, oder distinguierte Per- sönlichkeiten aus der Geschichte, die man besonders ehr- furchtsvoll aufnimmt. Henriette ist hingerissen. Sie hält die Fischer für ein Wesen aus höherer Welt, für ein Organ des göttlichen Willens und der göttlichen Gnade. Sie sitzt am Bett der Fischer, entrückt, in knechtischem Gehorsam. Sie vergißt ihren Gatten, ihre Kinder. Sie kommt für den Le- bensunterhalt der Fischer auf und nimmt deren Tochter ganz zu sich. Wie einer, der nicht mehr hineingehört, geht Schleiermacher stumm durchs Zimmer. Der junge Ehren- fried wird in seiner Liebe zur Mutter vom Taumel der ekstatischen Gefühle miterfaßt. Auch er schließt sich der Fischer an. Die Schwestern widerstreben; Entfremdung von der Muter ist die Folge. In dieser bedrückenden Stimmung gehen abermals zehn Jahre dahin. Aus den Kindern werden junge Menschen. Keines vermag sich der dumpfen Atmosphäre zu entziehen. Eine der Schwestern, Gertrud, heiratet nach dem Wunsch der Fischer ihren Bruder, den Professor Lommatsch, der vierundzwanzig Jahre älter ist. Da erwacht in Ehrenfried der Haß gegen die Somnambule; er will sich und die Fa- milie von ihr befreien. Aber eine schwermütige Neigung, die ihn an Luise Fischer, ein Mädchen mit sanften, braunen Augen fesselt, schlägt ihn wieder in Bann. Freunde und Freundinnen verkehren im Hause, die, jeder in seiner Art, zu den problematischen Verhältnissen Stellung nehmen: ein Kandidat Hegewald, der die Fischer als unzurechnungsfähig betrachtet und sich als Erlöser auch Luisens versucht, der feurige Lützowische Jäger Ludwig von Mühlenfels, der sich gegen die Proselytenmacherei der Frau Schleiermacher am stärksten auflehnt, und Bettina von Arnim, die, noch immer das naive Sonntagskind und noch immer begeisterungssüch- tig, sich vor Schleiermacher auf die Fußbank setzt, „du" 130 DIE SOMNAMBULE zu ihm sagt, jedoch über das Unwesen der Fischer leiden- schaftHch empört ist. Schleiermacher, der zusammenbricht, als den kleinen Nathanael ein grausamer Tod hinwegrafFl, stirbt, durch tiefe Ahnungen eingeweiht. Nun wird die Fischer im Hause die Herrin. Ehrenfried wagt letzte Schritte, um sein Sohnesrecht gegen sie zu verteidigen. Doch nur im Innersten erschüttert und verletzt, hört die Mutter noch seine Stimme, und mit Reuetränen bittet er sie um Ver- gebung. Luise verlobt sich mit Guido von Usedom. Ermat- tet, ein Schiffbrüchiger, söhnt Ehrenfried sich mit der Fischer aus. So naht auch der Mutter die Todesstunde. Als sie stirbt, ist sie von einem flackernden, überirdischen Licht verklärt. Der lähmende Traum ist nicht mehr von ihr ge- wichen. Und an ihrem Sterbebett macht die Fischer dem Sohne Vorwürfe wegen seiner Undankbarkeit. Die Rachel. Bei Wepler an der Place Clichy, unter den Glyzinen, gab der langmähnige Goudeau seine Erinnerungen zum besten. Ein paar fragwürdige Dichter waren um ihn versammelt. Neu- gierig traten einige derRapins an den Tisch, der Mallehrlinge, die sich hier mit sämtlichen Hochzeitsgesellschaften zu ver- brüdern pflegten, und lauschten dem Senior der Journalisten. „An jenem Abend", so erzählte Goudeau mit seinem warmen Bariton, den die Quadrillenmusik und das Klirren der Gläser überschallten, ,,war ich mit Musset im Theätre Francais, zum ,Tancred*. Im halbdunklen Zuschauerraum beobachtete ich ihn von der Seite. Nie hatte ich ihn so ge- sehen, seit er krank aus dem gräßlichen Venedig zurück- kam. Er hatte nur für die Rachel Interesse. Wir, seine Freunde, hatten das alles verfolgt; den Hymnus, den er ihr und der Garcia dichtete, die Abhandlung über die neue Blüte der Tragödie und über den ,Bajazet'. Aber nie schien er wie jetzt unter dem Bann des schwarzen Mädchens zu stehen. In der Pause ging er hinter die Kulisse. Er kam erst wieder, als der Vorhang hochgezogen war. Im fünften Akt, bei der Briefszene, quollen ihm die Tränen. Stumm verließ er mit mir das Theater. Es war eine milde, berauschende Nacht, wie er sie be- sungen hat. „La fleur de l'eglantier sent ses bourgeons s'eclore", rezitierte ich leise. Doch rasch hielt ich inne, denn Mussets Gesicht fiel mir auf. Plötzlich stürmte er über den Fahrdamm, einer Gruppe entgegen, die etwa hundert Schritte vor uns vorbeizog. Es waren ein Schwärm von Konser- vatoristinnen und ihre jungen Anbeter, ein Herr, der stolz seinen Spazierstock durch die Luft wirbelte, und neben ihm, klein und schmal wie ein Knabe, eine Frau in rotem Schal. Sie drehte sich um. „Musset!" rief sie. Das war die Rachel. 132 DIE RACHEL das war ihr schicksalsvoller Blick, der wie die Nächte Ara- biens betörte, das war ihr rauhes Organ. ,,Ich nehme euch zum Souper mit", entschied sie lachend. Auf dem Weg nach der Passage Vero-Dorat redete sie beständig. Musset er- widerte kaum ein Wort, der Herr mit dem Spazierstock — es war Bonnaire — pfiff traurig und wütend vor sich hin. Rachel verhöhnte ihn, als er sich im Hausflur mit einem dumpfen: „Adieu, Fanfan!" empfahl. Wir stiegen drei Treppen empor. Im engen Speisezimmer bewillkommnete uns die Familie Felix, Rachels Mutter, die würdige Matrone, und ihre- Geschwister: Sarah, der bleiche Raphael, Sophie, die neunjährige Lia und Dinah. Sofort verlor Rachel ihre Heiterkeit. „Lauf ins Theater", fuhr sie, sich besinnend, die Magd an, „und hole meine Ringe und Armbänder. Sie liegen in der Schublade". Und sie ver- schwand, sich umzukleiden. Drei Minuten später hörten wir sie in der Küche hantieren. Dann zeigte sie sich in Schlaf- rock, Nachtmütze und indischem Halstuch, einen Teller mit Beefsteaks schwingend, die sie selbst gebraten hatte. Eine Schüssel mit Bouillon und eine mit Spinat wurden aufgesetzt. Das Geschirr hatte die Dienstmagd weggesperrt. Rachel be- sorgte sich aus dem Bufifet eine Holzgabel und fing ohne uns zu essen an. Erst als die Mutter sich einmengte, verschaffte sie uns Zinnteller. Sarah weigerte sich davon zu essen, und Rachel zankte und sprach von den Jahren ihrer Armut. Musset fragte sie aus. Und sie gedachte ihrer Not in den Mietshöfen und Kafi"eehäusern von Paris, wo sie mit Sarah Lieder sang, und denen ein von ihrem Blick verzauberter Gast sie entführte, ihrer Lehrzeit bei Samson, ihres Darbens für andre. Deutsch schnatterte die unfreundliche Sarah da- zwischen. Die Konservatoristinnen und ihre Begleiter ver- abschiedeten sich. Die Magd brachte den Schmuck. Mit ihren weißen, dünnen Händen strich Rachel ihn ein. DIE RACHEL 133 Durchs ofiFene Fenster drang der Lärm der unruhigen Stadt. „Gib mir die Flasche mit dem Kirsch!" sagte Rachel. „Wir wollen Punsch kochen." Musset bat um Absinth, den er zu verabscheuen erklärte. Rachel schlürfte ihn aus einem Wasserglas. Dann zündete sie ihren Punsch an. Blau sprang die Glut. „Die Lichter weg!" befahl Rachel und jubelte, als die Kerzen unter dem Tisch versteckt wurden und magische Dämmerung den Raum erfüllte. Mama Felix war von grün- lichem Schein Übergossen. Argwöhnisch, wie ein Bild auf einem Sarkophag saß sie in ihrer Ecke. Rachel trank, ver- teidigte ihre Kollegin Rabut, ergriff den Stockdegen des Dich- ters und bohrte sich mit der Dolchspitze in den Zähnen herum. Musset hob an: „Wie schön haben Sie heute den Brief gelesen!" „Ich möchte die Phädra spielen!" brach sie los. „Es heißt immer", sagte sie nun in ihrer gewöhnlichen Stimm- lage, „ich sei zu jung und zu mager. Das ist doch Unsinn. Muß denn Phädra eine Kuh sein wie die Paradol? Aber sie gönnen mir die Phädra nicht, die Bande!" Zwei Monate vor- her hatten ihre Neider sie ausgepfiffen. Der Zorn färbte ihre Wangen. „Elisa, Du bist seit sechs Uhr auf den Beinen," mahnte die Mutter. „Du solltest zu Bett gehen!" „Ach, laß mich!" wehrte Rachel. „Soll ich das Buch herbringen?" fragte sie Musset voll Eifers. Die Geschwister waren schon in der Kammer. Die Matrone kämpfte im Sessel gegen den Schlaf. Feierlich nahte Rachel mit ihrem Racine, den sie wie eine Monstranz trug. Bei der flackernden Kerze begann sie zu lesen. Ihre Physiognomie verwandelte sich. Ihre Stirn glänzte, ihre Augen waren wie Diamant. Da bebte sie im Fieber, sie duckte sich wie eine Katze, und ein Schrei entrang sich ihren knirschenden Zähnen „Didibambal" polterte draußen der Vater, der von der 9 134 DIE RACHEL Oper zurückkehrte, wo die Nathan die „Jüdin" gesungen hatte. Er setzte sich zu uns. Die Mutter erwachte. Wie ein böser Gnom schalt Herr Felix seine Tochter. Ergrimmt klappte sie ihren Racine zu. Sie weinte. Musset ignorierte den Alten, verbeugte sich vor Rachel und ging mit mir zur Tür. „Lassen Sie mich, bitte, jetzt allein!" sagte er unten. Ich habe ihn dann vier Monate nicht mehr getrofifen und weiß nur, daß er Rachel vergebens die Rolle der Fredegonde anbot und in ein paar Strophen Verzicht geleistet hat. Rachel hat die Phädra gespielt. Es kam die Stunde, wo der Ruhm ihren Scheitel krönte. Sie reiste in die Pro- vinz, gab oft zwei Vorstellungen an einem Tage, spielte in drei Monaten neunzigmal und unterjochte sich das halbe Europa. In Wolken von Musselin und Gaze, in hohen Spitzenkragen, die ein Juwel zusammenhielt, trippelte sie über das Pflaster in der Rue Tridon, wo sie ihr Hotel hatte, zum Kutschenschlag. Sie war schwindsüchtig, das Kindchen. Einmal hat sie in Ronen zwei Stunden lang bei strömendem Regen auf dem Balkon einen Liebhaber erwartet, irgend- einen Kerl mit schönem Gesicht, der ihr nichts gab und sich nichts aus ihr machte. In ihrem Boudoir in Paris warf sie sich ohnmächtig nieder. Sie war ganz weiß, und in der Ecke lag zerknittert ihr wunderbares Kostüm aus Smyrna. Manch- mal konnte sie toben und schimpfen wie eine Vettel, und manchmal war es ihr eine Wonne, ihren Galanen die größten Schmutzereien entgegenzuschleudern. Aber keiner wagte es, die Kette zu brechen. Einmal begegnete Doktor Tampier, ihr Arzt, vor ihrem Boudoir dem Grafen Hector, der endlich sich seiner Schande bewußt geworden war. „Sie ist eine Dirne", brüllte er. „Sie ist ein Skelett, sie — ." Dann raunte er dem Arzt zu: „Ich komme heute abend wieder!" Zuletzt wäre sie beinahe katholisch geworden. Als sie nach Ägypten fuhr, traf sie den jungen Aubaret. Er war DIE RACHEL 135 damals Leutnant auf dem Paketboot, das die Tragödin von Marseille nach Alexandrien brachte, und da er sie zart und mitleidig pflegte, begann zwischen beiden ein durchaus pla- tonischer Roman. Sie freute sich, wenn Aubaret von seinen Eltern berichtete, von seiner Heimat und seiner Kindheit. In der glühenden Sonne des Nillandes, durch das sie be- wegungslos auf ihrer Barke dahinglitt, hat sie, eine zweite Kameliendame, den guten Aubaret nicht vergessen. Sie zog sogar in die Nähe von Montpellier, wo seine Familie eine Besitzung hatte. Dort sprachen sie, wie das so geht, viel über den Trost der Religion. Und plötzlich war sie ent- schlossen, sich taufen zu lassen. Da meldete ihr ein Tele- gramm, daß ihre kleine Tochter erkrankt sei; sie mußte fort. Erst in Le Cannet, wo sie bei Sardous Vater wohnte, kam sie auf ihren Plan zurück. Aubaret gab ihr einen Rosen- kranz, den in Gaeta der Papst Pius ihm geschenkt hatte, und geweihtes Wasser. Als nur noch Stunden sie von der Tauf- zeremonie trennten und Aubaret bei ihr war, öffnete sich die Tür. Der Prinz Napoleon trat ein, der in ihrer Villa gerade die Rechte des Hausherrn hatte. Finster, lautlos ent- fernte sich Aubaret. Es war am zweiten Januar. Am dritten war der Schiffsleutnant dienstlich verhindert. Aber zur Mit- ternachtsstunde hörte er von Tampier, daß Rachel soeben gestorben sei. Noch eins: Theophile Gautier hat es uns in Neuilly er- zählt, in seinem mit dem Wirrwar einer Kunstauktion voll- gestopften Häuschen, und sein Dogenantlitz blieb dabei un- erschütterlich ernst. Er fand Rachel im Foyer. Sie kauerte auf einer Bank und starrte tragisch zur Decke. Er begrüßte sie und reichte ihr die Hand, die sie wie im Traum an ihren Busen preßte. Schweigend riß sie das klassische Peplum auf und ließ Theo ihre Haut berühren. Wie ein Engel des Verderbens blickte sie ihn an und fragte ihn furchtsam: „Es 9* 136 DIE RACHEL ist nichts da, nicht wahr?" „Nicht viel", erwiderte Theo beklommen. Da murmelte Rachel verzweifelt: „Nur die Ammen haben bei den Männern Glück." Und tiefer Gram stand in ihren nachtschwarzen Augen . . . Disraeli. Den „hebräischen Zauberkünstler" hat Carlyle ihn ge- nannt, und nie ist der Argwohn der steifleinenen Puri- taner gegen den Mephistopheles auf dem Sessel des Premier- ministers geschwunden. In allem posierte er den Fremd- ling, mit dem Spott und der beleidigenden Herablassung, die er bei seinem Eintritt in die Welt der Politik und der Literatur gehabt hatte. Er, der Jude, der von der britischen Gentry noch nicht aufgenommene Enkel eines aus Cento bei Ferrara zugewanderten Bankiers, rühmte sich, von einem phantastischen Hause Lara — Lara, wie die stolzeste Blüte des kastilischen Uradels — zu stammen. „Mein Groß- vater", so erzählte er, „der 1748 englischer Bürger wurde, war italienischer Abkömmling einer jener hebräischen Fa- milien, die Ende des fünfzehnten Jahrhunderts durch die Inquisition von der spanischen Halbinsel vertrieben wurden und in dem Gebiet der toleranten Republik Venedig Unter- schlupf fanden. Meine Vorfahren hatten bei ihrer Nieder- lassung an dieser Schutzstätte ihren gotischen Namen fallen lassen und aus Dankbarkeit gegen den Gott Jakobs, der sie durch unerhörte Gefahren und beispiellose Prüfungen ge- leitet hatte, den Namen Disraeli angenommen, einen von keiner anderen Familie vordem oder seitdem getragenen Namen, damit ihre Herkunft für immer erkennbar sei." Aber schon mit Benjamin Disraeli, jenem Großvater, begann die Umwandlung oder, wenn man will, die Dekadenz. Seine Frau, die Spaniolin Sarah Siprut de Gabay, litt an dem ehrgeizigen Wunsche, zur britischen Gesellschaft zu gehören ; sie wurde der Synagoge untreu und überredete ihren Mann, das Bankgeschäft zu schließen. „Ein Dämon", so prahlt der Enkel, „vergleichbar nur der Herzogin Sarah von Marl- borough, der Frances Anna Marquise von Londonderry und 138 DISRAELI vielleicht der Katharina von Rußland." Isaac Disraeli, der Vater, war für die Bank schon untauglich. Er flüchtete mit seinen stilleren Neigungen in die Literatur, wurde mit Byron und Scott befreundet und legte eine Sammlung „literarischer Kuriositäten" an. Die Universität Oxford ernannte ihn zum Ehrendoktor. Mit der Synagoge stand er auf Kriegsfuß. Beim Tode seines Vaters ließ er sich taufen, mit seiner Gattin Maria, die der Familie Basevi entstammte, und mit seinen Kindern. Zwölf Jahre zählte Benjamin, der zweite Sohn, als sein Name in die Taufregistratur der anglika- nischen Kirche St. Andreas in Holborn eingetragen wurde. Weit weniger glänzend, als seine Familiengeschichte ver- muten ließ, war seine Erziehung. Nicht nach Eaton und Oxford kam er, wie ein junger Gentleman, sondern auf Landschulen von Geistlichen, zu dem biederen Mr. Pothicary in Black- heath und nach Walthamstow. Dann wurde er Lehrling bei der Anwaltsfirma Maple & Co. Aber schon träumte er von Ruhm, und schon machte er die ersten Bemühungen, ihn zu erringen. ,,Ich wollte groß und bestaunt werden," so läßt er in seinem Roman ,,Contarini Fleming" den Helden sagen, ,,aber auf welchem Wege, das wußte ich nicht. Wir sprachen vom Parlament und vom Feldherrnstab, von Schwert und Feder. Wir sprachen mit Entzücken von einem Leben voller Abenteuer." Voltaires kleiner Roman „Zadig" war seinem ungeduldigen Talent die Befreiung. Auch darüber gibt er im ,,Contarini" Rechenschaft: ,,Was ich lange gesucht hatte, lag jetzt vor mir. Die seltsame Mischung von groß- artiger Phantasie und beißender Wahrheit, diese unvergleich- liche Verquickung von idealer Schöpfungskraft und Welt- klugheit entsprach gerade den beiden Naturen, die ich sel- ber in der Brust trug. Ich wandelte als Dichter in den Stra- ßen Babylons oder an den Ufern des Tigris. Als Philosoph und Staatsmann stellte ich Betrachtungen über den Charak DISRAELI 139 ter der Menschen und die Natur der Regierungen an. Auch der Stil entzückte mich, und ich gab mich seiner wilden und blendenden Grazie mit Leib und Seele hin." Der erste Versuch des Schriftstellers Disraeli war der „Vivian Grey", ein in Technik und Charakteristik fragwürdiges Buch mit allen Eigenschaften des Schlüsselromans, doch herausfordernd in der koketten Selbstsicherheit, die schon das Motto, ein Zitat aus den „Lustigen Weibern von Windsor", laut verkün- dete: „Die Welt ist eine Auster, und mit meinem Schwerte will ich sie öffnen." Der „Vivian Grey" hatte einen buch- händlerischen Skandalerfolg. Die Porträtierten waren em- pört, ihre Feinde und Feindinnen lachten. „Alle Leute", so bemerkt Disraeli im „Contarini", wo er den „Vivian Grey" „Manstein" nennt, „alle Leute, die ,Manstein' gelesen und sich darüber amüsiert hatten, schämten sich dessen plötzlich und behaupteten, weil ein halbes Dutzend Narren, die sich für Kenner ausgaben, es ihnen täglich ein paarmal in die Ohren raunten, es sei ein sehr ungehöriges, unmoralisches Buch. Viele bekamen auch Angst. Einzelne Leute, die mir auf der Straße begegneten, grüßten mich nicht mehr. Ich erhielt anonyme Briefe, und das Benehmen meiner besten Freunde wurde zusehends kälter." In Wahrheit hielt der junge Talmi-Byron sich schadlos. Lytton Bulwer machte ihn unter den Aristokraten bekannt, und bald wagte er, sich auf gleichen Fuß mit ihnen zu stellen. So unbesonnen nahm er an der Londoner Season teil, daß er nervös erkrankte. Es schien ihm, als verspüre er die Umdrehung der Erde um ihre Achse. Die Ärzte waren um ihn besorgt. Sie schickten ihn ins Ausland. Sechsundzwanzig Jahre alt, trat er mit seiner Schwester Sarah und ihrem Verlobten, seinem Freunde William Mere- dith, die große Reise an. Er fuhr nach Spanien, in die exo- tische Stadt der Alhambra, zwischen deren Säulenhöfen, 140 DISRAELI wasserspeienden Löwen, Hallen und Hufeisenbögen ihm das Wesen des insgeheim ersehnten Orients aufging. Zu Pferde durchstreifte er das von Räubern wimmelnde Andalusien. Dann schiffte er sich nach den Ionischen Inseln ein, und dann beschloß er, weil er hörte, in Albanien, Mazedonien und Thessalien sei eine Empörung gegen die Türken losge- brochen, in deren Hauptquartier zu gehen. Auf den Spuren von Byrons Childe Harold schlenderte er durch zertrüm- merte Städte, in denen nur das Minaret der Hauptmoschee noch ragte, und durch wilde Bergschluchten, die Kriegslager der Beys und Paschas. Er saß mitten unter den Ruinen Athens, ohne mehr als ein Staunen der klassisch-philoso- phischen Bildung in seinem dem Abendland fernen Geiste zu fühlen, er erblickte bei Mondschein das Schlachtfeld von Marathon und die freien Wasser von Salamis. Mit Halil Pascha und einem türkischen Geschwader segelte er über das Inselmeer. An einem Morgen hielt Windstille die kleine Flotte in Trojas Nähe fest: „Vor uns lag eine Wüste, hüge- lige, unbebaute Ebene, ein wasserarmer Bach, ein großer Hügel, einige Hirten mit Herden — so sieht heute das König- reich des Priamus aus, und das sind die Nachfolger des Paris." Das farbige Gewimmel von Konstantinopel berauschte ihn, auf den verlassenen Ebenen Kleinasiens dachte er an tote Reiche und Städte, in den Zelten der syrischen Beduinen wurde er zum Schwärmer für orientalische Stammesgemein- schaft, und endlich dehnte sich mit Türmen und Mauer- zinnen vor dem auf dem Ölberg stehenden Wanderer die heiligste der heiligen Stätten aus, Jerusalem. Niemals hat sein kalter Snobismus sie vergessen, und noch in seinen Romanen ,,Alroy" und „Tancred" hat er sich zu einer Art von zionistischer Völkertheorie bekannt. Die Heimreise führte ihn über Ägypten; dort starb sein Freund und Gefährte. Als ein unjugendlicher Virtuos des DISRAELI 141 Ehrgeizes, der gewillt ist, mit Zähigkeit sich den Weg zur sozialen Höhe zu erzwingen, kehrte er nach Großbritannien zurück. „Er lehnte", so schildert ihn der Amerikaner Wil- lis, „in einem Fenster, das nach dem Hydepark zu lag. Die letzten Strahlen der sinkenden Sonne vergoldeten die präch- tigen gestickten Blumen seiner wunderbaren Weste. Seine blitzenden Lackschuhe, sein weißer Stock mit der schwarz- betroddelten Schnur und die Zahl der Ketten, die ihm um den Hals oder aus seinen Taschen herabhingen, waren nur bestimmt, die Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken. Sein Ge- sicht ist leichenfahl, und wäre nicht seine Lebhaftigkeit in Worten und Bewegungen, so würde man ihn für schwind- süchtig halten. Sein Auge ist schwarz wie der Fluß der Unterwelt, und es glimmt in ihm ein unsagbarer Hohn, der schlimmste, den ich je betrachtet habe. Sein Mund zuckt vor Ungeduld. Hat er einen beleidigenden Ausfall von sich gegeben, was er unausgesetzt und mit beispielloser Geläufig- keit der Zunge tut, so krümmt seine Lippen eine triumphie- rende Verachtung, die der des Mephistopheles wert ist. Seine Haartracht ist ebenso seltsam wie Schnitt und Stoffe seines Gilets. Ein langer, dicker Busch kohlenschwarzer Locken fällt über seine linke Wange herab bis zum Hals, den er immer frei trägt, während sie auf der rechten Schläfe geteilt sind und mit sorgloser Anmut liegen wie bei einem jungen Mädchen. Er spricht wie ein Rennpferd, das eben durchs Ziel schießt, alle seine Muskeln sind angespannt." Das war die Zeit der grünsammtenen oder hellblauen Hosen, der kanariengelben Westen und der kostbaren Spitzen an den Ärmeln, die Zeit der auffälligen Promenaden in der Regent Street: „Die Leute machten mir Platz, als ich vorbeikam. Es war das Rote Meer, als es sich öffnete, etwas, wovon ich jetzt aus eigener Erfahrung gänzlich überzeugt bin." Die Stätte seines ersten politischen Versuches war High 142 DISRAELI Wycombe, in der Gegend des väterlichen Landsitzes. Dort stellte er seine Kandidatur gegen einen Sohn des liberalen Premierministers Lord Grey auf, als unabhängiger Hospitant der Tories. „Alle Frauen*', so schrieb er an seine Schwester, ,,sind für mich und tragen meine Farben, rosa und weiß." Er erlitt ein lächerliches Fiasko, das sich in Trenton wie- derholte. Auch in einen Duellzank mit dem Iren O'Connell geriet er, der ihn einen Verräter genannt hatte. Aber nun war er offizieller konservativer Parteimann, Mitglied des Carltonklubs und Schützling des Herzogs von Wellington. So wurde er Abgeordneter Ton Maidstone, im ersten Regie- rungsjahre der Königin Viktoria. Und abermals war sein Debüt ein Mißerfolg. Er hielt seine Jungfernrede, als die irische Frage erörtert wurde. Die herrschende Whigpartei unter Lord Melbourne hatte sich, wie heute die um Asquith, mit den katholischen Irländern verbündet. Heftig griff Dis- raeli, der Neuling, den Premierminister an, der ,,in einer Hand die Schlüssel Sankt Petri, in der andern die Freiheits- mütze" schwinge. Das Wutgeheul der Mehrheit unterbrach den Kecken. Er wich, doch im Abgehen rief er seinen Feinden die vermessene Prophezeiung zu: „Für heute bin ich fertig, aber die Zeit wird kommen, wo Sie mich werden anhören müssen." Shell, den er bei Bulwer traf, gab ihm das hinfort von ihm angewandte Erfolgsrezept: ,, Seien Sie ganz ruhig, bemühen Sie sich, langweilig zu sein, logisieren Sie: einer- seits-andererseits, aber brauchen Sie Ihre Vernunft nur un- vollkommen; denn geschieht es mit Geist, so werden die Leute glauben, Sie wollten witzig sein. Setzen Sie sie in Erstaunen, indem Sie zu Detailfragen sprechen. Führen Sie Daten, Zahlen, Berechnungen an. Und Sie werden das Ohr des Hauses haben und sein Liebling sein." Bald auch ge- lang es Disraeli, sich durch eine Heirat zu rangieren und aus den Klauen der Wucherer zu retten. Seine Gemahlin war DISRAELI 143 eine reiche Matrone, die fünfzigjälirige Witwe seines Partei- kollegen Wyndham Lewis, die ihn verehrte und seiner Un- rast den Schutz eines Heimes bot. Seine Größe war ihr ein- ziger Gedanke. Als vor einer wichtigen Sitzung, in der er zu reden hatte, der zuklappende Wagenschlag ihr die Hand zerquetschte, überwand sie bis zum Abschied von ihm den Schmerz, damit er nicht gestört werde; als sie allein war, brach sie zusammen. Zwei Romane Disraelis aus der Mitte der vierziger Jahre vergegenwärtigen das zwischen Torytum und Demokratie schwankende ,,jungenglische" Ketzersystem, das er damals für sich errichtete, und das anfangs nichts war als eine eitle Unfruchtbarkeit, um nachher in sonderbarem Spiel der Ge- schichte eine Bejahung der Zukunft zu werden: „Coningsby" und „Sybil". Im ersten Roman verbrüdert der Enkel des feudalen Lord Monmouth sich mit Harry Milbank, dem Sohne des liberalen Fabrikanten. Die Erneuerung der Königsgewalt, nachdem der Parlamentarismus abgewirtschaftet hat, ist die politische These, und ein jüdischer Bankier, der weise Sidonia, sagt sie an. Schon aber wird auf die unteren Stände, auf die Arbeiterklasse des Industriezeitalters, hingewiesen, die in „Sybil oder die zwei Nationen", verkörpert in einem lieb- lichen Mädchen von hoher Abkunft, die mit dilettantischem Sozialismus gefeierte Heldin wird. Aber energischer noch als in diesen Werken seiner Einbildung schwor Disraeli nun- mehr als praktischer Politiker die wirtschaftlichen Dogmen der Manchesterschule ab. Freihandel oder Schutzzoll war ihm nur eine Lebensfrage der Gentry, die er als die behar- rende Grundlage der englischen Macht pries. Als Robert Peel, der konservative Premierminister und Parteichef, aus Erwägungen der Klugheit, unter dem frohlockenden Beifall der Liberalen, die Zölle beseitigte, da organisierte Disraeli die konservative Fronde gegen ihn. „Es wäre eine Aus- 144 DISRAELI nähme", so rief er dem Unterhause zu, ,,von allen Gesetzen, die bisher den Weltlauf bestimmt haben, wenn Sie den er- strebten Wohlstand aufrechterhalten können, ohne daß Sie die Gesellschaft auf jenem Element der Stetigkeit und Dauer beruhen ließen, das allein das Prinzip des Landbesitzes ge- währen kann. Gewiß, Sie werden noch eine Zeitlang fort- schreiten und prosperieren können, Ihre Häfen werden sich mit Schiffen füllen, über Ihren Städten werden die Hochöfen leuchten, Ihre Fabriken werden über das ganze Land Rauch- wolken wälzen. Und dennoch vermag ich nicht einzusehen, warum Sie eine Ausnahme m der Welt sein sollten, warum Ihre Zivilisation nicht verfallen sollte wie das glänzende Tyrus und in Trümmer sinken wie die Paläste Venedigs." Das Chamäleon der sephardischen Judenschaft wurde, halb Bismarck, halb Lassalle, der englisch -patriotische Staats- mann des Imperialismus. Der Witz. Der Witz, den wir in jeder Stunde des Tages hören, ist das Wortspiel, der „calembour" der Franzosen, dessen Kunstgriff der Gleichklang zweier Worte von verschiedenem Sinn oder der Doppelsinn eines und desselben Wortes ist. Es gibt Leute, die von diesem Wortwitz leben und die ihm Untertan sind wie einer furchtbaren Manie. Aber seltsam, gerade die witzigsten Geister haben versucht, ihn in Acht und Bann zu tun. „Schließen wir einen Bund", sagte Vol- taire zu der du Defifand, „und verhindern wir, daß ein so dummer Tyrann die Herrschaft der großen Welt an sich reiße." „Witz in seiner Isolierung ist nichts wert," schrieb Heine, als er eine Bagatelle von Saphir gelesen hatte (viele Jahre, bevor sie in Frankreich an der Tafel des Hotels zum Schwan einander ihre mangelnde Sympathie beteuerten). „Nur dann ist mir der Witz erträglich, wenn er auf einem ernsten Grunde ruht. Darum trifft so gewaltig der Witz Börnes, Jean Pauls und des Narren im Lear. Der gewöhn- liche Witz ist nur ein Niesen des Verstandes, ein Jagdhund, der dem eigenen Schatten nachläuft, ein rotjäckiger Afife, der sich zwischen zwei Spiegeln begafft, ein Bastard, den der Wahnsinn mit der Vernunft im Vorbeirennen auf öffent- licher Straße gezeugt hat." Den Witz abstrakt zu erklären, statt mit zwiespältiger Nei- gung teils gegen ihn zu protestieren, teils von ihm nicht lassen zu können, war in neuesten Tagen einem Psychiater vorbehalten, auf den nun schon eine ganze Literatur zurück- geht, dem Professor Siegmund Freud. Der Witz, so lehrt er, ist ein Bruder des Traumes und wie dieser aus dem unbe- wußten Seelenvermögen geboren. Er ist ein Witz durch Ver- dichtung — wie das „familiionär", das Heine seinen Hirsch Hyacinth dem Baron Rothschild nachrühmen läßt, und in 146 DER WITZ dem die Vorstellungen „Familie" und „Millionär" auf über- raschende Art vereinigt sind — oder Witz durch Verschie- bung des psychischen Akzentes. Jeder Witz schafft dem, der ihn ausspricht, Lust, der harmlose wie der tendenziöse, der, der uns lächeln macht, und der, den wir mit krampf- haftem Lachen begleiten. Auch der harmlose Witz ist eine Befreiung, ein Symptom der Freude, daß wir nun spielend im Gedanken überwinden dürfen, was sonst uns quälte. Der tendenziöse Witz hilft uns, den Gegner auf Umwegen zu ver- achten. Nirgends ist er philosophischer als im Ghettowitz, und nie war er allgemeiner als in unserem Jahrhundert der Demokratie. Einmal war der Witz souverän, im achtzehnten Jahrhun- dert, das am Vergnügen der gesellschaftlichen Existenz alle, die überhaupt zu reden vermochten und sichtbar waren, be- teiligte. Das war die Zeit für die Bonmots auch der Ster- benden. ,,Ich glaubte, das zweite Stockwerk hierzulande sei nicht so hoch", rief der Abbe de la Marre, den in Prag ein übelgelaunter Ehemann — oder war es ein Fieberanfall? — auf die Straße hinabstürzte; dann tat er seinen letzten Seufzer. Dieses Jahrhundert liebte den Witz in jedem Betracht. Mit unersättlicher Wollust gefiel es sich, seine Arten zu unter- scheiden und neue auszutüfteln. Gott weiß, wie viele in den ledernen ,,Bievriana" des Marquis von Bievre hergezählt sind, einem schwatzhaften Katechismus des Witzes. Mit Witzen wurde der Abbe Poinsinet in den Tod gejagt; so lange wurde er mystifiziert, bis er ertrinken mußte. Schattenlos waren die Geister wie Chamissos Schlemihl, der „selbst mit dem besten Willen nicht den Rausch aus dem Kopf ins Herz zwingen" kann. Fremd war ihnen die Heiterkeit des schlum- mernden barberinischen Fauns, der großen Gebilde. Die Silhouette ist ihr Fall, das scharfe Licht des Hogarth, das Skurrile, wovon der „Tristram Shandy" erfüllt ist, die Skepsis. DER WITZ 147 In ihren ärmeren Provinzen ist diese das Magistertum, wo- mit Wieland, der neue Lukian und Ariost, die Deutschen er- götzt hat, oder Lichtenbergs Freude an der Entzauberung der Schwärmerei. In den höchsten Äußerungen, denen der Franzosen, glänzt der Witz mit einem Glänze, der alles durchdringt. Seinen Ursprung hat er bei dem ehrlichen Montaigne, einem Graubart mit langer Nase und schiefem Blick, der im Bürgerkrieg sein Schloß nicht verrammelte, den groben Kumpanen zugeneigt war und gern von seinem Haus berichtete, seinen Scheuern, seinem Vater, seinem Weib, seinen Pächtern, seinem dürren, kahlen Schädel, seinen Mes- sern und Gabeln. Er hatte die Alten gelesen, verlangte nicht nach dem Jenseits und war gewillt, dem Tode, wenn er an- klopfte, sich nicht zu sträuben. Auch vom Herzog de la Rochefoucauld lernte die Schule der Spötter, dem halbblinden Frondeur, und von Jean de la Bruyere, der dem Witz in der unruhigen Gesellschaft sich fügte: „Der Witz ist entweder etwas Schöpferisches oder auch ein Nichts." Doch erst als das achtzehnte Jahrhundert dem Zenith sich näherte, ist das Pandämonium des Witzes entfesselt, beginnt die unbe- schränkte Grausamkeit des nach Leben gierigen Geistes. Er wird geschwächt, als im Hotel de Tours zu Paris, in der kleinen Rue du Paon, gegenüber einem Brunnen und einem Obstladen, der schwindsüchtige junge Offizier Marquis de Vauvenargues eine verwahrloste Stube mietet, als in seiner Maxime: „Habe Seele!" Pascals Schmerz wieder lodert. Und vollendet ist der Zusammenbruch, als Beyle, dem Tapfersten, Duclos „zu kalt" erscheint, als ihn Mozart zu Tränen rührt und das Läuten der Glocken. Im neunzehnten Jahrhundert gab es den Witz aus ver- borgenem Gefühl. Freien, schwebenden Sinn, der das die Empfindung Zerreißende überwinde, hatte er für Goethe be- deutet. Das „schimmernde Fort- und Überströmen einer 148 DER WITZ warmen Gewitterwolke" nennt ihn Jean Paul. Aber schon Friedrich Schlegel muß die Kraft des Witzes lyrischer be- schwören: „Wenn man nicht scherzt und tändelt mit den Elementen der Leidenschaft, so ballt sie sich in dicke Massen und verfinstert alles." In der Rolle des Spaßmachers rief Heine auf dem Seinedampfer: „Fürchten Sie nichts, meine Damen, wir stehen unter dem Schutze des Gesetzes", verglich er Frau K. einem Pantheon, drin große Männer ruhen, sagte er dem Arzt, er habe keinen Geschmack wie Herr Scribe, und starb er mit der Sentenz von Gottes Metier zu verzeihen. Aber an Wohlwill schrieb er: „Mein Leben war brütendes Versinken in den düstren, nur von phantastischen Lichtern durch- blitzten Schacht der Traumwelt; mein äußeres Leben war toll, wüst, zynisch, abstoßend, mit einem Worte: ich machte es zum schneidenden Gegensatz meines inneren Lebens, damit mich dieses nicht durch sein Übergewicht zerstöre." In Merimee, dem abgehärteten Causeur, war die Scheu lächer- lich zu werden. Anatole France, der witzigste Kopf im Frank- reich von heute, hat die geduckte List des Epigonen, der schon zu dem unwitzigen Volksredner Jean Jaures übergeht. Die stärksten Geister verraten ihr schlechtes Gewissen, in einer Welt Geist zu haben, deren Drang Zolas Tagesordnung: „Ein Genie darf überhaupt nicht witzig sein" kennzeichnet, und die Becque oder Barbey, die witzigen Schlemihle der Literatur, als Sonderlinge haßte. Die Gegenwart hat die Schriftsteller zu Spezialisten ge- macht und den Witz zum Gewerbe. Sogar Oscar Wilde, das Schreckenskind, ist nicht ohne den verstimmenden Hinler- grund zu denken, nicht ohne das Witzblatt „Punch", das er einen Beweis für das Überleben des Thersites genannt hat. Daher die Exzentrizität von Oscars Solonummern, etwa jenes Spaßes aus Branntweinkneipen in Texas: „Man bittet, auf den Klavierspieler nicht zu schießen, da er sein Mög- DER WITZ 149 liebstes tut." Daher die auf Gelächter berechnete Markt- schreierei seiner Reklame: „Oscar beim ersten Frühstück! Oscar beim zweiten Frühstück! Oscar beim Dinner! Oscar beim Supper!" und nachher das würdelose Verkriechen unter dem Namen von Maturins und Balzacs Melmoth. Das Feld behaupten die Lustspielschreiber, die jetzt Wildes Komödien nachahmen wie früher die Dramen des Räsonneurs Dumas, und die von Gott geschlagenen Verfasser unserer Operetten. 10 Frau von Kalergis. Über Marie von Mouchanoff-Kalergis hat ein englischer Diplomat geschrieben: „Eine Persönlichkeit gab es in Baden-Baden von so auffallender Art, daß ich versucht bin, sie zu schildern. Es war Madame Kalergis, eine Kusine zweiten Grades von meinem Vater, von Geburt eine Deutsche (eine Nesselrode), durch Heirat Griechin, der Erziehung nach Russin, im Herzen Polin (die Nationalität ihrer Mutter). Sie war schön, vom blondesten Blond, von nahezu sechs Fuß hoher Gestalt. An Verstand glich sie einem Staatsmann, an musikalischer Begabung konnte sich keiner unserer Musik- freunde mit ihr messen. Eigenschaften, um derentwillen ihre Gesellschaft stets begehrt, ihr Pariser Salon von allen wissenschaftlichen, musikalischen und politischen Größen besucht war." Theophile Gautier hat in der Symphonie en blanc majeur diese Weltbürgerin gefeiert. Als eine der Schwanenfrauen vom Rheinstrom erschien sie dem romantischen Tizian, die, wie die nordischen Sagen erzählen, ihr Federgewand an einen Zweig hängen und in noch lichterer Nacktheit dastehen, als eine Schwester Seraphitas, gleich dem Mond auf Gletschern schimmernd, als Madonna vom Schnee, als weiße Sphinx, unter der starren Wucht der Lawine begraben. So rätselhaft war ihre unbewegte Ruhe ihm, daß er fragte, wer dieser gnadenlosen Weiße einen rosigen Hauch werde abzwingen können. Im ,,Romanzero" umschwärmte Heinrich Heine mit dem Aufgebot von Bildern, das er bei solchen Obsessionen fand, die große Diana und den stolzen Bau ihrer Glieder. Er reimte, sie zu verherrlichen, Pilaster und Alabaster, Taber- nakel und Makel, er pries sie als Gott Amors kolossale Dom- kirche, als Kathedrale der Liebe, als die Gräfin Bianca im Frankenland, um die sehnsuchtsvoll der weiße Elefant von FRAU VON KALERGIS 151 Slam traure. Niemand wagte es, der germanischen Slawin eine andre Unvollkommenheit vorzuwerfen als ihre Kurz- sichtigkeit. Beim Sprechen pflegte sie ihre großen blauen Augen zuzukneifen. Aber auch dieser kleine Fehler erhöhte den Eindruck ihrer Person. Schon als Kind war Frau von Mouchanoff in die Unruhe hineingeraten, die später ihr Lebenselement wurde. Ihre Eltern, Graf Friedrich Nesselrode, russischer Generalleutnant und Kommandant der Gendarmerie in Warschau, und Gräfin Thekla Nesselrode, geborene Natecz von Gorska, trennten sich. Die Mutter zog nach Paris, wo sie 1848 starb. Mit zehn Jahren wurde Marie nach Petersburg geschickt, ins Haus ihres Onkels, des Reichskanzlers Grafen Karl Nessel- rode, der in der ganzen Familie das hervorragendste Beispiel dafür war, wie man, mit lauter deutschen Ahnen, eine Stütze des Zarentums wird. Seine Gemahlin, eine Gurjew, hatte strenge, altmodische Sitten, Mit den Töchtern, den nach- maligen Gräfinnen Chreptowich und Seebach, wuchs die blonde Marie auf. Ihre ein bißchen wilde Lustigkeit, ihr mädchenhafter Reiz, ihr musikalisches Talent verschafften ihr manche frühe Huldigung; aber auch Neid mischte sich ein, denn ihren Kusinen war sie unbequem. Als man schon davon sprach, daß sie als Pianistin sich eine Existenz werde suchen müssen, meldete sich ein reicher Bewerber, ein Grieche, der kleine, häßliche Herr von Kalergis, dessen Name noch an die Besitzer des venezianischen Palazzo Vendramin erin- nert, besuchte ein paar Abende den Salon der Tante und sah sich die drei Komtessen Nesselrode an. „Die große Blonde", sagte er, ,, gefällt mir am besten, und ich wünsche sie zu heiraten." Dann folgte die bekannte Szene aus französischen Schauspielen, in der man jungen Damen mitteilt, was über sie beschlossen worden ist. Marie will sich empfehlen, da hört sie ihre Tante rufen: ,, Bleiben Sie, ich habe mit Ihnen 10* 152 FRAU VON KALERGIS zu reden. Herr von Kalergis bittet um Ihre Hand. Er ist ein braver Mann, er hat ein staltHches Vermögen, und ich glaube, Sie werden mit ihm glückHch sein." Die kleine Braut hat keine Wahl. Vielleicht, daß die Plötzlichkeit sie auf fünf Minuten verwirrt. Aber sie denkt an Federn, Diamanten und Kaschmire, die das Glück der Jungvermählten sind, und sie freut sich, so schnell dazu zu kommen. ,, Stellt euch vor, ich bin verlobt!" berichtet sie im Schlafzimmer ihren Kusinen, die lachend entgegnen: „Ach, wie amüsant!" In der Kapelle des Ministeriums des Äußeren wurden Herr und Frau von Kalergis vermählt. Nach ein paar Monaten wiederholte sich in Mariens Ehe, was sich in der Ehe ihrer Mutter erreignet hatte: die Trennung wegen unlösbarer Miß- verständnisse. Im Januar 1840 wurde eine Tochter geboren. Herr von Kalergis zog zu seiner verehrten Mama nach Lon- don, wurde englischer Bürger und änderte seinen Namen in Kalergi um. Er lebte bis zum Sommer 1863. Seinem Tode ging ein langwieriges Leiden vorauf Er starb allein. Frau von Kalergis erkundigte sich in einem Briefe, ob denn für einen priesterlichen Beistand in der Todesstunde gesorgt worden sei, und fuhr fort: „Nun wird diese arme, unstete Seele im Schöße Gottes Ruhe und Frieden gefunden haben. Er war sehr wohltätig und hat wissentlich niemandem etwas zuleide getan. Seine Neigungen waren harmlos, seine Über- zeugungen manchmal widersinnig, doch immer edel, und obwohl er unter seinem Mißtrauen gegen die Menschen ge- litten hat, liebte er die Menschheit und nahm am Leiden anderer teil." Zwei Jahre vorher hatte die nun Verwitwete Herrn von Mouchanoff, der im Rang eines Obersten stand und Polizeimeister der Stadt Warschau war, kennen gelernt. Sie war damals „traurig, verdrossen, entmutigt". Die Toggen- burgerei des Russen schien ihr kindlich. Sie glaubte, er werde auf andere Gedanken kommen, wenn er erst das trostlose FRAU VON KALERGIS 153 Warschau mit einem kultivierten Milieu vertauscht haben werde. Aber Herr von Mouchanoff war sehr treu. Er blieb während einer Krankheit, die sie entstellte, in ihrer Nähe, und so ergab sie sich seinen Bemühungen, die einen „eisernen Willen und die Sanftmut eines Engels" vereinten. Schon im September 1863 heirateten sie. „Seit vorgestern bin ich also vermählt," schreibt sie aus Mainz. „Ich bin ganz erstaunt, nicht mehr frei zu sein, bin noch etwas in Angst und zweifle fast an meiner Identität. Mouchanoff war in dieser ganzen, so schwierigen letzten Zeit anbetungswürdig." Seine Freude war so groß, daß er alle Welt beschenkte, die Kammerfrau Elisa so reichlich, daß die junge Frau von Mouchanoff ihm wehren mußte. „Unter solchen Umständen ist der Slawe un- zurechnungsfähig", bemerkt sie in einem Brief. Ihr Vater wollte sich in die zweite Heirat seiner Tochter nicht recht fügen. Er war der Ansicht, keine andere Frau sei so wenig für die Ehe geschaffen wie sie. Aber es sei Gottes Wille. Unfaßlich jedoch war ihm ihr Verzicht auf einen Namen, dem sie bereits zur Berühmtheit verhelfen habe: „Sie hätte, ohne zu übertreiben, wie Frau von Stael sprechen können, als sie dem Herrn von Rocca ihre Hand gab: .Meinen Namen muß ich aber behalten, sonst wüßte Europa nicht mehr, wie es dran ist.*" Im Jahre 1868 fand Herr von Mouchanoff einen neuen Beruf. Er wurde, nachdem erlangeinaktivgewesen war, zum Staatsrat und zum Intendanten des kaiserlichen Theaters in Warschau ernannt. Von inneren Störungen war die Ehe nicht frei. Frau von Mouchanoff hatte jahrelang heftige Nervenkrisen, die tragische Zwischenfälle wahrscheinlich machten. Im März 1864 mußte sie einem Sanatorium in Illenau bei Achern überwiesen werden. Die Prophezeiung ihres Vaters bewahrheitete sich. Aber es kam eine spezielle Ursache ihrer Schwermut hinzu: Reue aus Patriotismus. Die Polin in ihr verklagte sich des 154 FRAU VON KALERGIS Verrates an dem Volke ihrer Mutter. Sie war immer eine Feindin der Russen gewesen. In Paris hatte sie vor Zorn geweint, als sie mit Thiers und zwei russischen Damen sich über Politik unterhielt, und bei einem Diner in Warschau, das Herr von Mouchanoff ihr und seinen Freunden gab, hatte sie den Russen voll Erbitterung eine Lektion erteilt: „Es ist töricht von mir, daß ich mich über Sie ärgere, meine Herren, denn Sie gehören keinem zivilisierten Lande an, und Sie ahnen nicht, was die gute Gesellschaft ist, von der man hier keine Spur findet." Sie hatte Papiere von Verschwörern bei einer Haussuchung in ihrer Hutschachtel versteckt und mit den Jünglingen und Damen Warschaus sympathisiert, die in schwarzen Kleidern um das Unglück ihres Vaterlandes trauerten. Nun bedurfte es einer seelischen Reaktion, bevor die entnationalisierte Aristokratin zur Gegenseite gehörte. Sie warf sich noch später vor, daß sie durch ungerechtfertigte Verzweiflung, durch ein Jagen nach Chimären gefehlt habe. Aber sie beruhigte sich im Gefühlsaustausch mit ihrer Tochter Marie, die in Paris mit dem kaiserlichen und königlichen Gesandtschaftsattache Grafen Franz Coudenliove die Ehe schloß, und ihrem stets korrekten und zuverlässigen Schwie- gersohn. Sie hielt Marien vor, daß sie nun als Österreicherin Werke über österreichische Geschichte lesen müsse: „II faut toujours se faire pardonner d'etre etrangere dans un pays." Als Coudenliove sich vom diplomatischen Dienst zurückzog, erwarb er Ronsberg in Böhmen und errichtete dort ein Majorat. Frau von Mouchanoff riet ihm dazu; es sei am besten, wenn der älteste Sohn reich und unabhängig sei, um durch diesen Einfluß seine Brüder zu fördern. Graf Coudenliove solle aus jedem seiner Söhne einen Spezialisten machen, nicht einen Dilettanten. ,,Sie sind unzufrieden mit dem Ministerium," so dozierte sie, ,,Sie glauben vielleicht, daß es in Österreich sich nicht lohnt, sich mit dem politischen Leben zu befassen. FEIAU VON KALERGIS 155 Aber Sie wissen nicht, ob Ihre Kinder derselben Meinung sein werden." In Wien war dem Paare der erste Sohn ge- boren worden. Es ist Heinrich Graf Coudenhove-Kalergis, der Zögling von Kalksburg, der Diplomat und Japaner, der in Tokio Fräulein Mitsu Aoyama heiratete, zwei seiner Söhne Mitsutoro und Eijro nannte, bevor er sie in Johann und Richard umtaufte, mit der Schrift: „Über das Wesen des Antisemitismus" an der deutschen Universität in Prag promo- vierte und im Mai 1906 verschied. Frau von Kalergis-Mouchanoff hatte das halbe Europa ge- sehen, den preußischen König und deutschen Kaiser Wil- helm, den Kaiser Napoleon, den sie wie den General Cavaignac entflammte, und bei dessen Paraden sie hoch zu Roß daher- gesprengt kam, die Kaiserin Eugenie, die sie in Baden zu ihrem Extrazug geleitete, den Baron Rothschild, bei dem sie soupierte, den Zaren Alexander, den Großfürsten Konstantin und später in Warschau den Kaiser Franz Joseph, den pas- sionierten Bärenjäger. Sie war die Intima Gortschakoffs, sie kannte seit der Petersburger Zeit Herrn von Bismarck, den „angenehmen Gesellschafter", dem sie schließlich auch seine rücksichtslose Größe verzieh (obwohl sie von der Königin und Kaiserin Augusta wußte, wie sehr dieser der Staatsmann verhaßt war), und sie beklagte den stoischen General Moltke, als er seine junge Frau verlor. Sie hatte Kaulbachs Glanz erlebt, und sie ließ sich im Alter von Lenbach malen, zu dessen spirituellsten Werken das Porträt dieser noch immer schönen, langsam verwitternden Frau gehörte. Sie ahnte Böcklin, der noch kein gewaltsamer Kolorist, sondern ein elegischer Lyriker der Landschaft war, und Nietzsche, den „charmanten Professor aus Basel", der sie nur zu „meta- physisch-pantheistisch" dünkte. Sie, die Warschauer „Thea- termutter", war die Schutzpatronin von Musikergenerationen. Sie weinte beim ersten Akt des „Lohengrin", den König Max 156 FRAU VON KALERGIS von Bayern in München aufführen ließ, sie verkehrte mit Wagner in Paris, wo er sich mit Rossini zankte, wurde die Freundin des theatraUschen Gesamtkünstlers, der ihr seine Schrift widmete: „Das Judentum in der Musik". Sie war bei den Proben zu den ,, Meistersingern". Sie saß mit Wagner und Frau Cosima in Triebschen, wo sie die Skizze zum „Parsifal" las und Wagner sich in sächsischem Dialekt gegen die Verleumdung wahrte, daß er ein ,,Cassanova" sei. Sie hörte in München den „Ring" und wohnte bei Wagners in der Villa Fantasie zu Bayreuth, das schon zu einem „neuen Mekka" sich umwandelte. Wagners, des Musikkaisers, „Agentin im Slawenlande" nannte sie Liszt, dem sie schon in Warschau nähergetreten war, als er die Fantasie: „Noch ist Polen nicht verloren" improvisierte, und dem sie als leidenschaftliche Schülerin anhing. Sie wurde, als sie ver- welkte, ein wenig stark, sie lahmte und ging auf Krücken. „Plus fee d'esprit que jamais", nannte der Abbe Liszt die weiße Schwanenfrau kurz vor ihrem Tode. ,,I1 est plus aise d'aller au devant de la mort que de supporter les peines de cette vie", äußert sie in einem ihrer letzten Briefe. Der Don Qui- chotte Herr von Bülow saß, als sie starb, im Nebenzimmer am Flügel und spielte der schon Verklärten die magischen Melo- dien des Polen Chopin vor. Propheten. John Alexander Dowie, der vor sechs Jahren in Chicago gestorben ist, war ein Gründer, ein Klopffechter, ein Schwärmer und ein Narr. Aus Edinburg stammte er, in Adelaide und Newtown bei Sidney hat er auf seine Mission sich vorbereitet. In Melbourne hat er erstmals sein Taber- nakel für die Austreibung der Teufel errichtet, auf der Welt- ausstellung in Chicago hat er seine Bretterbude aufgeschlagen. Als Elias III. wurde er Sektenkönig wie der Fürst der Wieder- täufer in Münster Johann von Leyden, wurde er Papst der Christian Catholic Church von Zion. Er kaufte in der „Weißen Stadt" das ,,Zion-Hotel" und verdiente glänzend, er errich- tete die „Zion-Bank" und sammelte große Kapitalien. Er wanderte nach dem Michigansee und baute für seine zehn- tausend Schüler und Schülerinnen die „Zion-Stadt". Er schickte einen englischen Spitzenfabrikanten Samuel Steven- son wieder heim, nachdem er ihm seine Schwester und seine Industrie abgenommen hatte, er war der Hauptaktionär seiner Bonbonfabrik und aller übrigen Unternehmungen. Und er war der auferstandene Elias, der Stellvertreter Gottes auf Erden. Die Debäcle begann, als er vergebens seiner schwarz- betreßten Leibgarde Bibeln statt der Seitengewehre um- schnallte und sie zum Kreuzzug gegen die Empire City von Newyork führte. ,,Ich gebiete euch, zu bleiben", brüllte er, als die Spottlustigen seinem Zirkus entliefen. Er predigte in London und in Berlin. Man verlachte ihn. Dann kam der Sturz. Während er in Mexiko weilte, waren fünftausend seiner Anhänger von ihm abgefallen. In vierundachtzig Fällen, so sagten sie, habe er Geld unter falschen Vorspiegelungen errafft. Und Frau Dowie selbst stand auf. Sie sagte, daß der Prophet einen Harem von sieben Weibern habe. Mit 158 PROPHETEN einer zarten Schweizerin, Ruth Hofer, hatte sie ihn ertappt. Und dann fand man zweiundvierzig Briefe, in denen der ,, Wiederaufrichter" des Gottesreichs seine GeKebte anredete: „Mein Klumpen Gold" oder schwor: „Der Herr hat Dich dem ersten Apostel der christlich-katholischen Kirche gegeben, und ihm gehörst Du." So oft er von einer Scheidung hörte, schrieb er der Unbekannten, sie solle zu ihm kommen; er werde für alle sorgen. Indezente Gesten sollte er biblisch maskiert haben. Und in seiner Wohnung stöberte man einen Haufen französischer Bücher auf. Auch zweifelte man an seiner Mission, weil er einen Schlaganfall gehabt hatte. Dann geschah im Bethaus von Zion City die Katastrophe. Er wurde tobsüchtig. Ein paar Riesen mußten ihn überwältigen und in Fesseln wegführen. Er wurde entthront. Er war ein hysterisches Genie. In seinen Versammlungen schmetterten Trompeten das Halleluja dem großen Baal zu Ehren. In einer Toga mit weit herabfallenden Ärmeln trat er auf; er hatte ein Bäuchlein, obwohl er das Schweine- fleisch verbot, er warf sich auf die Knie, er schnob und lachte wie die Besessenen der Evangelien, in die der Geist der Säue gefahren ist. Aber derselbe Mann ließ, um seiner Bonbonfabrik einen Riesenabsatz zu sichern, den inspirierten Zahnarzt von Zion City erklären, es sei ein Irrtum, daß Caries der Zähne vom Genuß von Süßigkeiten herrühre: „Gebet euren Kindern Candy und genießt sie selbst!" Elias Dowie war ein Prophet und ein Industriekapitän großen Stiles. Das Mormonentum ist eine Spielart des Kommunismus, und es ist nicht die jüngste. Im September 1907 haben die Heiligen der jüngsten Tage ihr achtzigjähriges Jubiläum ge- feiert. Am 22. September 1827 grub Joe Smith im Hügel Cumora bei Palmyra die „heiligen goldenen Tafeln" aus, PROPHETEN 159 deren Versteck ihm des Engels Finger schon vier Jahre vor- her bezeichnet hatte. Und auf die Nase setzte er sich die Wunderbrille „Ürim und Thummim", die keine Gläser hatte, sondern durchsichtige Steine. Mit ihrer Hilfe las er, der des Lesens unkundig war, die Tafeln und die Zukunft. Diese „goldenen Tafeln" sind ein Roman, dessen Autor ein ver- abschiedeter englischer Priester war, und dessen Manuskript Smith von einem Buchdrucker Sidney Rigdon, einem seiner glühendsten Jünger, empfing. Sie beschrieben, wie Lehi, ein Jude, zur Zeit der Könige aus Jerusalem nach Amerika kam, wie sein Sohn Laman Stammvater der Rothäute wurde und Nephi Stammvater der Christen, zu denen der auf- erstandene Heiland selbst gereist ist. Aber dann gerieten die Nephiten in Verfall. Mormon, dessen Name ,,mehr als gut" heißen soll, war ihr Führer und ihr Held. Bis zum Jahre 1847 haben Smith und seine Getreuen gegen ihre Widersacher sich behauptet. Sie wurden verjagt, weil sie sehr boshaft waren. Eine ihrer Städte wurde zerstört, und nur nach ärgster Mühsal gelangten sie zum Großen Salz- see, von dessen Bezirk einst der Erzengel Gabriel mit seiner Posaune zumWeltuntergang blasen wird. Die Rothäute boten ihnen die Friedenspfeife an, und ein Häuptling zog mit seinem Stock Runen in den Wüstensand, um die Fremden die Ele- mente der Kanalbaukunst zu lehren. Die heilige Schar grün- dete ihr Reich. Sie machte auf die Raubtiere Jagd, die in den Bergen lauerten, wich den Tomahawkschwingern aus und wehrte die Unionstruppen ab. Die Organisation der neuen Gemeinschaft versprach, ,, glückliche Heimstätten auf Erden" zu schaffen; sie ist schlau und tyrannisch. ,,Die Mormonen zahlen ein Zehntel ihres jährlichen Einkommens oder werden wegen Abweichungen aus der Kirche ausge- stoßen", wurde noch 1895 verkündet. Die Reichtümer der Heiden sind dem Volke Gottes geweiht, „das aus dem Hause 160 PROPHETEN Israel ist". Die Kolonie war eine Sammelstätte, in der man sich auf die Ankunft des Herrn vorbereitete. Der Gemein- besitz war nicht lückenlos. Den kleinen Besitzern, die ihres Weinstocks und ihres Feigenbaums auf biblische Art sich freuten, wurden Zugeständnisse gemacht. „Binde das Kalb zu Hause an, und die Kuh wird sich nicht verirren; wo eines Mannes Besitz ist, da wird auch sein Herz sein", wird in den ,, Heiligen der Felsenberge" eingeräumt. Schon in der heroischen Zeit gab es ein Zuchtmittel. Neben den hier- archischen Stufen, der höheren Melchisedeks und der niederen Aarons, neben der Präsidentschaft, den Aposteln, den Patri- archen, den Ältesten war die Gilde der ,,Daniten", der ,, Engel der Zerstörung", als Kriminalpolizei tälig. Die Mitglieder durften mit den „Außenstehenden" Geschäfte nicht ab- schließen. Die ,, Widerspenstigen" prügelte der Teufel. ,,Die Hand des Herrn wurde gegen sie erhoben, bis sie in Sack und Asche Buße taten." Die Vielweiberei wurde durch Brigham Young geheiligt, dem der Engel offenbarte, die Kinder der Geister seien der irdischen Körper, der „Tabernakel", be- dürftig, weshalb der Mormone sich möglichst viele Frauen „ansiegeln" solle. Vielleicht steckt eine monströse Frechheit in diesem Einfall des Mannes, der die Gemeinde in den Kapi- talismus hinüberleitete, der unterschiedslos ein Faß Brannt- wein, einen Regenschirm und zwölf Milchkühe als Geschenk annahm und zwei Millionen Dollars, siebzehn Frauen, sechs- undvierzig Kinder hinterließ. Vielleicht ist das Gebot die Selbstpersiflage des Aposteltums, dessen Grundsätze auf den Traum der buddhistischen Mönche hinausliefen: „Sie waren glücklich, saßen und wurden dick." In neuer Zeit haben es die Mormonen am Salzsee zu einem maurischen Badehaus mit einem dreitausend Quadratmeter weiten Tanzpavillon gebracht. Sie sind Großaktionäre und lassen die Missionäre für sich arbeiten, die aus dem „Stän- PROPHETEN 161 digen Auswanderungsfonds" bezahlt werden. Früher und offener als die Salzstadtmenschen haben ihre Gesinnungs- verwandten im Staate Newyork, die Perfektionisten von Oneida, die „All-Ehe" widerrufen. Sie waren schlichte Hand- werker, denen ihr Haupt, John Humphrey Noyes, gesagt hatte, unter wahren Christen müsse jedes Weib allen Män- nern, jeder Mann allen Weibern gehören. Das sollte der Ehe- tyrannei und den Scheidungen ein Ziel setzen. In täglichen „Kritisierversammlungen" wurden den sinnlichen und ego- istischen Mitghedern der Gemeinde die Köpfe gewaschen. Der Tabakgenuß wurde den Männern verboten, da der Kom- munismus zur Einführung des Rauchens der Frauen ge- zwungen hätte und diese Alternative „unannehmbar er- schien". Dem ersten Bedenken ist 1879 der prinzipielle Verzicht auf die Wohltaten der All-Ehe nachgefolgt. Die Mormonen folgen dem Koran und seiner Nachsicht für die- jenigen, die eine gerechte Verteilung ihrer Person auf mehrere Weiber sich nicht zutrauen und die Strafe, nur mit halbem Körper selig zu werden, fürchten. Den General Booth empfingen, wenn er auf der Tribüne irgendeiner Satansburg vor seiner Armee erschien, leise Juch- zer, stürmische Halleluja und wehende Tücher, ein Gemisch von Kanarienvogelzwitschern und dem Lärm der Rennbahn. Sein schneeiger Bart zitterte wie der Bart des Geistes im „Hamlet". Unter seiner Habichtsnase stieß er mit knarren- der Stimme, in unveränderlichem Tonfall Worte aus, die vorher sein zahnloser Mund zerkaute. Ordnungslos war seine Rhetorik, die Rhetorik der Straßenprediger an den Ecken und Plätzen von London. Taine hat sie bei seiner Reise über den Kanal beobachtet, als Booth seinen Kriegs- ruf noch nicht hatte erschallen lassen. Diesen Gentlemen, 162 PROPHETEN die mit Bibel und Schirm spazieren, dankt die Salvation Army ihre Regel des direkten Angriffs, der ,, Bearbeitung" der Menschen. Psalmengesang unter freiem Himmel, Pla- kate an den Mauern mit der riesigen Überschrift: „Come to Jesus now": das alles war schon da. Es wurden auch schon in Freiheit dressierte Sünder herumgereicht, die sich zum Evangelium zurückgefunden hatten und laut erklärten: ,,Ja, meine Brüder, ich bin ein öffentlicher Sünder gewesen, nun ist mir die Gnade des Herrn zuteil geworden." Aber erst der General Booth hat das Verfahren der ,, Erweckung" zur Vollkommenheit gebracht. Bei den Methodisten war ur- sprünglich sein Amt. Dann verliebte Miß Catherine Memford, eine Antialkoholistin, sich in ihn, weil er in einer frommen Teegesellschaft das Gedicht „Der Traum des Schnapshänd- lers" so begeistert vortrug. Sie heirateten, sie bekamen eine achtbare Zahl von Kindern, und sie gründeten die Heils- armee, die ,,Halleluja-Pvotte", die mit wütender Inbrunst und Trommelwirbel um die Seelen verstockter Sünder rang. An der Spitze ihrer Getreuen zogen sie in die Massenquartiere und „retteten". Kein Milieu wurde für den Bekehrungsakt verschmäht; die Straße, die Stube, das Eisenbahncoupe waren die Stätte des religiösen Wunders. Fauchend wichen vor ihren Psalmen, ihren Teemarken, ihrer Gymnastik, ihren Traktätchen die Kreaturen der Hölle zurück. Der gute Booth war der echte Geistliche für „dissenters", für die Schäflein der freien Kirchen, und sein Stil der fos- sile, judäische Posaunenstil, mit dem vor Zeiten die Mauern Jerichos erstürmt wurden. Er kämpfte gegen den Stolz der Amoriter, den Neid der Hethiter, den Zorn der Pheresiter, die Schwelgerei der Girgasiter, die Wollust der Hevither, die Habsucht der Kananiter, die Lauheit der Jebusiter. In London, in Washington, in der Heimat der „Christian Science", der Gebetsheiler, ward sein barockes Eifern mit PROPHETEN 163 freudigem Hallo begrüßt. Wenn er vor der Hölle warnte, wenn er die „daughters of shame", die Töchter der Schande, mit väterlicher Geduld strafte, wenn er ,,vom weißen Throne" Gottes sprach und von den „goldenen Straßen" des Himmels, da bediente er sich des Lexikons der großen Puritaner. Er sagte, wie er einst allein gestanden habe in der Finsternis, wie der Teufel frohlockte, wie das Volk dahinstarb, bis er in den Ozean des Lasters hineinsprang. Und es waren die Metaphern Bunyans, des Kesselflickers und Verfassers der „Pilgerreise", der, wie um 1880 der Salutistengeneral, um 1680 mit Bildern von Lagern, Trompeten, Fahnen und Gar- nisonen sich in religiöse Ekstase versetzte und nach Macaulay den goldenen Himmel sich lärmend und glanzvoll dachte wie das alte London am Lord-Mayorstage. „Sind Sie in Ord- nung? Oh, oh, what are you doing? Beeilen Sie sich? Kom- men Sie zum Kreuz!" Und wenn der Salutistengeneral unter dem Tusch der Kapelle und schmetterndem Tireli der Mäd- chen seinen Platz räumte, war es, als habe man die Kari- katur eines Menschen aus Cromwells kriegerischem Jahr- hundert geschaut. Der Tag, an dem die Führerschaft aus den Händen des Alten auf Bramwell Booth überging, hat die heroische Zeit der Sekte beendet. Die Mystik, die Taine für wohltätig er- achtete, weil die Überzeugung, die in ihr lebt, unterdrückt sich in Schwermut und Aufruhr verwandeln würde, verfliegt. Als eine riesige Konsumgenossenschaft wird die Salvation Army ihre ökonomische Macht behaupten. Shaws Heils- armeeslück „Major Barbara" und die Einleitung dazu, von einem irischen Skeptiker mit dem Geschäftssinn eines Voll- blutengländers geschrieben, ist die erste Kritik dieser neuen Heilsarmee, dieser Heilsarmee ohne William Booth. Eugenie. Die junge Eugenie Guzman y Palafox und ihre Schwester Paca wurden zuweilen von Monsieur Beyle, den Mon- sieur Merimee eingeführt hatte, aufs Knie genommen. Er schmunzelte so onkelhaft, daß sein italienischer Fleischer- kopf trotz des dicken Bartes den kleinen Mädchen gefiel, sprach ihnen vom Kaiser Napoleon und gab ihnen einen bunten Bilderbogen, die Schlacht bei Austerlitz. Bei Sala- manca war ihr Vater verwundet, unter dem siebenten Fer- dinand zum Granden erhoben worden. Die neuen und tönen- den Titel eines Grafen von Teba und Montijo, Herzogs von Penaranda, rollten hinter dem heraldischen Namen, den nun die Witwe, Maria Manuela Kirkpatrick, die Tochter des schottischen Südfruchthändlers, in London und Paris, in spanischen und französischen Seebädern zur Schau trug. Als Eugenie dreizehn Jahre alt war, schrieb sie von Madrid an Monsieur Beyle einen Brief, worin sie ihm mitteilte, daß ihr Vaterland durch den Karlismus sehr erregt sei, aber alle Welt den Frieden wünsche. Sie lerne jetzt malen, und sie und ihre Schwester hofften, lachen und arbeiten zu können wie in früherer Zeit. Paca berichtete, ihre Altersgenossinnen seien dumm und hätten nur Sinn für Klatsch und Toiletten. Dann zeigte sie, daß für sie selbst wie für Eugenie der histo- rische Unterricht durch Monsieur Beyle nicht nutzlos ge- wesen war: „Sie müssen jetzt sehr zufrieden sein, wo man die Asche Napoleons heimbringen wird. Ich bin es auch und möchte wohl in Paris sein, um diese Herrlichkeit zu schauen." In den August 1840 fällt eine Antwort Stendhals an Eugenie. Wieder einmal war in Barcelona geschossen worden. Monsieur Beyle prophezeite seiner Schülerin, daß sie ihr Leben lang alle vier Jahre einen solchen „petit acci- dent" sehen werde. Er erinnerte sie an Napoleons Einzug EUGENIE 165 unter den Berliner Linden und empfahl ihr statt der faden keepsakes die Medaillenköpfe der römischen Kaiser. Er tröstete sie über die durch die spanische Revolution der Gräfin Montijo aufgelegte Vermögenseinbuße: „Am besten wäre es, nicht mehr daran zu denken. Mit fünfundvierzig Jahren werden Sie einen solchen Entschluß sich abzwingen müssen; es wird sein, wenn die Vorboten des Alters kommen. Die Frauen kaufen sich dann einen kleinen englischen Hund und reden mit ihm. Ich würde lieber tausend Bücher kaufen." Aber er warnte Eugenie vor der Schriftstellerei. Als die Töchter der Maria Manuela heiratsfähig waren, liebten sie beide den Herzog von Alba. Der Herzog wählte Paquita, Eugenie nahm Gift und genas. Im Juli des Jahres 1852 kam sie, melancholisch lächelnd, stolz und sanft mit der Mutter nach Eaux-Bonnes in den Pyrenäen. Sie war die Fee der Dörfler, die Almosen heischten, und ein Blinder, dem sie zwei Goldstücke gab, dankte ihr mit dem Wunsche: „Der liebe Gott lasse Euch Königin werden!" Nach sechs Monaten hatte diese Szene aus einem blauen Roman von Feuillet sich verwirklicht. Der spanische Bankier Aguado in Paris bewarb sich um die stolze und sanfte Schönheit, doch er ließ ab, als er hörte, daß Louis Napoleon hinter ihr her sei. Im Salon der Prinzessin Mathilde, seiner Kusine, hatte der Prinzpräsident mit erloschenen und begehrlichen Augen das Fräulein von Montijo geprüft. „Ein Fräulein von Montijo liebt man, aber man heiratet es nicht", schrieb er an seinen Vetter Jeröme, der um die Hand der Anda- lusierin bitten wollte. Ihr zögernder Flirt trieb ihn selbst bald weiter. „Si je lui avais resiste, je serais imperatrice", lautet im Tagebuch der Goncourts das Witzwort einer Pro- fessionellen. Nach der Mode unter dem sechzehnten Lud- wig kostümiert, auf einem Schimmel, ritt Eugenie mit Louis Napoleon zur Jagd. „Bis die andre da ist!" sagte er im 11 166 EÜGENIE Waldesdickicht von Fontainebleau und setzte ihr eine Laub- krone auf den Scheitel. Die andre kam am letzten Dezember; sie gehörte zum Kronschatz. Am T.Januar 1853 raunte man bei der Fürstin Lieven, die Montijo werde Kaiserin, und als am 12. Januar Madame Drouyn de Lhuys sie von den Ta- bourets der Ministerfrauen wies, stürzte der Kaiser auf sie zu. Blaß, überreizt, hat sie ihr angenehmes Los empfangen. Mit Frau von Montijo übersiedelte sie aus der Numero zwölf am Vendömeplatz ins Elysee. Bei der Ziviltrauung wollte die Herzogin von Hamilton einen Skandal hervorrufen. In der goldenen Karosse Napoleons und der Marie Louise, unter Glockenschall, Geschützdonner und Meyerbeermusik fuhren der Kaiser und die Kaiserin zur Notre Dame. Eugenie hatte einen Reif von Diamanten und Saphiren, den ein Strauß Orangeblüten mit einem langen Schleier krönte. Frau von Montijo, die vergessen worden war, speiste bei ihrer Freundin, der portugiesischen Jüdin Gould. Monsieur Merimee folgte ihr bis Poitiers. Nach einer Fehlgeburt gab Eugenie dem dritten Napoleon den Erben, dessen Geburt er weinend seinem Hofe meldete. Über ihre Tage ergoß sich damals die unmäßige Helligkeit des Korsos zum Bois de Boulogne, für die der Zola von „La Curee" die feineren Künste der Goncourts und der Plein- airisten belauscht hat. In welken Anachronismen lebte noch die Gesellschaft des ersten Kaiserreichs und der Restaurations- zeit. Eine Mumie, lag die Bagration auf ihrer Ottomane hin- gestreckt, in Gazeschleiern, im täuschenden Zwielicht schwe- rer, gelber Vorhänge, und das hochmütige Faubourg Saint Germain saß bei seinen hochmütigen Diners. Aber in den Tuilerien begann der Glanz von neuen Göttinnen. Die Met- ternich, um die ein hitziger Krieg tobte, schuf die Mode der kurzen Röcke, schuf den Tanz „Diable a quatre" und lan- cierte den Damenschneider Worth. Die Kaiserin, der die EUGENIE • 167 „Reine Pesth" und „Madame Risquenville" nur Folie war, lud das spiritistische Medium Hume ein und hörte den Pater Ventura. Sie brachte hochgehackte Stiefeletten, Herrenkragen, Herrenmanschetten, die türkischen Westen, die Entoutcas, die Garibaldibluse, die Baschliks und die grüne Farbe der Eau du Nil. Sie schnitt an der Stirn ihr flammendes Blond- haar ab, das ihr die Kurtisanen neideten, wie sie der Spa- nierin die Schwärzung der Augenlider nachgeahmt haben. Großäugig und kühl, in der Pose, die sie auf dem Repräsen- lationsbild von Winterhalter einnimmt, tändelte Eugenie mit dem Beispiel der Marie Antoinette. Sie war eine Schottin durchaus, keine d'Amaegui, zu der die romantische Jugend von 1830 gebetet hätte, und auch keine fleischliche Isabella. Von der komischen Oper und den Lustspielen Scribes, nicht mehr von Monsieur Beyle, hatte sie ihren Geist; aber als eine aus dem Stamme der Bovary, gegen die sie das Tribunal aufbot, war sie bestrebt, Illusionen über ihre Natur zu er- regen. Als die Bombe Orsinis vor dem Wagen geplatzt war, der das Paar zur Oper, zum Gastspiel der Ristori, hatte tragen sollen, zerrte sie den Kaiser, der mit den Verwun- deten reden wollte, zum Theater und prahlte mit der Gefahr. Sie triumphierte als die schöne Frau mit dem Baby, sie schwärmte für Orsini, den „Mörder in Glacehandschuhen", schluchzte um ihn, verlangte seine Begnadigung und wollte in die Conciergerie des Gefängnisses eilen. Daß sie nach politischer Macht dürstete, hatte schon die Wöchnerin ver- raten, der man die dem Adler im Jardin des Plantes aus- gerupfte Feder holen mußte, womit der Pariser Friede unter- zeichnet worden war. Und erraten hat es der preußische Bundestagsgesandte von Bismarck, der die Tuilerien sehr beschäftigte und von Eugenie schrieb: „Ungemein graziös und lieblich und fabelhafte Diamanten", aber an ManteufFel das Urteil eines französischen Diplomaten über Napoleon 11* 168 EUGENIK und seine Gemahlin berichtete: „Der Mann da verdirbt uns, er läßt einmal Frankreich wegen irgendeiner Laune auffliegen, die die Kaiserin bei ihrerFrühstückstafel vorbringt; man müßie ihnen ein Kind machen, um sie zur Vernunft zu lenken." Donna Eugenia beharrte, auch als das Kind da war, bei ihrer Unvernunft. Sie gab mit einer Wendung ihrer von heißen Troubadours bespähten Schultern die Signale der Eintracht und der Zwietracht. Den Titel einer Regentin wollte sie schon im Orsinijahr, da die Schmeichler sie als Maria Theresia und Blanche de Castille feierten. Erfüllt hat ihre Hoffnung das Jahr 1870, dessen Krieg sie mit dem nun wahrhaft andalusischen Schrei: ,,C'est ma guerre!" erzwang. Dann nahte der ,,petit accident", von dem. einst Monsieur Beyle ihr geschrieben hatte. Doch sie ward sich des Orakels erst bewußt, als der General Mellinet ihr sagte, daß die Garde die Tuilerien nicht schützen könne. Sie tauschte ihre violett gefütterte, mit Gold besetzte Pelerine von Worth gegen einen schwarzen Mantel ein, zog über ihr goldblondgefärbtes Haar eine schwarze Kapuze von Virot und zerknitterte ein tränen- feuchtes Batisttuch. Sie floh, von den Gesandten Melternich und Nigra eskortiert, durch den Pavillon de Flore und die Galerie du Louvre. „Wie seltsam!" flüsterte sie, als sie das Tableau von Gericault sah, den ,, Schiffbruch der Medusa". Endlich waren die Irrenden am Straßentor. Mit der Vorleserin Lebrun stieg sie in einen Fiaker, der nach dem Boulevard Haußmann raste. Ein zweiter Wagen trug sie nach der Avenue Malakoff zu dem Staatsrat Besson, vor dessen Wohnung sie, durch Chloralhydrat verheert, auf die Holztreppe nieder- stürzte, ein dritter nach der Avenue de ITmperatrice, zu dem amerikanischen Zahnarzt Evans, der sie nach dem Seebad Deauville transportierte. Unterwegs, in Riviere-Thibouille, bekam sie eine Stube in einer schlechten Herberge. „C'est vraiment trop dröle", schien ihr, und sie lachte krampfhaft. Renan. Jules Troubat, der Famulus von Sainte-Beuve, schildert in der Revue Bleue, wie im Hause seines Herrn Ernest Renan, den Wahlreisen im Departement Seine-et-Marne entronnen, bei Tisch saß. Hier sprach der ehemalige Cure, der Sohn einer Gascognerin, der zur „galejade" neigte. Er staunte, daß ein Politiker, Herr de Jouvencel, für feine Weine höheren Eingangszoll begehrte als für gewöhnliche, denn er, der Aspirant um Calibans Gunst, hatte diese Fragen niemals studiert. „Bei Tisch", bemerkt Herr Troubat, ,,nahm Renan von irgendeinem Wein. Er machte keinen Unterschied, griff zur Flasche, die neben ihm stand, und goß sich in irgend- ein Glas. Sein Geschmack und sein getragener Idealismus erhoben ihn über Gourmetsubtilitäten." Und man hat den Eindruck sanfter, absonderlicher Pedanterie. Die Notizen des Journalisten Adolphe Brisson, „Pelerinage autour de Renan", gehen etwas tiefer. Sie erzählen von seiner Familie, von den Scheffer und Psichari, von dem, was Bris- son durch den Sekretär Abel Lefranc gehört hat, und von dem Kreis um den keltischen Barden QueUien. Der Gealterte wankt durch die Umgebung von Rosmapamon, setzt sich auf eine Bank an der Küste und folgt mit den Blicken einem Schiffe, das nach Norden, zum größeren Keltenland, fährt. Er empfiehlt dem Barden, daß er den Iren ein Lebewohl von ihm, dem Gestrandeten, überbringen solle. Ferner werden die kleinen Bankette erwähnt, die am zweiten Samstag eines jeden Monats beim Bahnhof Montparnasse stattfanden, wo man „des crepes", Pfannkuchen, aß und Apfelwein trank. Renan, der präsidiert, lauscht wehmütigen Strophen, mit denen Quelhen um Feierlichlieit wirbt, dann wird — es ist das Fest der drei Weisen aus dem Morgenlande — der Bohnenkuchen gebracht, und lässig, boshaft, zu Coppee ge- 170 RENAN wandt, predigt der Vorsitzende von jenen Magiern, die Gold, Weihrauch und Myrrhen schenkten. Er weissagt ihnen ein Fiasko, falls sie wiederkämen: ,,Sie wären des allgemeinen Stimmrechtes Opfer. Das allgemeine Stimmrecht ist augen- scheinlich eine schöne Sache. Ich glaube, die drei Könige hätten sich besser in der Bretagne vorgestellt. Da hätte man sie — denn sie waren echte Idealisten — wohl gefeiert. Zweifellos. Man hätte sie einstimmig zu Herrschern jenes Königreiches gewählt, dessen Glieder, dessen treue Unter- tanen wir alle sind, des Königreiches der ewigen Chimäre." Dann fügt es sich beim Zerschneiden des Kuchens, daß sich die Bohne in Renans Stück befindet, und Renan kommt zu Ende: „Mein Gott! Wahrhaftig! Da sehe ich ja, ein bißchen spät, daß ich, als ich auf Balthasars Wohl trank, auf das meine getrunken habe. Wahrhaftig, das rührt mich! Ich bin also König! Mein Zeichen ist die Bohne! Welch köst- liches Königtum ist das der Bohne! Vielleicht gab mir's der Zufall. Aber ich bin glücklicher, als wenn ich durchs all- gemeine Stimmrecht gewählt wäre! Trinken wir denn auf die Bohne! Auf die Magier und den Wald von Broceliande!" Wie Spuk läßt sich das an, mit einer solchen Szene stirbt der konventionelle Renan, ein anderer, der andere, wird wach. Dieser andere ist Märtyrer in einem tieferen Leben als in dem äußerlichen, das er herzlos-eifersüchtig sich ordnete. Ein sparsamer, braver, niemals übelwollender Bürger, ist er fortdauernd so verwelkt, daß er lange den Weg zu sich selbst verlor und einsam der Umwelt ein von schüchterner Höflichkeit verzerrtes Doppelgesicht zeigen mußte, daß er in der Liebeswärme seiner für ihn sterbenden Schwester kein Geschenk sah, daß ihn fröstelte, wie viele Bezirke der Ver- wandlung er auch wandelnd betrat. Niemand hat des guten Greises Unglück geahnt, niemand bemitleidete ihn, daß, wenn er selten, ganz selten die dröhnenden Gottglocken seiner Prä- RENAN 171 existenz schwingen hörte, die Leere ihm erwiderte. Als blas- phemische Tändelei wurde verleumdet, was doch seiner Seele glühendstes Blutgebet war, was in weibischem Seufzen einige Momente flackerte, um schnell erstickt zu werden. Als ein Duldender, Heiliger hat er, der großnasige, kurze Bauern- priester, dessen Hände dem Kritiker Georg Brandes verrieten: „La science est roturiere", in seinem Arbeitszimmer gekauert und die Besucher angelächelt. Sogar bei den Goncourts sind seine Ausbrüche mißverstanden worden, und als frivol-frei- geistiger Gelehrter von Autorität und Jahren maskiert, als typische, wächsern starre Panoptikumfigur mit bandgezier- tem Knopfloch ist er im Gedächtnis seiner Volksgenossen geblieben, der ein armer, zerrissener Verbannter war. Siebzehn Jahre hatte der bretonische Student der Theo- logie, als Auguste Comte sein System erbaute, das den En- thusiasmus mit dem kahlen Verdammnisurteil beseitigte: ,,L'observation Interieure engendre presque autant d'opinions divergentes qu'il y a d'individus croyant s'y livrer." Der Zög- ling des Abbe Frilair hatte noch mit Erinnerungen an die Raubvögel seiner Berge gegen weltliche und geistliche Ver- gewaltigung geschäumt. Der Zögling des schlauen Dupanloup kam in laschere Hände und pries sich einen Begünstigten, weil er der staatlichen Dressur entgangen war. Aber der Schutzbefohlene des Sankt Yves und wilden Sankt Ronan, das Knäblein, dessen Hemdchen die alte Gode über den Teich legte, um zu prüfen, ob es lebenverheißend schwimme, wurde durch die Epoche seiner Heimat, seinem Wesen ent- fremdet. Die Kathedrale Pabu-Tual, des granitene Wahr- zeichen von Treguier, schien dem Heranwachsenden die Ursache seiner Verfälschung. Der Kampf, der diesem Semi- naristen die Reinheit und die Unschuld des naturhaften Ge- mütes raubte, war ohne starkes Echo, die Niederlage eines von jeher Entwaffneten. Nur leise hat er geklagt, als ihn 172 RENAN das grell nüchterne Paris und das Internat verschlangen — ,,der junge Bretone ist schwer zu verpflanzen", hat er später geäußert — , und nach der unwiderruflichen Entchrist- lichung, von der er wie die Jahrhundertkinder bekannt hat: „Der Zusammenbruch meines Lebens hinterließ in mir ein Gefühl der Leere, ähnlich dem nach einem Fieberanfall oder nach einer verratenen Liebe." Im Jahre 1848 dann schrieb der Lehrer am College Stanislas Ernest Renan das „Avenir de la Science", den Kanon der ,, Menschheitswissenschaft". Wie Auguste Comte die „necessite sociale" über die Instinkte und Träume der einzelnen isetzte, machte der junge Bretone einer neuen Religion, der ,, natürlichen Religion", sich Unter- tan. Er begrüßte die Revolution als Ende des Zeitalters der Spontaneität, dem Pedantenwahn einer bewußten Rationa- lisierung des Weltprozesses lieferte er sich aus. Die „Cite de Dieu eternelle" hatten auch die politischen Utopisten vor ihm auf die Erde ziehen wollen. Aber er frevelte an dem Wirklichkeitssinn des französischen Landes, wenn er Natur und Historie als unsittlich, ihren Mechanismus als einen ethischen Skandal verwarf. Sein Begehren zwar war noch immer ,,la conquete de l'ideal". In seinem Schein- triumph und in bleichen Ängsten behalf er sich mit der kargen Ausrede, die UngerechtigkeH werde durch ein Leben im Jenseits getilgt. Er wurde ein laizisierender Pfaffe. Indessen hat seine adelige Persönlichkeit diese Beruhi- gungsmittel nicht ertragen. Der tote Enthusiasmus in ihm züngelte empor. Doppelt, durch vergeblichen Volksaufstand und nachher durch den brutalen Krieg, der ihm „die sittliche Delikatesse der Ulanen und die unleugbare Vorzüglichkeit der preußischen Granaten" beibrachte, strafte ihn das Schick- sal. Das Reich der Vernunft wurde in Stücke gehauen, der rationale Optimismus zerprügelt. Als das zweite Kaisertum die Staatsdemokratie ablöste, hat der Wissenschaftsprophet RENAN 173 des „Avenir", der schon dort die Kaste der Denker von der Masse schied, zaghaft sich zurückgezogen. Er hat die einzige Nutznießung, die im verhängnisvollen Hegeischen Prinzip des „Werdens" für ihn lag, beachtet und ausgeführt, das ger- manische, auf der Geschichte ruhende Recht müsse das revo- lutionäre, gallische, abstrakte Recht wiederum verdrängen. Als durch die preußische Garde der liebe Gott der „vaincu du jour" ihm geworden war, als er seine zürnende Schrift „La reforme intellectuelle et morale" hinaussandte, war seine Theodizee gänzlich zermorscht, die Entthronung vollendet. Jedoch dieser Träumer rettete sich in eine Theodizee des Fiebers und des Wahnwitzes, auch in seinem tragischen Irr- tum ein enthusiastischer Dulder, der vornehmer ist als die namenlose Entgeistigung, wovon er sich abhebt. Es klingt wie der Klaggesang in den Gassen einer von Pompejis Unter- gang bedrohten Stadt, als nahe der Troß der Barbaren. Die erschöpften Intellektuellen, sie, die vom Schatten eines Schat- tens leben, verabschieden sich, und im Abschied packen sie die Hoffnung ein, daß die Menschheit trotz des jetzigen Elends die Illusionen auch künftig sich bereiten werde, die notwendig sind, damit sie ihr Schicksal erfülle. Also blitzt der Fatalismus auf, den Renan sich durch den Götzendienst der Vernunft umdunkelt hatte. Er sehnt sich in das Weltall, das unaufhörlich im Schmerz der Gestaltungen sei, über- quellend wie ein weites Herz von ohnmächtiger und zielloser Liebe. Er predigt in Hymnen, obwohl in Hymnen des Schau- ders, vom Menschen, der wie ein Gobelinarbeiter an der Rück- seite eines Teppichs webe, dessen Zeichnungen er nicht kenne, vom Menschen, der jauchzend sich unter den Wagen des Daseins werfe wie die blumenumflochtenen Inder unter den Wagen ihres Jugurnath. Er feiert das Geheimnis von Leben und Bewegung, die nur ein kleiner Lärm seien, „un Intervalle de bruit entre deux silences". Dann aber schmettern ihn 174 RENAN die großen Wahrheiten nieder. Er sagt, daß die Menge un- reif sei und ein Zustand, wo sie sämtlich klar schauen, un- denkbar. Der entlaufene Kleriker will eine Aristokratie der Weisen konstruieren. Sie erhebt er zu einer ,,incarnation de la raison", zu einem unfehlbaren Papsttum. Er wünscht, daß die Fürstenkaste der Zukunft sich durch Grausamkeiten der Chemie verteidigen solle, spricht dialektisch von höheren Maschinen anstatt der existierenden Tiergattungen. Er keucht außer Atem Vermessenheiten von dem einen allwissenden, allmächtigen Wesen, dem Ziel der gottschöpferischen Ent- wicklung, von der hierzu organisierten Materie, die durch ihren brennenden Schlund einen Strom von Wollust ver- schlucken müsse, der in Sturzbächen des Lebens sich er- gösse. Aber darunter lispelt seine des hitzigen Plänkeins überdrüssige Gebrochenheit: ,,Consolons-nous, pauvres vic- limes, un Dieu se fait avec nos pleurs." Er würde verzwei- feln, wenn er nicht wüßte, daß er nur zwischen Spiegeln fechten muß, und daß er seinen fünften Akt überlebt. Inner- lich ausgewechselt, hält er noch stand, tüftelt er als Monsieur Renan, Zierde der Republik, die Kartenhäuser seiner ,,Dia- logues" fertig. Sacht fällt er, dem Schlaf und der Gene- sung sich hinzugeben, die rationale Ausschweifung zu ver- gessen. Was bleibt, ist keine Purpurpracht der freudigen Instinkte, wie sie ohne den Druck des Dogmatismus von 1849 hätte sein können, sondern ein blasses Leuchten, ein Spötteln in Heimlichkeit. Die Frage nach dem Kaufpreis des Ganzen beunruhigt ihn, der sich zum Seher der Gesellschaft dar- geboten, als Diener der kollektiven Vernunft sich gezählt, die Himmel erstiegen hatte. Auch als er in den „Dialogues" einräumte, das Ziel der Menschheit, die Erzeugung der großen Menschen, sei das Werk der Wissenschaft, nicht aber der Demokratie, war er ein Flüchtling vom Markte. Jetzt ver- RENAN 175 ziehtet er gern auf den Staat, den Tummelplatz der Deklas- sierten, der Leute dritten Ranges, die persönliches Hervor- ragen nicht schätzen, sondern nivellieren. Schmollend tritt er der Meinung des Genfers Amiel bei, daß die Ära der Mediokrität in allen Sachen beginne, aber sein Trost ist: „On pourra se creer, en un tel monde, des retraites fort tranquilles." Der Glaube, daß gleichwohl die Wahrheit stets wieder auftauche und den Sieg davontrage, daß Schreien nichts verrichte, daß man Lust haben dürfe an der Zukunft, daß es dennoch vorteilhaft sei, so spät als möglich über diesen Planeten zu passieren, genügt ihm. Der Jammer wird zur stillen Kontemplation der Bedingnisse. Nicht schmäht er die Welt unheilvoll und brüchig, sondern, ohne Haß, die beklemmende Zeit, durch deren trübes Gestirn er ward, was er sei. Für das Los, das in dem Satze liegt: ,,Presque tous nous sommes doubles" entschädigt er sich in bangen Phan- tasien des Heimwehs oder in geträllerten Jubelphantasien des ihm neu bescherten südlichen Sonnenglücks. Er ent- ledigt sich der Verdammnisse der herben Scholastik, der trockenen Schule des Zankes und des Zweifels. Dem Gegen- pol, dem Unbewußten strebt er zu. Er büßt für die Läste- rung, die er im Namen des Jahres 1789 an der Spontaneität begangen hatte, er tadelt die Reflexion und ist zartsinnig gegen die Frauen, die Unklugheit. In der Vorrede der „Sou- venirs" steht: „La femme belle et vertueusc est le mirage qui peuple de lacs et d'allees de saules notre grand desert moral." Sein Gebiet heißt von nun ab oft der Garten der leisen Mystik; die „Origines du Christianisme" schließen mit der halbchrist- lichen Gelassenheit des Marc Aurel, er preist den Durst nach der „ewigen Quelle", und als „eine Art katholischen Schleier- macher" wird ihn Nietzsche verurteilen. Jedoch dies ist nur häufige Übergangsschattierung. In zwei Kultstätten, der Bre- tagne als seinem Gleichnis für Natur und Vergangenheit, und 176 RENAN auf der Akropolis hat der Enthusiasmus Renans sich wieder- hergestellt, sich beseligt. Vom Schicksale der Zentralisierten hat er sich befreit, in- dem er trotzend die Glocken seines unterirdischen Ichs läu- tete und aussagte, ^Nas den Flachen unpassend tönen mußte: „Les vrais hommes de progres sont ceux qui ont pour point de depart un respect profond du passe." Er lobte, gelbe Papiere seiner Jugend sammelnd, mit Tränen des Alters die entfärbten Wolken, die kalten Brunnen, den Nebel und das Meer, die den Möwen gastliche Küste; als Möwe flog seine Seele nach dem fernen Gestade zurück. In seinen geschmei- digen, klaren Stilmalereien barmte ein nie sühnbares Leid um Erlösung, das Frostgefühl einer Waise, deren Kindheit an mächtigen Steinsarkophagen kniete. Mit zitternden Hän- den griff er nach seinen geschwärzten Heiligtümern, satt, verbergen zu müssen, daß er bei den Bretonen geboren war, dem schwermütigen Volke, welches zwischen Rausch und Starrheit schwanke wie alle Rassen des Traumes, die sich im Sehnen nach dem Ideal verzehren. Der Aufsatz über die Poesie der Kelten verherrlicht die Bretonen als „une race timide, vivant toute en dedans, pesante en apparence, mais sentant profondement et porlant dans ses instincts religieux une admirable delicatesse." Und mit diesen Träumen flössen andere, glänzendere zusammen, die Träume der griechisch- lateinischen Überlieferungen, denen der Lehrling deutscher Grübler und semitischer Gesetzgeber sich entfremdet hatte. Das ist der Höhepunkt seiner Konfessionen, jenes Gelübde vor der Statue der Athena, auf der Trümmerstadt der Pro- pyläen und des Parthenon, welches Erncst Renan während seiner Reise von 1865 aufzeichnete. Die Inbrunst des durch die „pambeotie" Erdrückten beugt sich liturgisch der wahren und einfachen Größe, mit der die Zeustochter ihn begnadet. Abtrünnig dem Moralismus, fürchtet er sich noch, die neue I RENAN 177 Philosophie des Nichts, das Letzte männlich hinzunehmen, er fleht zu Athene, sie möge ihn gegen seine „fatales con- seilleres", die zersetzenden Einflüsterungen, wappnen, noch will er nicht sich darein finden, daß Gutes und Böses, Wonne und Schmerz hur sind wie Nuancen am Hals der Taube. Dann aber bricht, halb mit Grauen, halb mit unermeßlicher Ekstase, das nihilistisch-deterministische Hochzeitslied durch, wogend wie Fanfaren und in Weichheit hinschmelzend, das Gebet zum einzigen Gotte, dem Abgrund. Als Gelegenheitsarabeske eines seriösen Gedankenwerkes ist der ,,dilettantisme" Renans auch da betrachtet worden, wo man ihn nicht mit seniler Perversität in eins setzte. Ge- ring sind seine Monumente: im „Antichrist" die Begründung der neronischen Ästhetik, das Lob des Kaisers, der die Magie des Christentums aufdeckte, als er in der Arena die Christen- sklavinnen prostituierte; das Lob aller Frauen, vom Freuden- mädchen des Quai de Marseille bis zur arischen Matrone, das Prospero ausbringt, und das dramatische Brevier „L'Ab- besse de Jouarre". Hier ist das im Sinne des muckerischen Eutyphron pornographische Element zum sehrenden Trieb erstarkt. Hellenischer Altarbrand glänzt auf: „An jenem Morgen tauschten Himmel und Erde Küsse in Liebesver- sunkenheit; die Asphodele waren wie trunken vom Tau, die Grillen schienen krankhaft betäubt von ihrem Sang, und die Bienen taumelten über dem Blütenmeer." Jetzt steht der „lächerliche Schmutzakt", der des Weltalls Ursprung ist, im Zentrum, und ungemessene Wonne flattert: „Hätten die Men- schen Gewißheit, daß die Welt in zwei bis drei Tagen enden müßte, dann würde allenthalben die Liebe in Raserei los- brechen; denn was die Liebe fesselt, sind die gänzlich not- wendigen Bedingungen, welche die Erhaltung der mensch- lichen Art aufgezwungen hat," Der Tod im Liebesakt wird genannt ein Tod „in den Gefühlen der höchsten Anbetung 178 RENAN und in der vollkommensten Gebetshandlung". Ein Nimbus wird um das arme bretonische Bauernmädchen gebreitet, das im seligsten Liebesaugenblicke sich bekreuzigt. Der Royalist d'Arcy ist stets „mit denen, die nach dem Unbe- kannten streben". Die Äbtissin Julia gesteht, sie habe in sich das Unbewußtsein getötet, und: „Wir beide haben genug gelebt, um zu lernen, daß auch die Desillusion eine gute Glücksbedingung ist." An dem Geschwächten, der sechs Jahrzehnte seines Da- seins der rationalen Tyrannis geopfert hatte, um ein Jahr- zehnt des nicht mehr betrogenen Enthusiasmus zu ernten, brauste die Zukunft vorbei. Aber mag nicht auch die Geste des in Luft zerstiebenden Ariel: „Prius mori quam foedari" durch ihre Schönheit rühren? i Der Herzog von Portland. Wenige Tage nach dem Hinscheiden seines Vaters, durch das er Herzog von Portland wurde, kehrte John Wil- liam, Marquis of Titchfield, von einer mysteriösen Reise zu- rück. Sogleich machte er zu seinem Residenzschloß Welbeck Abbey, in dessen Park sein jüngerer Bruder, der Sportsman und Tory Lord George Bentinck, eines Abends dem plötz- lichsten Tode erlegen war. Als düster und schweigsam war John William bekannt; George liebte, solange er atmete, den Rausch eines glänzenden Daseins. In Nottinghamshire sprach man von einer Tragödie der Eifersucht und des Hasses, in zischelnden Andeutungen, nachts, wenn die rotköpfigen Be- dienten um den Tisch der Pförtnersfrau versammelt waren und über die nebeligen Wiesen Hundegeheul klagte. John William fuhr in einer Kutsche, die scharlachfarbene Vorhänge hatte, durch die zinnengekrönte, von Moos und Schlingpflanzen überwucherte Mauer, durch das eiserne Tor hinein nach Welbeck Abbey. Niemand durfte sich vor dem Schloßportal auf halten, wie ein Gespenst vor Tag verschwand der Herzog, und Woche auf Woche blieb er für alle Dome- stiken ein spukhaftes Traumbild. Dann beobachteten ihn, als die Sonne eines Maimorgens am Horizont erschien, zwei Stallknechte im Parke. Er hatte einen Mantel aus schlechtem, braunem Tuch, der faltig hing wie ein Schlafrock, karierte, hellgraue, um die Knöchel zugeschnürte Hosen, eine dicke Perücke unter einem sonderbaren Zylinderhut, mit Hand- schuhen waren seine Hände bekleidet; in der linken trug er eine große Zigarre, in der rechten einen Schirm mit ungeheurem, baumwollenem Dach. Ein Blutschwamm ent- stellte die Haut seines furchigen Gesichts, wie ein Blöder bewegte er die Lippen, und in seinen Augen war so namen- lose Qual, daß einer der Stallknechte leise ein Vaterunser 180 DER HERZOG VON PORTLAND stotterte. Der Herzog schritt durch die symmetrischen Taxus- alleen bis zu dem von Arbutussträuchern umstandenen Denk- mal seines Bruders. Dort verweilte er, hinter einer Lärche gleichsam Schutz suchend, und scheu wie eine Fledermaus flatterte er in seinem braunen Mantel durch die Alleen zurück. Bald hernach erging aus einem unsichtbaren Raum der Befehl, den Architekten Nicholson in einer Kalesche von der Bahnstation Worksop zum Schlosse zu bringen. Dann wur- den zweitausend Maurer, Zimmerleute und Glaser geworben, die ein rätselhafter Wille in den Souterrains von Welbeck Abbey verteilte. Die nachtschwarzen, schimmelbedeckten, triefenden Keller wurden eine Flucht von Prunksälen. Auf anderthalb Meilen hin höhlte man die Erde aus. Eine Reit- bahn, ein Museum, eine Bildergalerie entstanden, und mit vielen tausend Kristallen, deren Blitze in venetianischen Spie- geln sich fingen, leuchteten die sechzehn Kronleuchter des Ballsaals. „Mit Marmor", so phantasierte 1883 Villiers de risle Adam in jenem „Conte cruel", das den Herzog Richard von Portland in einen neuen Lord Byron, in den Angebe- teten der lilienblassen Hofdame Miß Helene H. und in den Schicksalsgefährten eines leprakranken Bettlers von Antiochia verwandelt, „mit Marmor und glänzender Mosaik war der Fußboden ausgelegt. Prunkgardinen mit kostbaren Fransen umgaben die magischen Säle, in denen die mit dicken Wachs- kerzen besteckten, vergoldeten Lüster ein erlesenes orienta- lisches Mobiliar, Stickereien und Teppiche überschimmerten. Gruppen tropischer Pflanzen hauchten süßen, betäubenden Duft aus, und Fontänen rieselten in PorphjTSchalen." Unter dem Rasen des Parks, unter dem See vor der Schloßfront liefen Röhren, durch deren Geäst Luft und Sonnenlicht in den Abgrund sich senkte. Stumm gehorchte Nicholson den bizarren Ideen des Auftraggebers, mit dem er niemals eine Besprechung hatte; nur Skizzen und Briefe empfing er von DER HERZOG VON PORTLAND 181 ihm, mit winzigen, kaum leserliclien Zeichen. Der Abschluß der Bauten war eine falsche, durch eine Steinschicht mas- kierte porte cochere, die nur, wenn man auf eine Spiralfeder drückte, aufsprang und, als wäre sie nie gewesen, ohne eine Fuge in die Fassade zurückwich. Fünfzehn Jahre lebte der Herzog John William von Port- land in dieser unterirdischen Eremitage, mehr Jahre noch als Beckford, der Dichter des Kalifen Vathek, des Astrologen, im elftausend Stufen hohen Turm zu Fonthill Abbey und Bath lebte. Und wenn Beckford von Jägern mit Hetzpeitschen und der gekoppelten Meute sich eskortieren ließ, so war für die Pächter und Bauern in Nottinghamshire zu einzelnen Stunden die Straße um Welbeck Abbey verboten. Selten wurde die Kutsche mit den scharlachroten Vorhängen in Worksop auf einen Güterwagen geladen und dieser dem Zuge nach London angehängt. Der erste Kammerdiener sogar des Herzogs war in den Reiseplan nicht eingeweiht. Auch er las seine Orders von Zetteln, die in einen Kasten der Schlaf- zimmertür, das Behältnis für die sorgsam zu bügelnden Zei- tungen und das sorgsam zu waschende Metallgeld, rutschten. Das Bett des Herzogs hatte die schweren Türen eines Sar- kophags. Und in diesem Sarkophag ist er (nach einer Variante seiner Biographie) gestorben. Kahl und klein, mit zusammen- schrumpfenden Blutmalen lag er in den vergilbten Kissen und lächelte das spleenige Lächeln jenes Sonderlings aus der Zeit von Pückler-Muskau, der in seinem Testament bestimmte, daß seine sterbliche Hülle in eins der Parkfenster gestellt werden solle. Nach dem Begräbnis meldete sich Ann Mary Druce, die Schwiegertochter des in Gott seligen Möbelhändlers Thomas Druce, der in der stickigen Bakerstreet sein Magazin gehabt hatte, und forderte das herzogliche Erbe. Sie wollte Indi- zien dafür haben, daß Druce und der Herzog dieselbe Person 12 182 DER HERZOG VON PORTLAND gewesen sei und Ann May, die zweite Frau des Krämers, der Lords Titchfield und Bentinick gemeinsame Jugendgeliebte. Die Porträts, die man von John William und dem wollbär- tigen Thomas Druce hatte, zeigten eine schwache Ähnlich- keit. Die verwitwete Ann Mary Druce beteuerte, daß ihrem Schwiegervater eine Scheinbestaltung zuteil geworden sei, und heischte mit der krankhaften Redseligkeit der Queru- lanten die Öffnung des Silbersarges. Aber die Kirchhofsver- waltung widersetzte sich. Und dann wurde Ann Mary Druce von Verwandten überholt, die, im Bunde mit gewerbsmäßigen Eidschwörern und den Namen des menschenfreundlichen Romanciers Charles Dickens profanierend, ihr die Legende aus den zusammengekrampften Zähnen rissen. Sie büßte den Rest ihrer Vernunft ein und wanderte in das Irrenhaus von Colney Hatch, hinter dessen Gittern und in dessen Dauer- bädern sie ihr schrilles Lied unermüdlich weitersang. Taine. Über seinen Zeitgenossen hat Renan gesagt: „Taine, c'est Thomme du vrai, c'est l'amour de la verite meme." Worte des Vierundzwanzigjährigen: „Das Leben ist eintönig und stets ist es dasselbe Kopfkissen. Wir wollen friedlich ent- schlafen und angenehm träumen." So wie Renan beichtet er, in seiner Schülerschrift, daß er das Christentum einge- büßt habe: ,,Je me trouvais dans le vide et dans le neant, perdu et englouti", so wie jener ist er ein Asket geworden, dessen Bewegungen, Traurigkeiten, Freuden und Taten „ganz innerlich" sind. Als er ohne Freunde, ohne Familie ist, greift er nach einem Buch. Er stammelt: „Und weit, weit, dort hinten rufen mich schöne Ideen, die ich spüre, eine unendliche Welt vom jenseitigen Ufer des Rheins." Nachher hat er über seine Lektüre Hegels versichert, er werde niemals wieder Eindrücke empfangen, so wie er sie damals hatte. Die Philosophie ist dem Baccalaureus Altar und Heiligtum. „Mit Ideen zu plaudern, ist mir unendliches Vergnügen und wonnevolle Beschäftigung." Das leiht ihm Flügel, mit denen er sich durch Geschichte und Natur aufschwingt. Sogar in der PjTenäenreise steht, daß der empfindlichste, zu neuen, mannigfachsten Genüssen fähigste Sinn das Hirn sei. Als „maitresse d'amour" dient dem Hilfslehrer von Nevers seine Weisheit, eine Liebeszusammenkunft wird durch das Denken und Ordnen der Gedanken ersetzt. Renanisch ist die Ab- kehr von der Zeit: „Wir sind Beamte des Staates und nicht jeder beliebigen Regierung, weil wir dasselbe unter Herrn von Montalembert wie unter Herrn Barrot und unter Herrn Ledru- Rollin lehren." Renanisch ist die Neigung zu dem Anspruch einer Gelehrtenkaste: „Ich bin zu sehr Geistesaristokrat", beklagt sich der „pion", „und die Luft von Nevers ist allzu böotisch." Renanisch das Gefühl einer Erkrankung durch 12* 184 TAINE die Pflege, die Hypertrophie des Wissens: „Von dem Boden unseres Skeptizismus haben wir einen Tropfen vergifteter Flüssigkeit heraufgeholt, der ein Meltau für allen unseren Glauben sein wird." Noch dem ganz Reifen ist die Ge- schichte eine Totenstätte, die ihn an die steinerne Niobe in Florenz mahnt. Die Aufzeichnungen des Stoikers Marc Aurel sind sein ,,livre de chevet". Mit fünfundzwanzig Jahren empfiehlt er seinem Freunde Suckau, dem Kaiser eine Studie zu weihen. Aber so nahe er der Entmutigung, so sehr er gefährdet war, nie wurde das Gesetz seines Daseins ange- griffen. „Im Grunde meines Wesens", schrieb Hippolj'te Taine ein- mal, als er Verwandte in Rethel besuchte, „finde ich etwas Rethelhaftes, den esprit de famille." Die Schwestern seines Vaters wurden in der kleinen Stadt geboren und starben dort, einzige Freundin war ihm seine Mutter. Dann sah er in seiner Kindheit, anstatt getünchter Mauern, geheimnis- volle Wälder um sich her. Einem Sammelbuche über die Ardennen gab er das Vorwort: „Alles, was man nachher phantasiert, hat dort seine Heimat, alles scheint sogar dort zu sein, wie wenn der volle Tag der Morgenröte nie- mals gleichen könnte. Welcher berühmte Fluß hat den Wert des kleinen Baches, in dem man zum erstenmal die Wallungen der Flut ihre Arabesken kräuseln und mit Silber sich befransen sah, wo niederhängende Weidenzweige daran rührten? Welcher prächtige Park übertrifft an Reiz die ärmliche Wiese, auf der man als kleines Kind still stand, um Winden und Butterblumen zu pflücken?" Er beschrieb die dunklen Holz- hauer der alten Wälder und ihr „stummes, seltsames, ani- malisches Leben, voll wunderlicher Träume und Legenden". Der Schüler zögerte im Schatten der Weiden von Saint-Ger- main, nahe der blinkenden Flut, und als er im Zwange sich vergessen sollte, sträubte er sich mit einem halllosen: „Ich TAINE 185 liebe so viele Dinge in der Natur." Und überraschender, jäh, elementar, wiederholt sich dies Bekenntnis: „Ich fühlte mein Herz klopfen und meine ganze Seele vor Liebe zu dem so schönen, so ruhevollen, so großen, so bestrickenden Wesen erzittern, das Natur genannt wird." Noch der Wanderer in den Pyrenäen „zittert" vor dem Meer und den Bergen. In seiner Schülerschrift deutet er an, daß seine Transmutation gerade in die Zeit fiel, ,, worin das Leben mächtig ist und die Aktivität unhemmbar". „Unsere Geschichte", hat er mit einer Anspielung auf „Rouge et Noir" geschrieben, „ist die Geschichte Juliens im Seminar." Er lockt gegen die Ruten der gouvernementalen Disziplin und will nicht länger, von schweren Händen niedergepreßt, im Ordnungsjoche kriechen, er will nicht ersticken wie die anderen, sondern verlangt Freiheit. Wenn er bis dahin zufrieden war, ein Idyll für ,, unsere glücklicheren Nachkommen" zu ersinnen, die Wissen- schaftler und Eigner sein versöhnen würden, entlud er jetzt, durch die ungewissen Vorbereitungen zur „Intelligence" schon berauscht, seinen Grimm in dem jugendlichen Manifest: „Ich habe Blei in meiner Jagdtasche, und sobald es zu tödlichen Wirkungen angesammelt ist, will ich die Ladung ins Ant- litz der offiziellen Wahrheit schleudern." Man hat sein philosophisches Buch als Ergänzung der Schriften von Comte und Stuart Mill betrachtet, vielleicht auch der „experimentalen Physiologie" Claude Bernards. In Wirklichkeit hat der Professor Taine zu alledem nur äußere Beziehungen. Er ist auch kein Michelet (der, von Victor Hugos demagogischem Wein trunken, die Analyse verwarf und das ,, unbewußte Ahnungsvermögen" des souve- ränen Volkes rühmte). Er hört den Gesamtchor der Leben- den. Er hört nicht ein Fragment, sondern das Lied der „großen Seele", die „große Stimme", die tausendfältig befehlend die kleine Stimme verstärkt, und die Natur, die er auch in ihrem 186 TAI NE Wahnsinn und ihren Entartungen liebt. Der Denker Taine kniet vor dem Instinkt, der mehr sei als die Idee. Man be- tont, daß er das „Milieu" zur Geltung gebracht habe, und ver- schweigt, daß ihm selbst dieser Faktor nur einer von vieren war, daß ,,die herrschende Eigenschaft", das Dumpfe, Uner- füllte, als wichtigster Faktor zuletzt steht. Man betont, er habe das Genie entfernt; aber er hat die „großen Typen" gepriesen. Und dieser leidenschaftliche Kult entstand nicht erst mit seinem Werk über die „Ursprünge des zeitgenössischen Frank- reich" und dem Hymnus auf die stolze Raubbestie Napoleon, die sich plötzlich auf die zahme Herde der Wiederkäuer gestürzt habe, auf ,, den ursprünglichen Geist" von jungfräu- lichem Blut, von neuer Rasse, den Schöpfer im Ideal und im Unmöglichen. Sie brauste schon durch seine Adern, als er in der ,, Italienischen Reise" auf die Seite des isolierten Menschen trat, den die Ausdehnung unterbinde, als er den Widerhall tragischer, heldischer Unternehmungen nach- fühlte, der in dem griechischen Epos bebe. Die Künstler und Philosophen hat er als eine höhere Men- schenart von der Masse geschieden. Aber oft hat selbst diese Brücke geschwankt. Dann war ihm seine kritisch-historische Ehrfurcht die lächerliche Manie von Literaten, die Pedanterie von Anatomen. Er starrte, während er von Tintoretto reden wollte, auf die unbeschreibliche Inspiration, die in den aktiven Gehirnen vor sich geht, auf die außerordentlichen Momente, die Jahre, Landschaften und Vorfälle wie ein Strahl über- zucken, auf das Mysterium der imaginären Welt. ,, Eines ist dem Menschen not," so verkündet dieser große und klare Geist, „der Respekt vor der lebendigen Quelle, die er in seinem Innern birgt. Jeder von uns behüte die seinige, er hindere, daß sie gestört oder verschüttet werde, und lasse sie strömen; der Rest, Werke, Ruhm und Macht, kommt von selbst und im Überschwang." Oder in der „Italienischen Reise", in den TAINE 187 Fußtapfen Beyles: „Ein Eigener, ganz aus sich selber, rück- haltlos und bis zum Ende sein — gibt es in der Kunst und im Leben eine andere Vorschrift? Mit dieser Vorschrift und diesem Instinkt ist der heutige Mensch geboren." Hier ist der Enthusiasmus organisch, so organisch wie er durch jene Bemerkungen im achten Bande der ,, Ursprünge des zeitgenössi- schen Frankreich" proklamiert wird, wo Taine sagt, daß der heutige Mensch zwei Dinge nicht aus den Händen gebe, das Ge- wissen, den Niederschlag des christlichen Seelengesprächs, und die Ehre: „Dort ist er eine einziggeartete Kreatur, von über- legener Beschaffenheit, außer Verhältnis zu den übrigen. Dar- über hin rollt sein Monolog unablässig in langen Stunden be- klommener Öde, und dieser Monolog hat neun Jahrhunderte gedauert." Und in demselben Kapitel: „Heute ist ein jeglicher von uns das Endprodukt einer erstaunlichen Ausarbeitung, eine in ihrem V^^esen unvergleichliche Pflanze, ein einsames Individuum, von überlegener, delikater Essenz, und nach seiner angeborener Struktur, seinem unabänderlichen Typus kann er nichts liefern als seine eigenen Früchte." Im Jahre 1868 veröffentlichte Hippolyte Taine „Vie etOpi- nions de M. Frederic Thomas Graindorge", ein Buch, das — zitiert sei Nietzsches Brief — „für meinen Geschmack etwas zu harmlos ist, aber vielleicht um so mehr geeignet ist, Dir jetzt schon einen günstigen Begriff von dem Verfasser zu geben." Die Tagesnotizen des Teilhabers der Firma Grain- dorge und Compagnie, Öl und Pökelfleisch, Cincinnati, Ver- einigte Staaten von Nordamerika, Doktors der Universität Jena, sind der Protest eines Unzeitgemäßen, ein Protest des Schmer- zes. Von der Maske des Herrn Graindorge gedeckt, der seinen Neffen Herrn Durand überwachen muß, gab der Professor Taine zu verstehen: „In seinem Alter war unsere Haltung in Pohtik und Literatur verrückt." Und schneidender, fast aus dem Temperament Flauberts heraus: „Vers 1839, on amait 188 TAIXE le poitrinaire exalte, ä present, le luron positiviste." Denn dieser positivistische Anatole Durand ist ebenso das Muster seiner Epoche, wie der Rene Chateaubriands, der JuHen Stendhals und der Moreau Flauberts ihre Epoche dargestellt haben. Man betrachte, wie Durands „education sentimentale" durch den guten Herrn Graindorge gezeichnet wird: „Mein Vater behauptete, daß ein französisches Kolleg eine Kaserne ist und nichts weiter darin gelernt wird, als in den Gängen zu rauchen und sich die Freundschaft der hübschen jungen Damen zu wünschen, die in der Rue Cadet zwischen elf und zwölf Uhr nachts gelenkig tanzen." Das ist die Begeisterung der Durands: „Der Exzeß ängstigt sie, sie kanalisieren ihre Laster. Sie sind Bourgeois, die sich vor allem nicht lang- weilen und noch weniger sich exponieren wollen." Aber sie haben den Staat, die Durands; im nächsten Monat werden sie als Supernumerare in das Finanzministerium eintreten, fünf Stunden täglich Federn spitzen, von dem Platz eines Unterchefs oder von Beurlaubungen träumen — ,,et seront ä la hauteur de leur siecle". Einmal jedoch entschlüpft Taine dem Gehrock des Herrn Graindorge, die Szenerie von Krino- linen, rosigen Sofakissen und Dinertischen verschwindet, und trauernd klagt er: „Zwischen zwanzig bis dreißig Jahren erwürgt der Mensch mit vieler Pein sein Ideal; dann lebt er ruhig oder wähnt, ruhig zu leben, aber diese Ruhe ist die Ruhe einer Kindesmörderin, welche die Erstgeburt ihres Leibes getötet hat." Doch die Journalisten hielten das Buch „Leben und Meinungen des Herrn Frederic Thomas Grain- dorge" für ein Feuilleton und meinten wohl, es sei keines von den besten. Der Deutsche. Erst aus Entwürfen und scheu verborgenem Nachlaß hat man die Schriften Heinrichs von Stein zusammengestellt und auf den tiefen Sinn gebracht, der in den schweren Augen seines edlen, alle Merkmale der oberdeutschen Rasse tragen- den Kopfes leuchtete. Er war unter der Gemeinde, die Wagner um sich versammelte, unter den Ideologen, die sich während der achtziger Jahre mit dem Traum von einer deutschen Kultur trugen, die rührendste Gestalt. Aber er bleibt auch vorbildlich für alle Schwächen des deutschen Denkertums und für seine vergebliche Mühsal. Rasch strömte sein Leben dahin. Er stammte aus einem altfränkischen Adelsgeschlecht, dessen Überlieferung er im Bewußtsein hegte, als er in sein Tagebuch schrieb: „Wie ab- surd in unseren Tagen sich der Waffendienst auch ausnimmt, ich hätte doch einen ausgezeichneten Offizier abgegeben." Er fing mit einem geläuterten Christentum an, worin er seine spirituale Sehnsucht zu beruhigen gedachte; dann riß er sich los und eilte den Naturwissenschaften zu. In dühringianischem Geist war die erkenntnistheoretische Dis- sertation „Über Wahrnehmung" gehalten, die er an der Ber- liner Universität verteidigte; 1878 erschien, unter dem Pseu- donym Armand Pensier, sein Erstlingswerk, die „Lyrische Philosophie", die der Verleger in die „Ideale des Materialis- mus" umtaufte. Er reiste nach Italien und lernte Malvida von Meysenbug kennen, die zarte alte Dame, die Generatio- nen hindurch ihrem Glauben an die , »unablässige Entfaltung inneren Reichtums" sich widmete. Frau Förster-Nietzsche erklärt, daß ihr Gatte, der Teutomane Bernhard Förster, von Stein das Wort Goethes gebraucht habe: „Nun genießt er im Andenken der Nachwelt den Vorteil, als ewig Tüchtiger und Kräftiger zu erscheinen; denn in der Gestalt, wie der Mensch 190 DER DEUTSCHE die Erde verläßt, wandelt er unter den Schatten, und so bleibt uns Achill als ein ewig strebender Jüngling gewärtig." Auch Malvidas opfermütige Wachsamkeit wurde für Stein erregt. Ihre geistige Mutterschaft begleitete ihn zu Wagner, der ihn anzog, seit er die ,, Meistersinger" gehört hatte. Durch Vermittlung des Fräuleins von Meysenbug trat er als Erzieher für Siegfried Wagner in das Haus Wahnfried ein. Im Herbst 1880 wurde er aus der Nähe des Meisters, aus Italien, durch seinen Vater nach Halle abberufen; er ver- zichtete auf das wertvollste Gut, dessen er teilhaftig gewor- den war, und kehrte zurück, um einige Jahre lang in dump- fem, fieberhaftem Schaffen sich zu erschöpfen. Seit dem Herbst 1882 wechselte er, in Schopenhauers und Wagners Zeichen, Briefe mit Nietzsche, den er in Leipzig aufgesucht, aber nicht getroffen hatte. Sein Ungemach wiederholte sich gegenüber der Natur des ,, mitternächtlichen Wanderers", der das Ereignis seiner ,, großen Loslösung" hinter sich hatte, immer neuer Friedlosigkeit entgegengehetzt. Das Mißver- ständnis gewährt im Wechsel von Neigung und Flucht, in- nigem Bedürfnis in Steins Seele und angstvollem Hochmut Nietzsches ein unsagbar deprimierendes Schauspiel. Der Autor der ,, Fröhlichen Wissenschaft" schickte an den Hallenser Do- zenten Bogen, deren Empfang dieser mit der Sendung der zwölf historischen Dialoge ,, Helden und Welt" erwiderte, die er nach dem Beispiel der Renaissanceszenen des Grafen Go- bincau ersonnen hatte. Und Nietzsche äußerte: „Wie kann man nur ein deutsches Buch lesen! Ah, Verzeihung! Ich tat es selber eben und habe Tränen dabei vergossen." Im Mai 1884 dankte Stein dem Eremiten, den es in Genua und Venedig fröstelte, für den dritten Teil des Zarathustra mit den unvergänglichen, in einer Sprache voller Inbrunst nach- gedichteten Welthymnen des Giordano Bruno. Die Einladung nach Sils-Maria erfüllte Steins kühnste Hoff- DER DEUTSCHE 191 nungen. Mit Nietzsche ging er durch Schnee und Winter- wind und schrieb, wie er, ganz benommen, ihn verlassen hatte, aus der Gegend von Halle dem Verehrten die Sätze: „In der Tiefe lauscht und wacht eine unendliche Sehnsucht nach wirklichem, freiem Leben. Aber nachgeben wüU ich dieser nun nicht mehr; bis ich sie verwirklichen kann. Des- halb also sehen Sie mich jetzt von Bibliothek zu Bibliothek ziehen, und in meiner Dachstube in Berlin gefesselt, C. Post- straße 23, III." Nietzsche entgegnete mit dem Liede ,, Ein- siedlers Sehnsucht": „Wo bleibt ihr Freunde, kommt, 's ist Zeit, 's ist Zeit!" Stein antwortete mutlos. Nietzsche wurde aus Enttäuschung grausam und ließ den Jüngeren verstehen, er wisse, daß Stein von Bayreuth nach Sils-Maria geschickt worden sei, um ihn wiederzugewinnen. Nur einmal noch begegneten sie sich auf der Landstraße zwischen Naumburg und Kosen. In alter ,, herzlicher Ehrerbietung" hat Stein, mit dem halblauten Aufschrei, daß er wie ein krankes Tier der Wildnis sei, an Nietzsche einen letzten Brief gerichtet. Im Frühjahr 1886 hatte der Jüngere seine ,, Entstehung der neuen Ästhetik" fertig. Am 20. Juni 1887 war er tot, starb im Hospital zu Berlin, ohne Hilfe; nicht einmal die Kranken- schwester weilte im Zimmer. Allzu spät war Nietzsche von der Reinheit dieses Menschen betroffen. „Es machte hier Eindruck", schreibt er mit unheimlicher Genugtuung über die „seltsame und feine Auszeichnung" jenes Besuches; „er sagte im Hotel: ,ich komme nicht wegen des Engadin*". An Stein bestätigte sich, was in seinen Augen zu lesen stand, daß er einer der „avertis" war, wie der dilettierende Maurice Maeterlinck die früh dem Tode Verfallenden ge- nannt hat. Müde hatte seine Lebenslampe geflackert, mit seltenen Beirrungen. Nur leise hatte in ihm die Erotik em- porgeschlagen, in deren Beklommenheit er einmal flüsterte: „Wie süß muß es sein, aus Liebe zu sterben", das Gefühl 192 DER DEUTSCHE von Byrons Worten: „O love, o gloryl" Sein Weib war die Schicksalsjungfrau, die ihn zur Eile mahnte, sein Besitz war der Schmerz, den er als den ernstesten und vollkommensten Einblick in die Systematik des Alls feiert. Er büßte eine Schuld, die er nie begangen hatte, er wurde ausgelöscht, da- mit sich an ihm der stolze und leise Spruch bewahrheite, womit Gobineaus Michelangelo die Marchesa Colonna tröstet: „Ce qui va disparaitre, ne disparaitra pas tout entier." Die Schriften Heinrichs von Stein sind keine bloße Philo- sophie; denn er sträubte sich dagegen, daß die Welt in For- meln zu fassen sei. Er erlag als Philosoph dem Zwange der Kunst und sah in einer Wolke durcheinanderfahrender Vögel, im windbewegten Gezweig eines Baumes, in der wohlum- grenzten, tiefblauen und schön beruhigten Meeresfläche ein innerliches Wissen von der Welt. Die metaphysische Deu- tung des Priesters, die ethische des Philosophen, die ästhe- tische des Musikers sind ihm in eins zerflossen. Alles Heil sollte die sinnlich-übersinnliche Schönheit des Unendlichen schenken, dem er mit dem Gelöbnis: „Der Drang ist unend- lich" und mit unendlichem Empfinden sich überantwortete. Das „innere Licht", das Außerordentliche durchscheint die Figuren seiner Gespräche, die Figuren Schillers und des armen Winckelmann, dessen Ekstase Stein glühender noch als der Platoniker Walter Pater geschildert hat. Er wollte, daß der Mensch über sich selbst hinaus gelange. Sein Hel- denbegriff durfte nicht anders denn tragisch sein; er faßte ihn, in Wagners Sprache, als drangreiches Wähnen und be- tonte den heroischen Charakter dieses Wahnes. Im Dialog- buch spricht er die Erkenntnis aus, daß nur im Ich der Zu- gang zum „gewaltigen, dunklen Hintergrund der Dinge" dem Menschen offen stehe. Aber hier ist zugleich das Moment, das Steins Philosophie untauglicher als die Nietzsches gemacht hat. Er hatte nicht DER DEUTSCHE 193 den Trotz seines älteren Genossen, an Lehren zu glauben, die „wahr, aber tödlich" sind; er bog den „Amor fati", die Liebe zum tötenden Schicksal, in Quietismus um. Zu wuchtig war für seine leidenden Sinne das Mysterium, das der starre Hebbel als Notwehr des Alls ausgelegt hat, das Gesetz, wel- ches das Ich, „eh' es tiefer dringt", vernichtet. Darum in- terpretierte er die Orestestragödie trostsüchtig als das Gleich- nis der Möglichkeit, aus einer allumfassenden Gewalt, aus einem Element des Elends aufzutauchen, und las aus Shake- speares „trugvoller Magie", aus diesem freiesten, wildesten Menschentum, daß es die „Ahnung des guten Menschen" verkünden wolle. Er nahm den Helden als den Heiligen, strebte nach Versöhnung, Erlösung, Seligkeit; das Heilige, die Freude, der Glaube an die Erlösten wogen ihm sein ver- lorenes Leben auf. Er heftete sich an den Wagner der Spät- zeit, den Wagner des „Parsifal", von dem Nietzsche abfiel. Er pries die Liebe, das Mitleid als Kulturmacht, als Träger jener Regeneration, die der Mann in Bayreuth gefordert hatte. Er opferte sich, opferte auch die Konsequenzen der neuen Metaphysik und hinterließ der Zeit eine Botschaft, die jeg- lichen Einwand zum Schweigen bringt: „Was in euch bange atmet, wird in anderen freier atmen. Es mußte aber ein- mal zum Atmen ansetzen und eine Brust zuerst bewegen, und das geschieht nicht ohne Not und Drang." Er hat sich verzehrt, damit sein Schmerz als „geheimnisvoll weiter wir- kendes Werk" hier und da auf gleichen Pfaden gehende Menschen befreie. Reklame. Der Heilige der Reklame ist noch immer Phineas Taylor Barnum, das Genie des Jahrmarkts. In Bethel wurde er als Sohn eines Farmers geboren, und als sein Erzeuger starb, mußte er sich Schuhe leihen, um am Leichenkondukt teilnehmen zu können. Die Amme Washingtons verhalf ihm zur Entdeckung seiner speziellen Talente. Es war eine Nege- rin mit Namen Joice Heth, die hundertundsechzig Jahre sein sollte. In Wirklichkeit hatte sie den General Washington niemals gesehen, denn sie war nur halb so alt. Barnum je- doch machte etwas aus ihr. Die ganze neue Welt erfüllte er mit ihrem Ruhm, allerorts hörte man sein betäubendes Feldgeschrei, und in Gedanken an Washingtons Amme er- hoben sich die New^yorker monatelang aus ihren Betten. Als Joice starb, bekam sie einen Nachfolger in der Person des italienischen Stelzenkünstlers Vivaila. Damals erfand Barnum den Trick des Wettkampfs, von dem noch heute alle Zirkusdirektoren leben: er engagierte einen Amerikaner, der mit Vivaila nach festgesetzten Bedingungen und um tau- send Dollars sich zu messen hatte. Ein freudiges Hallo be- gann, eine unbekannte Möglichkeit war geschaffen. Aber der Organisator Barnum erstieg den Gipfel erst, als er Scudders Kuriositätenkabinett kaufte. Mit diesem Museum mensch- licher Abnormitäten bereiste er die Zonen, und überallhin trug er Verblüffung, den Irrsinn der Sensation. Die Pracht- exemplare waren der Zwerg General Tom Thumb, das täto- wierte Ehepaar, die Meerjungfrau von den Fidschiinseln, der Pudelmensch, der Mensch mit dem steinernen Schädel, der Glasfresser, der Expansionsmensch, der Mann mit der Gummi- haut und die Dame mit dem Vollbart. Als die , .Association Barnum" — sie war bereits zur Fima Barnum und Bailey umgewandelt — vor zehn Jahren Mitteleuropa abgraste, hatte 1 REKLAME 195 sie sich zum Weltzirkus erweitert. Millionen buntscheckiger Plakate verkündigten ihr Kommen und beunruhigten die Phantasie der Dorfbarbiere. Bis dann das Wunder in sieben- undsechzig Eisenbahnzügen sich heranwälzte, denen Kara- wane auf Karawane entstieg, bis die Lüfte gellten und alles wieder gleich einem zyklopischen Traume entschwand. Phineas Taylor Barnum selbst hat im Jahre 1891 das Zeit- liche gesegnet. Eine Nebenerbschaft hinterließ er den Theater- direktoren der Erde durch die Reklame, die er für Jenny Lind, die schwedische Nachtigall, aufbot, und nur eine ein- zige Schülerin hat ihn hier übertroffen, die holländische Gallierin Sarah Bernhardt. Für alle Zukunft ist sie die Brecherin der Rekorde. So unsagbar lärmte sie, daß ein Freund des jüngeren Dumas auf dem Sterbebett zu ihm sagte: „Der Tod kommt mir erwünscht, weil ich dann nichts mehr von Sarah Bernhardt und dem großen Franzosen" — er meinte Ferdinand de Lesseps ■ — „zu hören brauche." „Fräulein Zimm Bum Bum", rief man, als sie nach der neuen Welt abdampfte. Von schnatternden oder phlegmatischen Reportern wurde sie in Newyork empfangen. Fünftausend Personen hielten die Straßen besetzt, als sie die „Kamelien- dame" gespielt hatte. Sie plagte Edison mit ihrem Besuch und wurde von Bostons Predigern verketzert. Einem ge- frorenen Wal, der im Hafenbassin lag und vom plätschern- den Wasser geschaukelt wurde, ist sie auf dem Rücken her- umspaziert und hat ihm als Trophäe ein Fischbein ausge- rissen. Wo sie war, wurde auch das Biest gezeigt; Karren mit Blechmusik und einem Riesenplakat, auf dem sie als Walfischtöterin prangte, wurden ihr nachgefahren. Sie prü- gelte den Walfischmann. In Montreal trug ein Herkules die Ohnmächtige durch die Menge; später wurde der Herkules als ein von der Polizei in Neworleans gesuchter Mörder entlarvt. „Well!" sagte er mit schneidender, kalter Stimme; 196 REKLAME dann schleppte man ihn weg. Auch zu den Rothäuten drang Sarah Bernhardt vor. Sie begrüßte den Irokesenhäuptling „Sonne der Nacht", der Lumpen, Spirituosen, Nadeln und Zwirn, Schweinefett und Schokolade verkaufte. Sie trieb auf Eisschollen, feuerte eine Mitrailleuse ab und ging durch die Schlächtereien von Chicago. Brillantendiebstahl, Bahn- attentat, Einsturz einer Brücke sofort nach dem Passieren des toll gehetzten Zuges, Wildwestdemonstrationen des Publi- kums in der Stadt Mobile, eine Darstellung der ,, Kamelien- dame", wobei die papierne Rückwand zerreißt, durch die Sarah und ihre Begleiter die Köpfe stecken, wagehalsige Kletterpartien unter den Gießbächen: das Register ist voll- ständig. Und alles überwachte Mr. Jarrett, der große Im- presario mit dem silberhaarigen Agamemnonkopf. Er hatte mit irgendeinem Menschen Streit wegen eines Kontraktes für dieselbe Jenny Lind und sagte, indem er auf sein rechtes Auge wies: „Sehen Sie sich dieses Auge gut an, Herr, es liest Ihre unausgesprochenen Gedanken." Der Mensch feuerte seinen Revolver ab, um Mr. Jarretts Gesicht zu zerschmettern; aber er streifte ihm nur die Wange, die davon eine Narbe behielt. Zur Antwort schoß Mr. Jarrett seinen Gegner in die Stirn. Das Hauptvermächtnis des alten Phineas Taylor war in- dustriell und galt dem gesamten amerikanischen Volke. Ein Teil davon lautet: „There is nothing like printer's ink", „Nichts geht über die Druckerschwärze." Ein anderer Teil betrifft die Reklame mitten in der Straße, zwischen den pa- picrnen Wänden, die er auf die Häuser kleben ließ. Eines Tages, als die Leute spärlicher sein Museum besuchten, ge- riet er auf den erlösenden Einfall. Für einen Dollar täglich stellte er einen Arbeitslosen an und gab ihm fünf Ziegelsteine in die Hand. Die Ziegel mußte der Mann in wechselnder Reihenfolge auf den Boden legen und dazu ein idiotisches REKLAME 197 Gesicht schneiden; dann hatte er in das Museum hineinzu- gehen. Bald scharten sich um ihn Hunderte, bald Tausende von Gaffern, und bald strömten sie ihm durch die Museums- pforte nach. Aus dieser Idee Barnums sind die merkwür- digen Straßenfiguren und lebendigen Schaufensterstafifagen hervorgegangen, die in Amerika wie in Europa durch un- gewöhnliches Exterieur die Beachtung der Passanten fordern. Die Sandwichmen, die, vorn und hinten mit Plakaten be- hangen, auf dem Fahrdamm promenieren. Die Stelzenläufer, die man in Newyork und Brooklyn sieht. Die in stroh- gelbe Paletots gekleideten, in Gruppen aufmarschierenden Herren mit den papiernen Riesenblumen im Knopfloch. Die Damen mit den bedruckten, dem Winter trotzenden Sonnen- schirmen. Und in den Schaufenstern die Männer, die im Kostüm römischer Gladiatoren steif wie Puppen dasitzen, andere, die beständig Hosenträger, Patentknöpfe und Kragen probieren, Frauen, die an ihrer eigenen Haut die Kunst der Massage zeigen, oder Fräulein, die verpflichtet sind, an Schreib- maschinen die Automaten mit rosigen Lippen zu spielen. Später als Barnums Heimat ist der alte Kontinent, den seine lärmenden Horden überfielen, zur Entfaltung einer autochthonen Reklame gelangt. Aber es gibt doch auch hier Vorläufer mit überraschend frühem Datum. Nicht in Deutsch- land, wo alles schleppte, und wo einer der Kühnsten der gothaische Zuckerfabrikant Adolphi war, der 1837 Reklame- verschen für seine Bonbons aus gothaischem Rübenzucker dichtete, im Geschmack etwa der folgenden Reime: „Der Zucker mahnte sonst an Sklaverei. Wie sollte das nicht schmerzen und betrüben? Gottlob, es ist damit vorbei, die Freien leben und die Zuckerrüben!" Ein halbes Jahrhundert brauchte es, ehe diese patriarchalische Methode überwunden und das Deutschland des Kölnischen Wassers, der Hühner- augenringe, der von Plakaten überschwemmten Rheinufer 13 198 REKLAME und der Lichtreklamen geboren worden war. In Frankreich war die Entwicklung weniger langsam. Aber schon in den dreißiger Jahren hat in dieser Nation der Lieferanten und Geschäftsreisenden Balzacs prophetisches Genie den „Cesar Birotteau" geschaffen, den Reklaraeroman der Parfümindu- strie. Da ist der alte, würdige Held, der sein Vermögen durch zwei Spezialitäten, die Sultaninnen-Pasta und die „Eau Car- minative", begründet hat. In allen Provinzen verbreitet er seine gelben, roten und blauen Reklameaffichen, auf denen der Vermerk: ,, Preisgekrönt vom Institut" nicht fehlt. Das orientalische Kennwort rechnet mit der Zeit, die nur vom Orient spricht — es ist die Erfindung eines Psychologen der Reklame — , und die offizielle Garantie kommt dem Zuge der chemischen Wissenschaft, die gerade allmächtig zu werden beginnt, entgegen. Dann erfindet Birotteau eine dritte Essenz, ein Haarwuchsmittel, dessen Ausbeutung er, der Morschende, seinem Gehilfen und Schwiegersohn Popinot überträgt. Im Anfang läßt Balzac, der sich schon ganz wie Flaubert zu- weilen über die menschliche Dummheit amüsierte, ihn dieses Haaröl „Huile Comagene" nennen, nach dem lateinischen ,,coma", ,,das Haar", und dem Stammwort für „erzeugen", und er macht dazu den Witz: ,,Das Wort steht in Racines Tragödie ,Berenice', wo ein König von Comagenien vor- kommt, ein Liebhaber jener um ihres Haares willen einst so berühmten, schönen Königin, der sicherlich, um ihr zu schmeicheln, sein Königreich also genannt hat. Wie geist- reich die genialen Dichter sind! Sie geben sich mit den ge- ringsten Kleinigkeiten ab." Jedoch ein anderer entscheidet über Namen und Schicksal des Haaröls, ein pariserischer Barnum im kleinen, den Balzac mit ganzer Liebe umfängt, Gaudissart, der ,, König der Reisenden", der jugendliche Dik- tator des ,,Article de Paris". Er nennt das Öl ,, Huile Ce- phalique", und er überbietet alles, was Birotteau geleistet REKLAME 199 hat. Seine Affichen haben typische rote Farbe. Er erfindet die ständige Annonce, den Permanenzrahmen. In die Türen aller Coiffeure, Perückenmacher und Parfümeure hängt er goldumrandete Drucke auf Velinpapier mit einer Chromo- lithographie, die eine von üppigem Haar umwallte Hero und einen lockigen Leander zeigt, und worunter der Satz steht: „Die Völker des Altertums erhielten sich ihr Haar durch tägliche Pflege mit Huile Cephalique." Er weiß auch, wie man die Konkurrenzartikel, die Pasta Regnauld und die bra- silianische Mixtur durch tausend Listen verdrängt, und wie man die feindliche Huile Macassar durch eine Einlage in einer Pierrotpantomime der Funambules dem Gelächter des Publikums ausliefert. Er ist ein Verwandter des Puff aus dem Lustspiel von Sheridan, nach dem einst in Frankreich die Technik der Reklame „puffisme" genannt wurde, und ein ins Romantische entschwebender Ahnherr zahlloser Epigonen. Achtzig Jahre vergingen. Dann erst entstand auf den bri- tischen Inseln, im Lande der Seifenfabrik Pears Soap und der Pillenfabrik Holloway, das englische Pendant zum „Cesar Birotteau", der Roman ,,Tono-Bungay" von H. G. Wells. Dieses mystische „Tono-Bungay" ist eine Patentmedizin, die alles kuriert, Gicht, Nervosität, Zahnschmerzen, Husten, Rheuma und Schlaflosigkeit, und ihr Erfinder ist der länd- liche Apotheker Edward Ponderevo. Mit seinem Neffen in- szeniert er die Feldzüge für seinen Universaltrank, der auch in fester Form, als Pille oder Biskuit zu haben ist. Er kom- mandiert eine Armee von Plakatkünstlern, vertreibt Myriaden von Prospekten, er sorgt dafür, daß in den Untergrundbahnen, in den Varietes, in den Restaurants das Auge nichts als das magische: „Tono-Bungay" liest, er ist allgegenwärtig. Und als sein Riesenbau zusammenbricht, fliegt er mit seinem Neffen in einem Aeroplan über den Kanal, vorbei unter den phantastischen W^olken. 13* Die Höllenmaschine. Der Pastor Maußbarth in Bremerhaven schrieb gerade, im fahlen Licht des Schneehimmels, neben seinem eiser- nen Ofen sitzend, die Predigt über die Botschaft Jesu Christi an Johannes den Täufer: ,, Blinde sehen. Lahme gehen. Aus- sätzige werden rein, Taube hören. Tote stehen auf", als Haus und Möbel von einem furchtbaren Donnerschlage wankten. Dem Pastor entfiel die Feder, und wie ein Symbolura äng- stigten ihn nun die Worte, die er soeben zu Konzept ge- bracht hatte: „Da setzt der Feind an." Durch die klaffenden Scheiben pfiff der Dezemberwind. Mit ratloser Hast stürzte der Pastor die Treppe hinab zum Haustor, dessen Glocke blechern tönte, hinaus auf die von Menschen wimmelnde Straßq. Dem Hafen waren alle Gesichter zugekehrt. Eine schwarze, ferne Rauchwolke stieg empor, und schon kamen Boten des Unheils, die Wahnwitzigen ähnelten, herbeigelau- fen. Blutüberströmt glitten einige nieder, andere tanzten wie im Veitstanz, andere bellten, ohne daß ihrer schnarrenden Kehle ein sinnvoller Laut gelang. Vor dem Speicher der KaufTahrteigesellschaft sah sich der Pastor von der zitternden Hand eines Fremden berührt, der ihm zuschrie: „Gehen Sie nicht hin! Der Dampfer Poseidon ist in die Luft geflogen!" An der Kaimauer erblickte er ein tiefes Loch, dessen Umkreis mit Glas, Sand, Stücken mensch- lichen Fleisches und Fetzen menschlicher Gewandung besäet war. Hart vor dem Ufer lag das von Dämonen entzwei- gerissene Schiff. Die hölzernen Kammern waren zerschmet- tert, die geborstenen Türen aus den Angeln gehoben, Glas- splitter über den ganzen blutberonnenen Rumpf verstreut, Eingeweide klebten am Navigalionszimmer, Bahren wurden zu der Landungsbrücke geschleppt. Auf dem Eis des Vor- hafens ächzte eine Frau, die ihre Beine verloren hatte und DIE HÖLLENMASCHINE 201 nun mit ihren Stümpfen dastand; in den Armen hielt sie den dunklen Schal, worein vorhin ihr Kind gewickelt war, und streichelte ihn ohne Bewußtsein. Von einer Familie, die einem nach Kalifornien reisenden Sohn das Geleit hatte geben wollen, war niemand übriggeblieben. Den Leichnam eihes Inspektors erkannte die Witwe am goldenen Trauring. Der Pastor Maußbarth vernahm von wunderbaren Erret- tungen. Nur die Knöpfe des Winterrockes fehlten einem Bürger, nur die Vorderzähne einem zweiten, einen Lastträger hatte die Explosion auf Strohsäcke geworfen, einen Matrosen an die Schiffswand, über der er mit dem Oberleib schwebte ; die Toten, die sich um ihn häuften, hatten ihn durch ihr Gewicht vor dem Sturz bewahrt. In einer Wiege schafften die Samariter einen Mann zum Lazarett, der nach der Zer- störung die Tür seiner Kabine verschlossen und einen Re- volver gegen seine Stirn abgefeuert hatte. Die Tür war ge- sprengt und die mit noch fünf Kugeln geladene Waffe dem Manne weggeholt worden. Der Pastor Maußbarth ging, die Sterbenden zu trösten. Durch die Stadt eilte das Gerücht, daß man der Ursache der Katastrophe auf der Spur sei. Eine ruchlose Tat sei hier geschehen. Der Hafenmeister und der Kapitän entsannen sich, daß noch in der letzten Minute vor der Abfahrt unter hü und hott ein Frachtwagen herangetrieben worden war, den der Geschäftsführer eines Spediteurs in Bremerhaven zum Dampfer beförderte; dieser Angestellte und der Kutscher waren tot, das zur Seite geschleuderte Pferd hatte die Beine oberhalb der Hufen gebrochen und verendete an der Kai- mauer. Bald wußte man, daß vier Kisten und ein Faß sich auf dem Wagen befunden hatten. Ein Heizer berichtete, die Kisten seien eben, von einem Tau umschlungen, vom Dampfkran an Bord gezogen worden, und die Arbeiter hätten das Faß mit ihren rauhen Fäusten herabgestoßen; da 202 DIE HÖLLENMASCHINE habe er einen jähen Ruck verspürt, und vor seine Augen habe sich Nacht gelagert. Dieser Transport also hatte die Explosion bewirkt. Kein Zweifel war möglich, daß eine Höllenmaschine im Innern gewesen war; und erstarrend fragte man sich, wer sie habe durchschmuggeln wollen. Alle wiesen auf den geheimnisvollen Passagier, der wie einer, der irdischer Strafe zu entgehen trachtet, unten im Dampfer sich zu töten versucht hatte. Noch eine halbe Stunde nach der Explosion hatte er dem Kapitän sich genähert. Er trank aus einer Schnapsflasche und zeigte wirre, sich abstumpfende Geschwätzigkeit; dann begab er sich in seine lichtlose Kajüte, auf deren Sofa er, hemdärmelig, mit verschwollenen, blut- befleckten Wangen, die Kugel im Schädel, entdeckt worden war. Thomas hatte er sich in der Liste genannt, Amerika seine Heimat, Dresden sein Domizil und das Hotel du Nord sein Quartier vor der Einschifi"ung; man ermittelte, daß er im Hotel Stadt Bremen gewohnt hatte. Morgens kam er wieder zu sich, und die Personen des Ge- richts erschienen, um ihn seines grauenhaften Anschlages zu überführen. Mit höhnischer Grimasse murmelte er irgend etwas von zerrüttetem Vermögen vor sich hin; dann konnte sein Geständnis protokolliert werden. Er räumte ein, in jenem Faß habe er Dynamit und ein Uhrwerk verborgen, nach dessen Abschnurren der Sprengstoff sich habe entzün- den sollen. Die Kisten seien sehr hoch versichert gewesen. Er habe geplant, in Southampton den Dampfer zu verlassen und dem Untergang zu überantworten; wegen der Torheit der Arbeiter oder wegen irgend eines Defekts habe sich das Dynamit zu früh entflammt. Nun gehe er selbst drauf, aber es sei kein Grund, sich seines Schadens zu freuen. Im Lazarett entstand eine wilde Erregung. Die Kranken drohten, den Mörder zu lynchen. ,,Es ist wie in der Hölle", äußerte ein Richter zu Pastor Maußbarth; und auch in der Stadt DIE HÖLLENMASCHINE 203 fluchte man, kniend und betend, dem Stifter des Unheils. Am Abend dieses Sonntags jedoch war auf den Tanzböden der Stadt dasselbe Gewühl wie stets, und als der Pastor, von dem unchristlichen Sinn der Heimgesuchten erschreckt, an den Wirtshäusern vorbeiging, klang aus ihnen johlende Musik. Die Seelen wurden verstockt und weigerten Gott die duldende Frömmigkeit. Die Polizei erforschte durch Telegramme einen Uhrmacher im Wiener Bezirk Neubau, von dem Thomas, unter dem Namen eines Russen Pjotr Wißkoff, das Modell des als Höllenmaschine benutzten Uhrwerks verlangt hatte, weil er für seine durch Arbeiterstreiks gestörten Fabriken es brauche; zwölf bis vierzehn Tage müsse es im Gange sein und dürfe nicht „Piki-Puki" machen. Ein Bernburger Uhrmacher hatte ein abgeändertes Modell geliefert, für das Thomas einhun- dertfünfundzwanzig Taler zahlte; in Bernburghatte der Ameri- kaner gesagt, daß er Seidenfabriken habe und der neue Mechanismus tausend Fäden auf einmal zerreißen solle. Noch zwanzig Uhrwerke waren bestellt. Dem drängenden Richter nannte Thomas, bei dem Fieberraserei sich ankündigte, als seinen wahren Namen William King Thomson. Er be- hauptete, er sei Kapitän des „Old Dominion" gewesen und wegen Blockadebruchs im amerikanischen Bürgerkrieg von den Nordstaaten verfolgt worden. Man mußte ihn fesseln, weil er, um zu verbluten, sich seines Wundverbandes ent- ledigte. Mit ihrem Kinde, das fünf Monate alt war, und einer Wärterin traf die junge, blonde, sympathische Frau Thomas oder Thomson aus Dresden in Bremerhaven ein; sie hatte das Doppelwesen ihres Mannes nicht geahnt und weinte, väterlich umarmt vom Pastor Maußbarth, wie eine Schülerin. Thomas stierte ihr ins Antlitz. Er starb, ohne Komplicen verraten zu haben. V Der Blaubart. Oweh," so klagten die Mädchen in der Bretagne, „der böse Blaubart hat die liebliche Gwennola umgebracht, wie er alle seine Frauen getötet hat. Der reißende Wolf ist nicht schlimmer als der wilde Baron, der Bär ist sanfter als der höllische Baron de Rais." Doch jubelnd schlössen die Mädchen von Pleeur: ,,Die Nachtigall erfüllt den Hain mit ihren zärtlichen Tönen, die Finken und Amseln singen wieder ihre süßesten Lieder. Gilles de Laval ist nicht mehr! Der Blaubart ist tot!" Der Abbe Bossard hat Jahre darauf ver- wendet, diesen Refrains einer Sage zu lauschen und zu be- weisen, daß der „Barbe-Bleue" der Feengeschichten von Perrault der schwarze Marschall von Frankreich sei, der auf seinen Burgen die Kinder mordete. Ein zweites Zeugnis bringt der gelehrte Abbe her, die alte Ballade von Gilles de Laval, den der blonde Teufel in Gestalt der Blanche d'Her- minie verflucht: ,,Du sollst der Blaubart sein, der fürchter- lichste der Menschen." Über Tiffauges war, an einer mor- schen Steintreppe, das Blaubartzimmer zu sehen. In der Kirche des heiligen Nikolaus sollten die sieben Frauen unter schwerer, siebenmal geritzter Steinplatte ruhen. Bei La Ver- riere, im Lande des Gilles, wachsen rings um eine Kapelle sieben Bäume gen Himmel. In Machecoul, der Feste, auf der Prelati, der Alchimist, saß und des Laval dürre Schaff- nerin, die Meffraie, der Aasgeier, hatte man lange noch Blau- barts Degen aufbewahrt, in Camptoce einen Stein, Blaubarts Schädel. Anatole France indessen, der Lateiner, schüttelt den Kopf. Er sagt in seinem Märchenbuch „Les sept femmes de Barbe-Bleue et autres contes merveilleux" nebenbei, Per- raults Unhold und der geharnischte Dämon hätten ein ganz verschiedenes Antlitz. Man dürfe ihre Personen nicht verwech- seln. Dann nennt er den Blaubart Herrn Bernard de Mont- .tf DER BLAUBART 205 ragoux, gibt ihm einen Zeithintergrund, wie nur dieser letzte historien des Gaules ihn zu ersinnen vermag, und kehrt sein Schicksal ins Gegenteil. Aus dem blutberonnenen Oger wird fast ein Humanist, ein mißhandeltes, verleumdetes, edelmüti- ges Wesen. Schon ein anderer Dichter aus französischem Kulturbereich, der zu mild war, um an den Oger noch zu glauben, hat in unseren Tagen den Blaubart zu erlösen versucht. Aber zwitter- haft ist Maeterlincks Welt, in der Gotik und Latinismus sich begegnen. Er unterfing sich nicht, mit dem Spuk in der äußersten Form der Entscheidung abzurechnen, und flüch- tete in ein dämmermattes, von den blendenden Katarakten der Amethyste, Saphire, Perlen, Smaragde, Rubinen und Diamanten erhelltes Libretto für Dukas. Halberstickt schallt, wenn Maeterlinks Ariane mit goldenem Schlüssel die siebente Tür öffnet, die versunkene Weise der „Sept filles d'Orla- monde" herauf. Lebend verlassen die lächelnde Selysette, die fahle Ygraine, Melisande im sonnengoldnen Haar, Bellan- gere mit den großen Augen und die fremde Alladine ihr Ge- fängnis und steigen zum Licht, das durch die Bresche sprüht. Zweimal nur betritt der Blaubart selbst die Bühne; in einer raschen Szene des Jähzorns und als ein von den Bauern Gebändigter, der stumm in Arianens Norablick seine Be- gnadigung liest. Nie haben die Deutschen ein solches Be- dürfnis gefühlt, den bretonischen Ritter, der sie wie in Wahl- verwandtschaft anzog, durch neochristliche Empfindsamkeit zu entsühnen. Sie wollten ihn als Mörder. Sie ließen dem Stoff seine Konturen und das Barbarische, das der deutschen Gier entgegenkommt. Sinnliches und Geistiges zu vermählen. „Aus den uralten Tiefen," singt Tiecks Marcello, „in denen Sehnsucht, Schmerz und Wollust brannte". Hugo von Wolfs- brunn, der Blaubart des Romantikers, ist ein Wüterich durch- aus, ein grimmiger Verächter, dem das Dasein als ein Puppen- 206 DER BLAUBART spiel gilt, den Argwohn zerfrißt, und der, im Text des „Phantasus" und auf Pergers naivem Stich, recht wie ein böser, zerrupfter Raubvogel verscheidet. Eulenberg hat diese deutsche Blaubart-Atmosphäre in seinem trotzigen Gemüte wiederum erlebt. In seiner hingestammelten, schwelenden Vision atmet, was unserer gemeinsamen Jugend am teuersten war: der Schauer der Nacht, Wirrnis und Einsamkeit. France ist der Antipode dieses Zustandes. Er ist der Testa- mentsvollstrecker des bon sens, der Schüler des irdischen Rabelais. Zwar versagt er sich das rationalistische Hilfs- mittel, den Blaubart überhaupt zu leugnen und ihn für eine Personifikation der Sonne 2u erklären. Sein Blaubart ist nicht der falsche Meyerbeer-Brüller der OfFenbachiade, der alle Frauen liebt und sich keiner exklusiv widmen kann (,, Barbe-Bleue ö gue, jamais veuf ne fut plus gai"). Aber Witz und Ernst sind in dieser Fabel von Bernard de Mont- ragoux gemischt, der Blaubart heißt, weil seine rasierte Wange bläulich schimmert, und der aus Schüchternheit der Sklave von Kreaturen wird. Er mordet nicht, der gute cocu senti- mental. Nur durch die Fresken eines mit rotem Porphyr gepflasterten Kabinetts — sie stellen die unglücklichen Frauen aus Ovids Metamorphosen dar — ist das Geraune von ver- botenen Dingen entstanden. Der aus Khnopffs Bildern her- schwankende Mädchenreigen des Genters, die Choristinnen Yolanthe et Cie., die Popolanis Maschine elektrisiert, sind bei France ein Haufe draller Megären oder von Schwestern der Boulotte. Die Jahrmarktsgauklerin Colette brennt Herrn von Montragoux durch, Jeanne, das Weinfaß, plumpst in den Brunnen, Gigonne, die hinkende Bauernmagd, will des Königs Kebse sein und erliegt der Gelbsucht. Blanche, der ein Ohr fehlt, wird von einem ihrer Buhlen erstochen, die dumme Angele von einem Mönch entführt. Alix, die sechste, ver- weigert die eheliche Pflicht. Und die siebente der Sage ist DER BLAUBART 207 nun Jeanne de Lespoisse, eine Kanaille, die mit ihrer Sippe und mit dem jungen Chevalier de la Merlus den Montragoux schlachtet. In das misogyne Gelächter des Dichters, der Herrn Ber- geret Frau Bergeret zugesellte, klingt das „Anne, ne vois-tu rien venir?" der Ritterlegende, klingt der Refrain der Mäd- chen von Pleeur aus. Rimbaud. An der preußisch-holländischen Grenze leistete Jean-Arthur Rimbaud Werbedienste für dieselbe batavische Armee, aus der er in den Urwäldern Javas desertiert war. Er legte sich einen falschen Namen bei, und da er von Stuttgart her dasDeutsche notzüchtigte, glaubten viele gute deutsche Jungen den Worten des hohläugigen Lügenschmieds. Das Geld, das man ihm auszahlte, blieb in den Spelunken von Sankt Pauli kleben. Statt auf einem Schiff nach dem Orient fuhr er als Dolmetscher des Zirkus Loisset nach Kopenhagen und Stock- holm, und sein heiseres Geschrei übertönte Trompeten und Pauken. Der französische Konsul, bei dem er bettelnd vor- sprach, schickte ihn mit der Eisenbahn zurück nach der Heimat, nach Charleville. Er stand mit seinem verbeulten Koffer vor der Tür seiner Eltern, gab mit unsicherer Zärtlich- keit seiner Schwester Isabelle und auch seiner gefürchteten Mutter die Hand, träumte, träumte und bekam eines Tages den Reisevorschuß, nach dem er in verdrossenem Lungern gegiert hatte. Er kletterte durch die Schneelasten der Vo- gesen, passierte in Goeschenen das Dorf der italienischen Tunnelarbeiter, schritt über die weißen Höhen des Sankt Gotthard, Rauhreif im Bart und in den Augenbrauen, mit abgestorbenen Ohren, mit geschwollenem Hals, traf unter den Weinbergen von Giornico Trupps von Ziegen, grauen Kühen und schwarzen Schweinen, ging an Bord in Genua und wurde von Ägypten nach den glühenden Marmorfelsen Zyperns verschlagen. Sechs Monate war er Aufseher der Firma Thial und Co. Keine Erdkrume war in der Nähe, kein Quelhvasser, kein Strauch. Krank fiel Rimbaud um, krank wurde er übers Meer zurücktransportiert, und wie- derum erblickte er, als er eines Morgens die entzündeten RIMBAUD 209 Augen erhob, den Kirchturm und die Mairie von Charleville durch die Eisblumen des Fensters. Im regnerischen März reiste er von neuem nach Alexan- dria und von neuem nach dem zyprischen Marmorland. Er wurde beim Bau des Hauses auf dem Berge Troodos ange- stellt, das für den Gouverneur bestimmt war. Dann suchte er schweifend die Küste des Roten Meeres ab. In Aden, dem Glutherd, meldete er sich als Warenagent bei Mazeran, Vian- ney und Bardey. Sie entsandten ihn nach dem äthiopischen Harrar, jenseits des Dschebel Ahmar und der Somaliwüste. Dort handelte er mit Kaffee, Duftessenzen, Gold, Straußen- federn, Gummi, Leder und Elfenbein, bat die in Charleville, ihm Fachschriften für Wagenbauer, Gerber, Schlosser, Töpfer, Glasbläser, Telegraphisten und Zimmerer zu besorgen, bat vergebens, schuftete für die ausgedörrten Schikaneure in Aden, w^arf ihnen den Krempel hin und schuftete knirschend weiter. Europa versank ihm. Monate entschwanden, ohne daß er eine Zeitung anrührte. Er las den Koran. In seiner Faktorei war um ihn eine braune, sanfte Abessinierin, die er von dem Missionar Pere Francois und den französischen Nonnen unterrichten zu lassen gedachte; sie war europäisch gekleidet und rauchte gern Zigaretten. Er machte Bekanntschaft mit Menelik, dem König von Schoa, und rüstete eine Karawane mit Tausenden von Flinten aus, die er dem jakobitischen Häuptling abliefern wollte. Sein Kompagnon Labatut starb, Fehlschläge reizten ihn selbst. Von Aden aus erbot er sich, dem Temps Artikel über den Krieg der Italiener zu schreiben. Paul Bourde, ehemals sein Mitschüler, antwortete ihm in einem Briefe, worin er ihm sagte, er sei, w^ohl ohne es zu wissen, in Paris eine Art literarischen Gottes; er fluchte, denn die Literatur war ihm ein Vomitiv. Bald belohnte sich seine wütende Zähigkeit. Bald traute ihm der Enkel Salomos und der Königin von Saba, bald hatte er Vermögen, und es schien. 210 RIMBAUD als ob der knabenhafte Dithyrambus aus seinem Höllenpoem in Erfüllung gehe: „Ich werde mit eisernen Gliedmaßen wiederkehren und mit dunkler Haut, und von meinem Ant- litz wird man lesen, daß ich ein Mensch der starken Rasse bin. Gold werde ich mein eigen nennen. Die Frauen pflegen die erschöpften Wildlinge, die in den sonnigen Ländern waren. Ich werde an den Schicksalen des Staates teilnehmen, ich werde gerettet sein." Da spürte er mit Unruhe gichtige Spannungen, wie sie auch sonst Europäer im gewaltsamen Klima von Harrar befallen. Im Februar, in der Regenzeit, schwoll ihm das rechte Knie an, und ein marternder Schmerz durchzuckte ihn mit der Wucht eines Hammerhiebs. Er versuchte zu Pferd zu steigen; aber er fühlte sich jedesmal zerschmettert. Er hinkte. Sein Bett stand zwischen dem Kassenschrank und einem Fenster, von dem er die Wage im Hofe beobachten konnte. Sein Knie war nun schwer wie ein Steinklotz. Im März entschloß er sich, die Faktorei zu sperren. Sechzehn Neger trugen ihn in einer mit einem Vor- hang zugedeckten Sänfte durch die bergige Öde nach Zellah, und überall bezeugten die Somalis mit Grimassen ihm ihre Dankbarkeit. Am zweiten Tag ereilten Regengüsse ihn und die Karawane; sechzehn Stunden lag er im Freien, ohne Schutz. Der Dampfer nach Aden schwamm drei Tage auf dem Meer. Gräßlich war die Ausladung. Der englische Spital- arzt, der den Stöhnenden hin und her riß, konstatierte eine Synovitis, die Amputation des Beines zur Folge haben werde. Die Amputation geschah im Hospital der heiligen Emp- fängnis zu Marseille. Als dem Patienten das Bewußtsein dämmerte, saß neben seinem Bett die Mutter, und als die schreckensvolle Wunde zu vernarben anfing, hörte er, daß seine despotische Trösterin wieder abgereist war. Tag und Nacht weinte er vor sich hin. Er redete sich ein, daß ihm, dem Skelett, wegen Umgehung der Heerespflicht in Frank- RIMBAUD 211 reich Strafe drohe, und erst nach langer Frist befreite ein Brief der Schwester ihn von dieser Angst. Über die Treppen des Spitals führten ihn die mißgelaunten Wärter. Das Holz, das man ihm anschnallte, zerstieß ihm, wenn er auf Krücken einherkroch, den Beinstumpf. Der Chirurg, der Doktor Nico- las, hielt es nicht mehr für erforderlich, nach dem Geheilten zu sehen. Als er mit scheußlicher Anstrengung ein Dutzend Schritte zu humpeln vermochte, nahm er in Roche bei seiner Familie, ein bejammernswerter Krüppel, ein letztes Obdach. Die Schwester richtete ihm das schönste Zimmer her. „Das ist ja Versailles!" rief er, als er es betrat, mit welkem Lächeln. Er hoffte zu genesen, er sehnte sich nach Harrar und Expedi- tionen im Sattel, für die er ein höchst sinnreiches mechani- sches Bein in Auftrag gab. Oft wünschte er durch Spazier- fahrten sich zu erheitern. Die Felder waren vom Regen ver- fault, kahl in gewitterschwangeren, von Hagel und unzeitigem Frost zerstörten Hundstagen die Obstbäume, Er litt, litt über menschlische Geduld. Sein rechter Arm wurde starr. Aufgekochter Mohn umnebelte ihn. In halber Nacht, bei den Melodien eines Leierkastens, sprach er von seinen Er- innerungen. Zuweilen offenbarte sich jetzt, daß er des mit Infamie und Ruhm verschollenen Dichters Arthur Rimbaud sich noch entsann. Doch Isabelle, die Schwester, wagte nicht ihm zu gestehen, daß sie in der Latrine des Wohnhauses zu Charleville ein Versmanuskript mit der Einleitungszeile: „O mon Dieu, vous m'avez blesse d'amour" gefunden hatte; es war das geistliche Hochzeitlied des Satyrs Verlaine, nicht, wie sie mutmaßte, ein Werk ihres armen Bruders, den Halluzina- tionen und Schweißschauer rüttelten. Er hatte die Fieber- idee, beide Beine seien ihm vom Rumpfe getrennt, und durch einen Winkel der Stube flattere ein gespenstischer Schatten. Er sprang empor und stürzte jäh auf den Teppich hin. Über seine fleischlosen Wangen sickerten Tränen des Zornes. Als 212 RIMBAUD der August zur Neige ging, begehrte er nach dem Hospital in Marseille. Zweimal holperte die Kutsche, in die man ihn packte, über die Chaussee zur Bahn; das erstemal brauste der Schnell- zug davon, als das Gebäude mit der scheppernden Glocke und den kümmerlichen Dahlien hinter dem Staket eben in Sicht war. Der Moment des Abschieds nahte. Schluchzend widersetzte sich der Todeskandidat; die Schwester begleitete ihn. Er lehnte auf den harten Kissen des Waggons, unter dem verstümmelten Bein seinen arabischen Burnus: mit dem linken Ellbogen schob er sich bis zum Fensterkreuz. Er schlummerte ein wenig. Seine Augen waren geöffnet, seine mageren Hände hingen herab, seine Haut übersäeten rote Flecke. Unterwegs verirrten ein junges Ehepaar sich in das Coupe und Bürgersleute mit lärmenden kleinen Kindern. In den Städten feierte man Sonntag. Über die glitzernde Seine schössen die Ruderboote. Abends war man in Paris. Der Todeskandidat wollte dort die Nacht zubringen. Weil es regnete, nannte er dem Fiaker sofort die Gare de Lyon als Ziel, Er betrachtete durch die trüben Scheiben die leeren Boulevards. Auf der Fahrt nach Marseille lähmte ihn völlige Ankylose. Noch ein Vierteljahr war er im Hospital zur hei- ligen Empfängnis. In seinen Phantasien rief er: „Allah Kerim! Allah Kerim!" Er prophezeite, er schwärmte von Amethystsäulen, von Marmorengeln, von den tropischen Landschaften seiner „Illuminations". ,, Rimbaud, Jean-Nico- las, 37 Jahre, Kaufmann, geboren in Charleville, auf der Durchreise durch Marseille, gestorben am 10. November 1891, 10 Uhr morgens", notierte der Doktor Nicolas im Spi- talbuch. Die Beredsamkeit. Sie ist Jahrhunderte hindurch als etwas sehr Erhabenes, als ein Triumph schulgerechter Bildung gepriesen worden. Man nannte sie Rhetorik und erinnerte sich dabei an die politische Blüte des Altertums oder an Bossuet, der von der Kanzel donnert und in purpurn wallenden Sätzen den Tod der Königin Henriette von England oder des Prinzen Conde betrauert. Erst in unserem Zeitalter hat ein Deutscher, hat Heinrich von Kleist die Beredsamkeit, die Macht, mit Vo- kalen und Konsonanten die Menschen zu begeistern und zu betören, auf ihren natürlichen Ursprung zurückgeführt. Die Abhandlung steht in den vermischten Schriften, worin der königliche Dramatiker so viele gleich Blitzen aufzuckende Er- kenntnisse angedeutet hat, und trägt den Titel: „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden." Der Versuch beseitigt die ganze Lehre von der rhetorischen Kunst. Er gibt nicht zu, daß klare Ideen aus der ,,W^erkstatt der Vernunft" das erste seien und dann sich eine logische For- mulierung nach schönen Gesetzen schafften. Vielmehr er- scheint die Beredsamkeit als eine Sichtung verworrener Vor- stellungen, denen durch das Einmischen unartikulierter Töne, durch in die Länge ziehende Verbindungswörter, durch Appositionen, die nicht nötig wären, Zeit gelassen wird, sich über sich selbst klar zu werden. Der Redner bedarf eines Feindes, der ihm die Rede zu entreißen droht, und dessen vermeintlicher Widerstand seine Fähigkeit anspannt, wie die eines Generals in der Schlacht. ,,Ich glaube," liest man bei Kleist, „daß mancher große Redner in dem Augenblick, da er den Mund aufmachte, noch nicht wußte, was er sagen würde. Aber die Überzeugung, daß er die ihm nötige Ge- dankenfülle schon aus den Umständen und der daraus resultierenden Erregung seines Gemütes schöpfen würde, 14 214 DIE BEREDSAMKEIT machte ihn dreist genug, den Anfang auf gutes Glück zu setzen." Man sieht, wie wenig diese Ketzereien dem rhetorischen Ideal entsprechen, das einst in den Kirchen herrschte, das heute noch in den Parlamenten sich findet, dessen Stunde aber längst geschlagen hat. Der Redner mit den tönenden Perioden ist eine überlebte Merkwürdigkeit. Langsam versinkt selbst bei den Franzosen die Sonne des Pathos. Es hatte unter ihnen seine höchste politische Gewalt in den Tagen Mira- beaus. Doch eben dieser interessante Bändiger der Massen war anders als seine Genossen, anders, als ihn die Nachge- borenen sich träumen ließen. In falschen Farben hat ihn Hugo gemalt. Er erzählte von einem Mirabeau, der auf der Tribüne wie im Käfig umhergerannt sei, schäumend, ächzend, mit der Schulterbewegung eines Elefanten, mit gesträubter Mähne, die Hände krampfhaft auf die Marmorplatte gepreßt. In Wahrheit ist der Redner Mirabeau (und nur dieser, im Kontrast zu dem physischen Individuum) kalt und beherrscht gewesen. Niemals rannte er umher, er stand still auf seinem Platz. Nur die letzten Worte seiner Sätze trug er schwer und langsam, mit Lungenaufwand vor, weil er so Muße hatte, an den nächsten Satz zu denken oder mit dem Auge die kleinen Zettel zu überfliegen, die ihm von Freunden hin- gehalten wurden, und die er eilends benutzte. Er wirkte durch seine Ruhe, die von außen den Eindruck der Leiden- schaft hervorrief. Nur einmal hat er vom Rhetorentum sich überrumpeln lassen. Kleist schildert in seinem Versuch auch die Szene vom 23. Juni 1789, die Geburtsstunde der Revo- lution, Mirabeaus berühmte, nur durch einen Zufall ent- scheidende Rede gegen den Zeremonienmeister des Königs. „Vielleicht," so meint des Dichters Argwohn, „daß es auf diese Art zuletzt das Zucken einer Oberlippe war oder ein zweideutiges Spiel an der Manschette, was in Frankreich den Umsturz der Ordnung bewirkte." DIE BEREDSAMKEIT 215 Leon Gambetta hat das Bild des trunkenen, besinnungs- losen Wortfanatismus ganz verkörpert. Und er ist zugleich der Bankerott des Rednerturas, das auf den Platz des Staats- mannes gehoben wird. Er war der Sturm. Aber er war der Inbegriffder politischen Plattheit für diejenigen, die ihn nicht als Schauspiel empfanden, sondern ihn mit kritischem Blick beobachteten, der Inbegriff der Plattheit für Leute mit Ge- schmack. Ein Sohn des Südens, ein Genuese, berauschte er sich an der Phrase. Er hatte eine häufig wiederkehrende Geste: die Hände rundete er und hielt sie über dem Bauche vor sich, als wolle er irgend einen unsichtbaren Gegenstand umfassen. Mit den Fäusten fuhr er durch die Luft, oder er schlug auf die Tribüne, daß es dröhnte, und daß das Wasserglas hinuntersauste. Sogar wenn er auf dem Präsi- dentenstuhl im Palais Bourbon saß, schrie er mit lauter Stimme. Vom Gott der Agitation gepackt, hörte er seine eigenen Worte nicht. So entschlüpften ihm verkehrte Metaphern, so passierte es ihm, daß er die Bürger von Le Hävre anredete : „Einwohner von Le Hävre, ich kenne eure Bedürfnisse, ich kenne auch eure Absatzwege. Stürzt euch, ihr glühenden Renner, in dieses Meer, das euch hier vorn erwartet. Euer Beifall krönt nicht nur meine Vergangenheit, er illuminiert auch meine Zukunft." Mit der heimlichen Sympathie des Landsmanns hat ein anderer aus dem Süden, Daudet, den Redner geschildert. Er hat ihn gezeigt, wie er als Student am Wirtshaustisch perorierte, mitten unter einem Dutzend „Meridionalen", alle mit Barten, die blauschwarz waren wie Polisanderholz, und mit großen Pferdenasen. Schon damals hatte Gambetta den sonoren Akzent und das Rollen der Schulter; „Gambetthäh" sagten seine Freunde von ihm. Er war der Cabotin, der Komödiant der Beredsamkeit, der sich beleuchten läßt, der, ehe er zum Volke redet, sich die Kra- watte zurechtrückt und sich durch die Haare föhrt, der um 14* 216 DIE BEREDSAMKEIT des schönen Wortes willen Politik treibt. In Frankreich ist dieses schöne Wort bis heute ein volks- tümliches Mittel geblieben. Wenn der Hugenott Fontane meinte, jede englische Dame könne einen Roman schreiben, jeder Deutsche ein Sonett machen oder eine Sonate spielen, so wird es keinen französischen Abgeordneten oder Minister geben, dem nicht das schlechte Pathos zu Gebote steht. Ein riesenhaftes Fossil unter ihnen ist der Professor Jean Jaures. Als er die Ecole Normale besuchte, setzten ihn seine Mit- schüler auf den Ofen und riefen ihm zu: „Woran denkst du? An nichts! Dann rede!" Und Jaures legte los. Eines Tages hielt er in der Klasse des Professors Boutroux einen Vortrag über Kant, und der Strom seiner Beredsamkeit war unab- sehbar. Plötzlich, als es stille war, sagte Boutroux mit seinem traurigen, dünnen, bescheidenen Stimmchen: „Nun wollen wir von der reinen Vernunft sprechen!" Mokanter Geist brachte Herrn Jaures um seinen Erfolg. Die Schule Gam- bettas wird aussterben wie die Schule Guizots, der pompös im Stile Racines sprach. Die Deputiertenkammer ist nüch- tern geworden, ihre Rhetorik geschäftlich, die dreisten Redner stören das Arbeitsprogramm. Die englische Rednerschule war vom französischen Wesen so völlig verschieden wie die Finsternis vom Licht, wie der Himmel von der Hölle. Cromwell, der Vater der parlamen- tarischen Regierungen, sprach mit gewolltem Verzicht auf Kunst. „Ich vermag nicht", sagte er, „mit Worten spielend auf Ihr Gefühl zu wirken, um damit Tatsachen zu verdun- keln." Hart, stolz, unnahbar war die Stimme Pitts. Glad- stone sprach, nach Lothar Bucher, „wie mit einem Heiligen- schein". In der neuesten Zeit ist die Beredsamkeit Cham- berlains aufgekommen, der die Zwanglosigkeit des Alltags, die Dialektik eines Handlungsreisenden hatte, wenn er den „gemeinen Mann" über das britische Imperium unterrich- DIE BEREDSAMKEIT 217 tele, über Zölle und Kolonien, über Baumwolle, Tabak, Tee und Brot. Es ist die Beredsamkeit der Kontore und der Straßen, die sich das Reich der Politik erobert. In Deutschland war die politische Rhetorik eine Sache der Bildung für die Redner der Paulskirche, Lassalle und die Zelebritäten der ersten deutschen Reichstagsperiode. Aber es kamen stolpernde Redner auf, Redner ohne Sinn für Schönheit. Am 10. Februar 1885 sagte der Kanzler von Bis- marck, asthmatisch, in der Fistellage, nach Worten ringend: „Ich kenne dieses Geschäft auch ziemlich genau aus eigener Erfahrung. Ich verkaufe meinem Mühlenpächter das Holz zur Bereitung von Zellulose für 13 Mark weniger 25 Pfennig das Raummeter — es wird nach Raummetern gehandelt. Sie haben Festmeter genommen, dann kommt das Raummeter statt auf 13 Mark auf etwa 10 Mark in Sachsen." Gegen Lask er zielte seine Bosheit: „Es ist wirklich mit diesen be- redten Herren, wie mit manchen Damen, die einen kleinen Fuß haben und immer zu enge Schuhe anziehen und die Füße vorstrecken und sehen lassen. So, wenn einer das Un- glück hat, beredt zu sein, da hält er zu lange Reden und zu oft." Und dieser Mann, der mit den Parlamentariern kämpfte, war ein Redner nur durch die Bannkraft seiner Augen. „Die Regierung der Redner", so schließt der Skeptiker de Gourmont, „ist die Regierung der Menschen, die nur denken, wenn sie sprechen. Die Rede ist Literatur und, wenn sie durch mäßig denkende Menschen ausgeübt wird, niedere Literatur. Sonderbare Welt, in der Richelieu, der nicht be- redt ist, in den Kommissionen ein obskures Mandat bekleidet, während Trouillot sich spreizt und Worte macht. Bonaparte mit der trockenen Tonart, der für jede Idee je ein Wort hat, würde nicht verstanden; die Kammer würde sich leeren." Doch der lakonische Bonaparte hatte seine Revanche am 18. Brumaire, als er die Redner A^erjagte. Lutetia. Das Etablissement Kosmopolis, die Stadt der Boulevards, des Asphalts, der blökenden Hupen, der grell singenden Bremsen, der ohne Plan durcheinanderlaufenden Menschen- massen, der Camelots, die schon um drei Uhr nachmittags sich die Kehlen heiser schreien, der geschminkten Mädchen, der zarter bemalten Damen, der elsässischen Kellner, der Stummelsucher, der Bauernjungen in Zuavenuniform, der Algerier, die Teppiche verkaufen, der Inder im Turban und der Mulatten. Die Stadt der Aperitifs und der Restaurants, in denen niemand sitzen.-hleibt, und die nach der Diner- stunde unverzüglich die Lichter auslöschen, das weiße, teure Cafe Anglais wie die wohlfeilen Bouillons (in denen man zwischen Spiegeln und brauner Holzschnitzerei ißt, von ruhigen Frauen in Häubchen bedient). Kein Zweifel, daß diese Boulevards sich recht unangenehm amerikanisiert haben. Noch zwar haben sie ihre italienisch ungenierten Pissoirs, die meist nur die Andeutung eines Wandschirms sind. Noch werden sie manchmal von loth- ringischen Karren mit zwei hohen Rädern durchquert, an denen drei Pferde hintereinander ziehen. Noch sind auch den Omnibussen, die von der Madeleine zur Bastille fahren, drei dampfende Rosse vorgespannt. „Es sind die letzten", erklärt Monsieur Gaston in der Taverne Pousset, der einen so unwahrscheinlich schwarzen Schnurrbart und unwahr- scheinlich dicke Brauen hat. An den Ecken stehen, mit den gefälligen Herren, die erotische Almanache aus ihren Taschen holen und empfehlend „Toutes les positions" dazu sagen, Polizisten, deren Stäbe den Verkehr dirigieren. An dem blutroten Haus des ,,Matin" zeigt die Quecksilbersäule eines enormen Thermometers die Höhe der nationalen Flugspende, und von transparenten Glastafeln starren die neuesten De- LUTETIA 219 peschen. Schon im hellen Tag gleißen die elektrischen Re- klamen der Cinemas. Die Elektrizität ist die Tyrannin des verhundertfachten Nachtbetriebes vom Jardin de Paris, drau- ßen unter den Kastanien der Champs Elysees, bis zur Place Pigalle, unten am Rande von Montmartre. Der Metro zer- reißt den Boden unter der Place de l'Opera. Die Technik überwältigt das graziöseste aller Stadtbilder, gegen das sie sich zum erstenmal verging, als sie auf den Champ de Mars das eiserne Ungetüm stellte. In der Rue de Babylone jedoch liegen die alten Hotels mit Straßenmauer und Auffahrt, und in Rueil, Marnes-la-Coquette und Meudon blühen die alten, wilden Gärten, in denen, weiße Rokokoschlößchen, die ein- samen Landhäuser stehen. Am Bahnhof hält ein des Ab- sinths voller Soldat eine philosophische Rede. Die Wände der Coupes haben Gucklöcher, durch die man, wie in einem Panorama, die sonderbar unwirklichen Menschen nebenan betrachten und etwa Zeuge einer blutigen Tragödie oder heißer Liebe werden kann. In dem trüb beleuchteten Vor- ortzug, der abends die Employes und Arbeiter hinausbringt, wird geraucht, getrunken und gespielt, an den Fortifs streichen verdächtige Matronen, und alles ist wie sonst im Bannkreis dieser nach Leben gierigen Stadt. Ihr zweiter Aspekt: die Stadt der Noblesse, der Linie, der goldenen Kassettendecke über der Apollogalerie im Louvre, die Stadt des Grandiosen, der königlichen Verschwendung an Raum, der unermeßlich weiten Palais und Parks. Die Dreiheit „Ordre, calme et beaute" waltet im Ensemble der Tuilerien und der Louvreflügel, auf dem Concordeplatz, auf der Place des Victoires, um Ludwigs des Vierzehnten Reiter- standbild, das imposant ist wie Versailles, auf der Place des Vosges, die einmal die Place Royale war, und im grünen 220 LUTETIA Luxembourg. Sie waltet auf der Place Vendome, deren Säule den bronzenen Imperator verewigt, in den Massen des Are de l'Etoile, den man schon von den Tuilerien aus hochragen sieht wie ein festliches Tor zum Elysium, und an dem in violettes Halblicht versenkten Napoleonsgrabe, wo der fröstelnde Invalide, am unterirdischen Eingang kauernd, mit schwacher Stimme sagt: „Regardez les dernieres paroles de l'empereur." Und sogar eine klassizistische Attrappe wie das Pantheon oder das kaum vollendete, mit seinem schnee- weißen Kalksandstein über der Rue Lafitte vom Montmartre- berg schimmernde Sacre Coeur gewinnen in dieser hellen Luft einen Anschein von G^pße. Ihr drittes Gepräge: eine Stadt der Poesie im Niedergang und im Schmutz, eine unergründlich lockende Cour des mi- racles. Wohl ist fast alles dahin, was noch in den neunziger Jahren der elegische Schauer von Paris war. Zum Friedhof von Montmartre, wo das Grab Heinrich Heines in der Avenue de la Cloche noch immer das bekränzte Ziel der deutschen Romanschriftstellerinnen ist, führt jetzt die makadamisierte Avenue Rachel, in der die Chauffeure warten. Der große Blocksberg, dessen Abhang von der Place Blanche bis zum Boulevard Rochechouart sich dehnt, ist nun eine internatio- nale Messe des Vergnügens. Die Cabarets und Bälle, die allnächtlich aufflammen, sind wie ihre Fassaden verkitscht, und stöhnend gedenkst du der Friedrichstraße. Aber gehe, neben dem Moulin, die steile Rue Lepic hinauf, mit dem Stilleben ihrer Zinkbüffets, ihrer Wäschereien, ihrem pro- vinzialen Kleinbürgertum und den lärmenden Schuljungen in schwarzen Kitteln. Im Halbrund kommst du zur Höhe. Und über der Terrasse links siehst du in einem Garten den grünen Tanzsalon des Moulin de La Galette, siehst zwei LUTETIA 221 echte, verwitternde Montmartremühlen, und ganz oben auf dem Berg, vor Sacre Coeur, kaum noch von ersten Zins- kasernen bedroht, die niedrigen Häuschen, ländhch, als seiest du meilenfern von Paris. Unten in der Rue des Martyrs ist die Feuerwehr gerufen worden. In den Fenstern einer Maison Meublee liegen träge Jünglinge in blauen Seidenhemden und Mädchen mit offenen Blusen; und auf dem Karren des Händlers, der dort seine Ware ausschreit, zappeln die schwarzgelben Schildkröten. Am Nachmittag darauf bist du im Quartier Latin. Nicht vor der Seinelandschaft zögerst du diesmal, auch nicht bei den Kästen der Trödler und Buchhändler, die heute, weil die Sonne lacht, ihre Raritäten hervorgesucht haben. Durch die Rue Bonaparte eilst du bis zur grauen Kirche von Saint Germain des Pres, in das Herz des Marais, durch die Rue de Buci in die Rue Saint Andre des Arts. In diesen engen Sackgassen, hinter diesen Fronten mit den schmiedeeiser- nen Baikonen haben die Akademiker gewohnt, und diese Megären, die in abgenutzten Peignoirs aus den Gewölben kommen, sind die Nachmieterinnen der Vicomtes. Rechts vom Boul' Mich', der nun trostlos banalisiert ist, verlierst du dich in den Straßen von Saint Severin, um das Kirchlein von Saint Julien le Pauvre, nahe der Place Maubert, dem Karussell der Dirnen. In der Rue de la Bücherie mit zer- bröckelnden Mauern, von einer unförmigen Kuppel über- wuchtet, der Eckteil dessen, was vor langen Jahrhunderten das Gebäude der medizinischen Fakultät von Paris war. Dunkle Höhlen grenzen an physiognomielos neue Straßen: in der Verlängerung der Rue de Fouarre, die nach den Stroh- lagern der Scholaren heißt, in der Rue Dante, wohnt der eitle, kleine Rentier Emile Loubet. Und überall wiederholt sich derselbe Kontrast bourgeoiser Nüchternheit und einer Romantik, die nicht sterben will. 222 LUTETIA Du wendest dich wieder zum Boul' Mich' nach links, da wo er friedvoller wird und das Idyll des Luxembourgparks ihn begleitet, bis du vor dem Bullier anlangst und dem Denkmal des Marschalls Ney. Die Avenue de l'Observatoire empfängt dich, mit dem Portal der Sternwarte am Ende, die Rue Cas- sini, die Rue Saint Jacques mit der Trikolore an der schwei- genden Krankenhausfassade des Hospitals Cochin und die lange Zeile des Boulevard Arago. Du suchst die Bievre, das schmale Flüßchen der Gerber, den von allen Tinten gefärbten Wasserlauf, der einst die häßlich-schöne Ader des malerischen Paris war und geweiht durch die Misanthropie von H uysmans. Die Bievre ist nicht mehr, .die Sanitätspolizei hat sie zuge- mauert, und willst du ihren tristen Reiz noch schauen, so mußt du bis dicht vor Gentilly, ins Arbeiterrevier, ins Blach- feld, bis zur Poterne des Peupliers. Aber während du in der abgelegenen Rue des Gobelins umhergehst, da, wo die Werk- stätten der Gerber versteckt sind, entschädigt dich eine Über- raschung. Im Hintergrunde eines Hofes erhebt sich ein Schloß mit zierlichem Rundturm, das Schloß der Königin Blanche, das nach der Mutter des heiligen Ludwig getauft und jetzt das Magazin eines Lederfabrikanten ist, ein Dore im verzauberten Bezirk der Armut. Mit dem Autobus fährst du durch die Rue Monge, von der Medardkirche ab, hin- über aufs rechte Ufer, bis unter die spärlichen Bäume der Place du Chätelet. Dämmerung umschattet die alte Tour Saint Jacques, die gerade von einem Brettergerüst entstellt ist, und die Markthallen. Auf der großen Treppe von Saint Eustache, auf der zuweilen Paul Verlaine, der betrunkene Sünder, betend niederfiel, gegenüber dem altmodischen Hause, dessen Emblem der Mohr mit dem weißen Stehkragen ist, streichelt ein Priester schnurrende, rotgelbe Katzen. In der Rue des Innocents lauert mit ersten Lichtern der Caveau. Um Saint Merri Nonnen in weißen Hauben, zollschmale LUTETIA 223 Gassen des Elends, und als furchtbarste von ihnen die Rue de Venise. Rechts vom Rathaus, bei der Kirche von Saint Gervais, die Rue Geoffroy-l'Asnier, brüchige Portale, brüchige Skulpturen. Durch die Rue Charlemagne zur Rue des Jar- dins, in der nichts mehr ist von Gärten oder Blumen, nur Trödlerläden, Leimsiedereien und nach Salpeter riechende Gewerbe. Ein zweites Mal stößt du auf ein degradiertes Schloß, und wiederum verwirrt dich seine bizarre Umgebung. Dieses gotische Giebelhaus mit den schlanken Kanzeltürm- chen, dem hohen Spitzbogen seines Tors und den Wasser- speiern unter dem Dache war das Haus der blonden Venus, der Königin Margot; jetzt sind darinnen ein Glaswarengeschäft und ein Handel mit verzuckertem Obst. Am Quai des Ce- lestins schreitest du aus dem unheimlichen Gassengewirr zum offenen Ufer der Seine. Über den Pont Marie trittst du auf die Ile Saint Louis. Zwischen den Steinen wuchert Rasen. Vom Quai d'Anjou aus, wo man am Tor eines Palastes im Stil Louis Quatorze beim flackernden Schein der Laterne die Inschrift: „Hotel Lauzun" liest, blickst du zur Notre Dame und ihrem über- irdischen Steingedicht. Du beugst dich in der lauen Nacht über das Quaigeländer, du fühlst die Geister deiner Toten um dich, und deine Brust atmet in schmerzlicher Sehnsucht. Die Nabobs. Einst galten sie als schnaubende Leviathane mit gefräßigen Kinnbacken, die Vanderbilt, Mackay, Gerry, Sloane, Astor, Goelett und Wilson. Sie unterdrückten die alteingesessenen Familien, die tugendhaften Knickerbockers, die behaupteten, ihre Ahnen seien schon mit der ,,Mayflower" in Amerika ge- landet. ,,Wie die Juden des Mittelalters" hatten, nach Tocque- villes Wort, jene Puritaner sich in dunklen, schäbigen Kon- toren verborgen. Nur untereinander hatten sie verkehrt. Anfangs hielten sie die geräuschvollen Parvenüs mit Hoch- mut nieder. „Gehen Sie awf den Ball der Vanderbilts?" sagte Frau Rensselaer zu Frau Livingston. „Die Menschen werden tolle Summen verschwenden. Es wäre christlich und barmherzig, wenn wir uns einen Moment bei ihnen zeigen würden." Dann aber war es mit den Knickerbockers aus, die Parvenüs herrschten über Newyork und bauten sich in der Fünften Avenue ihre Prunkhäuser aus Granit, Mar- mor, Porphyr und Onyx. In den neunziger Jahren begannen sie, sich wie die Fürsten jenseits des Ozeans aufzuspielen. Die Vanderbilt vergaßen die Taverne ihres Patriarchen Aaron van der Bilt, den schlichten Sinn des rauhen Cornelius Van- derbilt, des Kommodore, der unorthographisch schrieb, die Bibel las und, als er sterben sollte, sich Salz unters Bett streuen ließ, um zu gesunden. Die Astors schämten sich ihres Stammvaters John Jacob Astor, der Musikinstrumente feilbot und durch den Kauf der Manhattaninsel ein Terrain- reich gründete, das jetzt größer ist als der Staat Delaware und doppelt so groß wie Neu-Mexiko und Arizona zusam- men. Dieselben Astors fanden einen gerissenen Stammbuch- forscher, der sie zu Sprossen Heinrichs des Vierten machte, des Shakespearekönigs. Die Wappenschilder besorgte man sich, indem man die europäischen Muster eines Karossiers DIE NABOBS 225 nachmalte. Wie die Feudalen Europas schufen die Milliar- däre Vermögenstrusts. Der Kommodore legte von den 450 Mil- lionen, die er besaß, 182 fest, William Astor 180 von 500, und auch Jay Gould räumte seinen Erben nur Zinsen und Kapitalsvermehjung ein. Die Milliardäre heiligten das Erst- geburtsrecht, und mit Titanenstirnen betrogen sie die Steuer- behörde. Dann stürzten sie sich auf Europa. Sie unternahmen große systematische Züge, die Fäuste in den Taschen, mit steinernem, undurchdringlichem Phlegma. Hauptländer und Residenzen grasten sie ab. Sie kauften sich eine Vergangen- heit und ihren Kindern eine ungewisse Zukunft. Zwar ihre Söhne haben nicht immer den Wert der Genealogie er- kannt. J. Alfred Morgan erkor eine Tochter des chinesischen Opiumhändlers Ah-Fong zur Frau, John H. Flangler, ein Vizekönig des Petroleums, die Sängerin Mandelick, der junge Terry die Sibyl Sanderson, Horatio Bigelow die Ladnerin Marie Reece, Howard Gould Miß Clemmons, eine Schul- reiterin von der Truppe Buffalo Bill. Aber durch ihre Töchter wurden die Nabobs die Schwiegerväter der englischen, der französischen und ungarischen Aristokraten, Nicht gänzlich fehlen unter diesen Bündnissen die SatjTspiele der Enttäu- schung: Miß Clara Ward aus Detroit und Anna Gould, Marquise de Castellane und Princesse de Sagan. Man muß die „Trans- atlantiques", den Roman von Abel Hermant, lesen, wenn man den Witz dieser Soziologie begreifen will. Mit „Cheer up!" und seiner ganzen Bande zieht Jerry Shaw, Hermants stiernackiger Multimillionär, in Paris ein, um die Ehe seiner Frau Tochter Diana mit dem Marquis Urbain de Tierce zu flicken. Bei der Trauungsfeier in Newyork erteilt er, unter De Profundis und Tarara boom de Ay, dem Reporter der „World" die Auskunft: „Ich mische mich nicht mehr in meine Geschäfte, sie gehen von allein. Allein gehen sie so- 226 DIE NABOBS gar besser." Mit Ruhe feilscht er, mit Ruhe stiUt er seine menschHche Neugier. Er hat das Glück eines Cowboy, und Marc, sein Sohn, fischt sich im Trubel eine mazedonische Prinzessin. Da ist Jerrys fischblütige Gattin, Mrs. Dornt Shaw, die für 12000 Dollars ihr Porträt malen läßt, von dem der Verzollung wegen ein Arm wieder fortgekratzt wird. Da sind der zwölfjährige Bertie Shaw, der amerikanische ,, Oberst", die gymnastische Biddy, Clelia Shaw, die für Mont- martre, die „Perversität" und den zerlumpten Lyriker Pol Pic schwärmt, und eine Landsmännin der Shaws, die Mil- lionenerbin Susanne Ford, Prinzessin von Beril, die sich auf der Liebesreise nach ihrem ^.hundertsten Point" höchst son- derbar beträgt. Ein Narr ist Jerry Shaw, aber wie ein Typus der Kraft steht er am Schluß im tosenden Geheul von Pica- dilly. Seitdem hat er von seiner scherzhaften Imperatoren- wucht manches eingebüßt. Heute, wo die Sinclairs das Piede- stal untergraben, ist nicht mehr Newyork, Jerrys Heimat, das Zentrum, sondern Chicago. In Kanada hat der Eisen- bahnriese James Hill debütiert, in Kalifornien Clark, der Kupfermagnat. Gesprengt ist die Fünfte Avenue, die Reihe der Auserlesenen, sie sind bedroht wie die Pharaonen Ägyp- tens. Die innere Debäcle der Milliardäre hat begonnen, der altersschwache John D. Rockefeiler, der sich an Tolstoi wandte und durch ihn sich das Evangelium predigen ließ, schreibt redselige, ungeheuer ehrbare Memoiren. Was aber ist, wenn den Nabobs der Untergang naht, ihre Bilanz, was ihre Bedeutung für die Menschheit? Erst Bernard Shaw hat den Reim darauf gefunden. Er hat die Dollar- millionäre bedauert und nachgewiesen, daß sie Gefangene der Milliarden waren, daß der Neid auf sie sich nicht lohnte. Zürnend halte Wells, der englische Utopist, von ihrer „Ver- antwortungslosigkeit" gesprochen. Shaw^ spricht von ihrer enormen Verantwortung, der nicht die Möglichkeit gegen- DIE NABOBS 227 überstehe, mehr als ein gewöhnlicher Reicher von ihren Schätzen zu haben. Er sieht voraus, daß der Markt nur für die Massen arbeiten wird, nicht für den Nabob, von dem zu wenig Nutzen erwächst. Die armen Reichen sind auf das Ventil der Schenkungen angewiesen. Und deshalb besteht „das Werk des Millionärs, dessen Tragödie es ist, daß er nicht Bedürfnisse genug für seine Mittel hat, darin, Bedürf- nisse zu schaffen", den Luxus von gestern zum Bedürfnis von heute umzuwandeln. Das tun die Nabobs, ohne es zu wollen, ohne Freude, mechanisch. Sie brauchen nicht ein- mal Museen und Bibliotheken der Allgemeinheit zu stiften. Sie können mürrische Privatiers sein wie James Hill, der Eigentümer der teuersten Delacroix, Millet und Corot. Ihr Kunstsinn darf die leere Eitelkeit offenbaren, die Fre- derick W.Vanderbiltbew^og,Josephinens Schloß in Malmaison, Möbel um Möbel, für seinen Palast am Hudson kopieren zu lassen, um seine Nachbarn in der Fünften Avenue durch diese Prahlerei zu ärgern. Er darf die Renommage sein, in der Mrs. Stuyvesant Fish sofort mit der Kopie des vene- zianischen Dogenpalastes auftrumpfte. Von Pierpont Morgan reden die Galerie Kann und alle Schätze, die er geraubt und vor der Verzettelung bewahrt hat, noch Jahrhunderte nach dem Scheitern des Universaltrusts. Die Milliardäre und ihre wirtschaftlichen Organisationen werden verschwinden. Doch wegen ihres Spieltriebs, ihrer Ruhmsucht und sammelnden Bosheit wird ihr Name auf ferne Zeiten übergehn. Gide. Bevor Andre Gide seine Memoiren schreibt (ein Unter- nehmen, dessen erwartungsvoller Zuschauer er jetzt schon ist), wird man äußere Tatsachen seines Lebens kaum nennen können. Seine Geschichte ist die Geschichte seiner Bücher und, was er von sich erzählt, um der Literatur willen erzählt. Das ist der Fall mit der feinen Antwort an den Barres der „Deracines", den unduldsamen Lehrer des provinziellen Hei- matsgefühls: „In Paris bin ich geboren, mein Vater stammt aus Uzes, aus der Normandie meine Mutter — wo soll ich Wurzel fassen, Herr Barres?" Indien „Lettres ä Angele", den für die Zeitschrift „L'Ermitage" gearbeiteten Kritiken und Stu- dien, die Eintragung über Mallarme und die Gespräche in der Rue de Rome: „Die nach uns kommen und die seit drei Jahren den Weg gefunden haben, sind außerstande, sich deut- lich genug vorzustellen, wie richtungslos damals ein junger, nach Kunst und geistiger Erregung verlangender Geist bei seinem Eintritt in die literarische Welt war ... Zu wem sollte er gehen, wem, ihr Götter, huldigen? Man suchte Mall- arme auf. Es war abends. Von einer großen Stille wurde man dort empfangen. An der Tür erstarb aller Straßenlärm. Mit sanfter, musikalischer, uli vergeßlicher und nun ach! für immer unhörbarer Stimme begann Mallarme zu reden." Dann noch das ,,In memoriam" für Oscar Wilde, die Kapitel über die Begegnungen in Paris 1891, Algier 1895 (im Hotel, wohin Gide von Blida und Biskrah bei gräßlichem Wetter zurück- gekehrt ist), Berneval 1897 (Sebastian Melmoth) und aber- mals Paris. Der Rest ist verschleierte Selbstanalyse, An- deutungen einer durch den Zwang des kalvinistischen Glau- bens dunkel gemachten Jugend, körperlichen Leidens und einer langsamen Wiedergeburt. „. . . konnte er," so sagt Gide im Nachwort zu den „Paludes", „die Bücher verbannen, GIDE 229 die Vorhänge wegreißen, die blinden Fensterscheiben auf- stoßen und mit ihnen alles, was zwischen uns und das an- dere sich legt und die Natur trübt, zerschlagen." Der Protestantismus ist der Ausgang dieses blutleeren, zarten Intellekts, und noch als er ihm fremd geworden ist, erkennt er in sich ihm wieder. Von ihm hat er die moralische Besorgnis, die fast alle besten Geister der französischen Rasse nicht anficht, die Sorge um das schwierige Ding „Gewissen", aber auch den sich selbst verbrennenden Drang nach Unab- hängigkeit. In Nietzsche, dem Protestanten, der gegen die angeborene geistige Verfassung sich empört, begrüßt er seinen Erwecker. Zu Sils-Maria hat er eines Winters, ehe noch die Übertragung von Henri Albert vorlag, am Originaltext her- umbuchstabiert. „Ich habe schon bemerkt," so erklärt er 1898, „daß wir Nietzsches harrten, als wir von ihm noch nicht wußten. Denn der Nietzscheanismus hat lange vor Nietzsche begonnen. Er ist zugleich eine Kundgebung über- mächtigen Daseins, die sich schon in den Werken der größten Künstler geoffenbart hatte, und eine Richtung, die je nach den Epochen Jansenismus oder Protestantismus getauft wurde und von jetzt ab Nietzscheanismus heißen wird, weil Nietzsche gewagt hat, alles, was noch murmelnd in ihr verborgen lag, bis zum äußersten zu formuheren." Der Protestant Andrö Gide wird auch nach der Befreiung der Sinne der lockenden Idee Untertan sein. Wohl verwünscht er, als die Morgenröte aufsteigt, die „bittere Nacht des Gedankens, des Studiums und der theologischen Ekstase". Wohl nennt er (Nietzsche: „Geist ist Leben, das selber ins Leben schneidet") die Ideen Parasiten, die das Menschenhirn verzehren, Krebskeime oder blutsaugende Fledermäuse, die um so schwerer lasten, je schwächer ihr Opfer ist. Aber es bleibt der Wahlspruch: „Devouons-nous ä l'idee" und das traurig-heitere, tapfere Geständnis: „Vielleicht wird man uns schelten, daß wir trotz 15 230 GIDE allem das Leben des Gedankens für wirklicher erachtet und jeglichem anderen Leben vorgezogen haben." Es ist, um eine Generation verjüngt, die Ironie von Anatole France (den Gide gegen Barres verteidigt hat), nur, daß statt eines humanistischen Epikuräers ein tiefer bohrender Meta- physiker von christlicher Struktur, ein Hedoniker aus Vor- satz das Wort führt. Dieser Denker ist mißtrauisch gegen die Meinungen von gestern, weil er in seine künftigen Mei- nungen verliebt ist. Dieser Kritiker, der der Verwandlung bedarf, hält Ansichten für eine „Vorwegnahme des Todes". In einer Conference für die Hörer der Libre Esthetique in Brüssel hat er die „Apologie de l'influence" unternommen, die gegen die Furcht der Kleinen, ihre Persönlichkeit zu ver- lieren, mit artiger Dialektik die literarische Notwendigkeit der Beeinflussung lehrt. In der Anarchie des Geschmacks, die selbst in Frankreich, dem Lande der schützenden Ge- schmacksnormen, seit 1900 umgeht, ist er einer der geistigsten Sucher, ein Sucher mit vielen Vorbehalten und von rühmens- werter Kälte des Urteils. Noch heute macht die Präzision staunen, mit der er zur Zeit der „Lettres ä Angele" über Curel, gegen Hauptmanns „Weber", über Maeterlinck und gegen Stirner geschrieben hat — damals, als er schon Francis Jammes lobte und Nietzsche. Unter den durch Barres ver- dorbenen Franzosen von 1914 ist er einer der paar Höchst- gebildeten, mit der Szenerie des Münchner Hofgartens ver- traut wie mit der Wissenschaftslehre Fichtes, Goethes Briefen an die Stein und dem zweiten Teil des „Faust", dessen Tür- merlied er in deutscher Sprache dem Kapitel „Lynceus" der ,,Nourritures terrestres" voranschickt. Seine Produktion ist zögernd, unnaiv, eine Verkleidung von Philosophemen: lyrische, epische und dramatische Ab- handlungen, „traites". Mit ideologischer und sogar noch ein wenig jünglingshafter Selbstschilderung fängt er an. Sein GIDE 231 Erstling sind die anonymen „Cahiers d'Andre Walter". In diesen Tagebüchern der „vie intense" ist alles melancholi- sches Wissen und stolze Scheu: „Verzweifelt wie der Pre- diger Salomonis, über dem wir lange grübelten, den Kopf von zu hohen Gedanken erregt, verwirrt von der Eitelkeit des Begehrens und das Herz von unendlicher Liebe zer- brochen, die in Tränen und Gebeten dahinfloß." „Oh l'emo- tion," so gestand dieser Zwanzigjährige die asketischen Skru- pel seines Alters ein, „oh l'emotion quand on est tout pres du bonheur, qu'on n'a plus qu'ä toucher — et qu'on passe." Es folgen — nach frühzeitigem Verstummen der Lyrik, in der Gide mit der Schule des Vers libre geht — die meta- physisch-sensuellen Hymnen des „Voyage d'Urien" und der „Nourritures terrestres", dann die ganz leicht voltairischen, ganz leicht an France erinnernden, sarkastischen Mensch- heitsgleichnisse „Paludes" und „LePromethee mal enchaine". Nirgends die Farbe des Wirklichen, überall gedämpfte, künst- liche Beleuchtung und die biblischen, hellenisierenden und gälischen Personennamen der Allegorie: Nathanael,Menalque, Alain, Paride, Agloval, Bohordin, Angaire, Hermogene, Al- cide, Magloire, Evariste, verbunden mit den Vornamen der Zivilisationsmenschen von heute. Eine dritte Reihe eröffnet der „Philoctete", die im „Roi Candaule" und im „Saül" fort- gesetzte Reihe der Dramen, auch sie blaß, kühl, Spiegel des Spiegels und mit dem geheimen Wunsch, sich durch die Reflexion aufzuheben. Endlich die neue Wendung seit dem Buche „L'Immoraliste", die Wendung zum Roman, zur ge- schlossenen Handlung, zur schauenden Objektivität. Die „Porte Etroite", ein Roman voll Süßigkeit, mit unvergeßlichen Situationen irregehender Liebe, mit jansenistischer Schwer- mut und dem Hauche der Natur. Verwandt die „Isabelle", der „recits" drittes, das die Jahreszahl 1911 hat. Abermals Sommer und Herbst der Normandie und glücklose Menschen. 15* 232 GIDE G^rard Lacase wird im umgrünten Landhaus zu Quatre- fourche der indiskrete Zeuge einer gewaltsamen Begebenheit oder ihres grotesk-tristen Epilogs. Beim Schein flackernder Kerzen sieht er um Mitternacht Isabelle, Fräulein von Saint- Aureol, die, mit der Schuld am Morde ihres Geliebten be- laden, einst von hier entflohen ist und nun wieder auftaucht, um von ihren melodramatischen Eltern ein paar Banknoten zu erraffen. Eine romantische Szene, auf die dann ernüch- ternde Ironie niederfällt. Aber im siebenten Kapitel — die Alten sind tot — hat Gerard mit dem Fräulein von Saint- Aureol im subhastierten Park ein Gespräch. Romantisch hebt er an, dann gewahrt er, daß sie, die Agentenmätresse, die bald die Geliebte eines Kutschers sein wird, eine andere ist als das Bild seiner Träume, und er brüskiert sie, während durch den Frühlingstag die Axthiebe der Holzhauer dröhnen. Kaum hat Regnier oder ein Lyriker sonst im heutigen Frank- reich eine beseeltere Elegie geschrieben. Claudel. Dreiundzwanzig Jahre alt, hat Paul Claudel 1891 die shakespearisierende Schwerttragödie „Tete d'Or" drucken lassen. Aber er verschwieg dabei seinen Namen. Wie Rim- baud, dessen sinnliche, kühne Verworrenheit er hat, entwich er in ferne Länder. Er wandte sich der Konsulatskarriere zu. Von Newyork und Boston kam er nach China. Tau- melnd besingt jemand im „Partage de Midi", der „Mittags- wende", den Indischen Ozean, Babylon, Saba, Maskat, den Südmonsun und die Sklavenschiffe. „Indien liegt vor uns," schwärmt ein anderer. „Hören Sie es nicht so deutlich, daß man das Geräusch von einer Milliarde sich öffnender und schließender Augen vernimmt! Welches Glück, nicht mehr in Frankreich zu sein! Wie mir der ganze Betrieb dort fad und ekelhaft ist, mit seiner Sonne, die keine Sonne ist, viel- mehr ein bleicher Backofen!" Von 1894 bis 1909 residierte Paul Claudel in Shanghai, Futschou, Hankou, Tientsin und Peking. Er sah die Schrecken des Boxeraufruhrs, aber er wurde kontemplativ wie die Schüler des Lao-tse. In der „Connaissance de l'Est", den Studien über chinesische Land- schaften und Riten, malt er mit frommem Pinsel sich selbst auf der Spitze des Gräberhügels; drunten braust die Stadt, die schwarzen Fichten vermehren die Abenddunkelheit, die Laternen der Glühwürmer flackern und erlöschen. Oder er ging, ähnlich dem Gotte Bishamon, einen derben Stock in der Hand, abends um sechs, wenn die Gewitterwolke den Berg hinanklomm, durch die Schar der roten Bäuerinnen. Vor fünf Jahren berief ihn seine Regierung nach Europa, nach Prag. Mit Frau und Kindern mietete er sich am Rieger- kai ein, gegenüber dem slawischen Zwiebelturm der Sit- kower Mühle, an deren Ummauerung im Februar das Eis der Moldau donnert. Er hatte das heilige Panorama vor 234 CLAUDEL Augen, dessen Silhouette seine Bücher ziert, und er suchte, schwer und verträumt, seine Pflicht als Geschäftsträger der französischen Republik für das Königreich Böhmen zu leisten. Dann kam er nach Frankfurt und Hamburg. Vom weißen Lichte der katholischen Mystik sind seine Worte, seine Gestalten überflutet. Seine Hymnen loben mit eifersüchtig brennender Liebe Gott, sie loben die Heiligen Paulus, Petrus und Jakobus, sie loben das Pfingstfest und das Heilige Sakrament. Doch bereits der „Art poetique" war der Dogmatik des Christentums gehorsam. Ein Zitat aus dem Briefe Augustins an Marcellinus leitet erkenntnis- Iheoretische Deduktionen ein, die der Vergänglichkeit die Einheit in Gott, Gott als Zweck entgegenstellen. Die Erb- sünde wird scholastisch erklärt und die Substitution des Hei- lands. Eine Ästhetik des Kirchenbaues preist die Kathe- dralen, die alte, gute Notre Dame zu Poitiers, die Gottes- häuser von Ronen und Chartres, die Notre Dame zu Paris, in der man, von der Kloake umgeben wie Jeremias von der Zisterne, den Geschmack des Todes empfinde — und auch die leuchtende Kuppel von Sacre Coeur. Des „protestan- tischen Blasphems" wird gedacht, das den Priester gezwungen habe, im hellen Tag statt in geheimnisvoller Dämmerung die Hostie zu zeigen — und ein verzücktes Gebet schwebt zu Gott empor, den zu erfassen die Seele mehr außer sich bringe als der Besitz eines Kaisertums oder eines Weibes. Indessen : nicht nur dieser Unterton orientiert über Claudels Dichtertheologie. Stolz begrüßt sie zu Anfang die jungfräu- liche Welt. „Mit jedem Atemzug, den wir tun," so frohlockt der heidnisch-christliche Autor, „ist sie ebenso neu wie da- mals, als der erste Mensch die erste Luft in sich einsog." Die Gottesidee wird zur Idee der Allkraft, die „die großen Wagen des Mondes und der anderen Götter" lenkt; die den Stößen der Winde gebietet, den Wanderungen der Makrelen CLAUDEL 235 und der Schwäne, dem immer gleichen, immer erhabenen Chor der Jahreszeiten. Verlesen wird das Brevier einer kosmischen Religion : „Wenn die Arbeiterin in der Federn- fabrik an der Uhr der Pointe-Saint-Eustache sieht, daß es Mittag ist, durdidringt der erste Strahl der tiefstehenden Sonne den Laubwald von Virginien, und im Schein des australischen Mondes tummelt sich das Geschwader der Pottfische. Es regnet in London, es schneit in Pommern, während Paraguay lauter Rosen ist und Glut auf Melbourne lastet." Das Blachfeld von Waterloo ist der Kunst dieses Rhapsoden nicht mehr als der indische Perlenfischer, der plötzlich neben seinem Boot auftaucht, und ihr Herzschlag ist der Herzschlag alles Geschaffenen. Paul Claudel proklamiert den unendlichen Rhythmus, der die Metren überwunden hat. „In eine gemeinsame Folge", so redet in dem Drama ,,La Ville" Ivors den Dichter Coeuvre an, „sind Klang und Sinn der Worte gefügt, und so fein ist ihr Austausch, so verborgen ihre Musik, daß die dem Geist lauschende Seele inne wird, wie der reine Gedanke der w^ohl- gefälligen Berührung sich nicht entzieht. Zu solchen Ver- mählungen werden wir von dir, o Coeuvre, geladen." Das ist die kadenzierte Prosa Claudels, die einiges von Walt Whitman hat und mehr noch von der Feierlichkeit der Bibel. Zeile auf Zeile verschwendet sie zarte, glänzende, un- geheure Metaphern. „Wie wenn man im Herbst durch Lachen kleiner Vögel geht, so wirbeln Schatten und Bilder unter deinem weckenden Fuß !" Also spricht der Päan „Die Musen", in dessen regellosen Strophen die Odyssee, die Aeneide, die Divina Commedia hoch einherwandeln, zu dem Mann, der in der Hölle war, zu Dante. Von den Gedichten Stephane Mallarmes, an den seine „Vers d'Exil" sich anlehnen, ist der zwanzigjährige Claudel erfüllt worden. Das „Bateau ivre" von Rimbaud mag ihm 236 CLAUDEL eine Offenbarung gewesen sein. Nun, da er gereift ist, kann man an Victor Hugo denken (der ja auch in dem jungen Rimbaud nachgewirkt hat). Gleich dem Verbannten von Guernsey nennt er sein Symbol „toute la lyre", durch deren sieben Saiten der Himmel mit seinen Sternen zu sehen ist und die Erde mit ihren Feuern. Und wie man den Vater Hugo sich in seinem Glaspavillon über den Wogen des Ka- nals vergegenwärtigt, schaut man den Konsul Claudel im Fenster seines chinesischen Häuschens: „Wenn der Abend kommt, strecke ich, wie die Gemahlin eines Gottes, die stumm ihr Lager besteigt, mich lang und bloß aus, das Antlitz der Nacht zugekehrt. Jetzt alDer entwinde ich mich seufzend meinem Schlaf, der so bewußtlos ist wie der des ersten Menschen, und erwache in Gold gebadet." Verfeinert ist dieser lichtgierige, dithyrambische Rausch, bis zu den Gren- zen des Geistes — und dennoch tierisch-vegetativ, dem My- sterium des Lebens überlassen. Die Dramen Claudels haben ihren Ursprung in demselben phantastischen Schweifen, in derselben phantastischen Be- nommenheit. Jedes von ihnen ist ein riesenhafter Vers, durchzittert von lyrischen Ausbrüchen. Und deshalb haben sie alle die Mängel der Inspiration, von der sie getragen sind. Ihre Personen sind (bis auf die von „L'Otage") keine Individuen, sondern gespannte Zustände. Verkörperungen einer Menschheitsgeschichte, die niemals war, sind „Tete d'Or" und „La Ville", metaphysisch -erotische Krisen „L'Echange" und „Partage de Midi". Nur zwei, „Le Repos", die chinesische Kultsage, und die Legende „La Jeune Fille Violaine", die in der „Annonce" noch plastischer geworden ist, scheinen außerhalb des Hirnes, das sie erzeugt hat, dar- stellbar. Auch seinen Schauspielen hat Claudel eine Teleologie mit- gegeben. Jeder Mensch, meint er, hat in der Weltordnung CLAUDEL 237 seine ihm zugewiesene Stätte. Und ohne eine solche Lehr- haftigkeit eines Bossuet von heute, griechischer sagt er das in den „Musen": „Wenn die Parzen die Handlung be- schlossen haben, das Zeichen, das sich einschreiben wird ins Zifferblatt der Zeit wie die Stunde, da sie ihre Ziffer voll- zieht, werben sie an allen Ecken der Welt die Bäuche an, die ihnen die Schauspieler schenken werden, deren sie be- dürfen. Zur bestimmten Zeit werden sie geboren, nicht nach der Ähnlichkeit der Väter nur, sondern in geheimer Verknüpfung mit ihren unbekannten Komparsen, denen, von denen sie wissen werden, und denen, von denen sie nichts wissen werden, denen des Prologs und denen des ersten Aktes." Gott steht am Ende des „Partage de Midi"; als ein Drama des Frevels gegen jene Weltordnung sei „L'Echange", das Drama der Zerstörten, betrachtet. Aber was sind diese Doktrinen gegen den mächtigen Sturm lyrischer Erschüt- terung, der durch alle Dramen geht, und gegen die pan- theistischen Tröstungen, mit denen sie, vom Laster und Un- gemach der Menschen hinwegblickend, sich der ewigen Natur erinnern? „Die Kraft der Erde", so lauten, als die Passion der „Jeune Fille Violaine" vorbei ist, der Dichtung letzte Worte, „die Kraft der Erde unter uns bringt das Gras hervor, dann das Korn und das Obst, das man auf den Tisch legt, und die guten Kastanien und die durchsichtigen Trauben, und dann kommt der Wein, der trunken macht. Seinen Kreislauf geht das Jahr, und aus dem schwarzen Winter hebt sich von neuem, rotflammend, die neue Sonne und malt sich auf den Flüssen, auf denen die Eisschollen treiben." Novotny oder: Das verirrte Herz. Von der Insel kam mit dem Schall der Militärmusik der Duft der Robinien, den zarten Nebel, der den Fluß um- schleierte, zerriß die Sonne, die Mauer droben im städtischen Park und die Goldspitzen auf den Pavillons der Brücke leuchteten. Über den Kai schoben sich, in weichem Idiom redend, mit den Begrüßungen der großen Welt die Scharen der Spaziergänger. Wie jeden Sonntag hielten die Damen des Zuckerfabrikanten Vavra Cercle, der Bassist Taborsky ging majestätisch am Arm seiner Frau, die ihm um Hauptes- länge überragte, die Schwestern Dobromil nickten, ganz in Trauer, die bleichen Stirnen von korngelbem Haar um- kränzt, ihren Bewunderern zu. Dem Böller der fernen Schanze entrollte der Mittagsschuß, ein Rauchwölkchen zerflatterte. Jaromir Novotny, der Assistent bei der Postsparkasse, stand unter seinen Freunden, an einen der Straßenbahn- masten gelehnt. Sein häßliches Gesicht war grau, und er suchte den Boden. Da rief einer: „Die Jebava." Aus dem Theaterportal trat in malvenfarbenem Kleid die Sängerin. Mit starken Schritten ging sie auf den Bassisten zu und hob die rechte Hand, an der ein Ring blitzte, gegen die Sonne. Jaromir Novotny wartete, bis sie mit den Taborskys ihm zur Seile war, dann folgte er ihr langsam. Die Militär- kapelle spielte die jubelnde Introduktion der „Verkauften Braut", die Führer der Elektrischen marterten ihre Glocken, um die Gleise frei zu halten. Der Postassistent hörte in all dem Lärmen nur die dunkel erbebende Stimme der Jebava. Er dachte: „Herodias!" und er sah den braunen Ambraton ihres Nackens, sah sie von einem Diadem beschwert und von roten Flammen umzüngelt. Er dachte: „Dämonisches NOVOTNY 239 Weib!" Und fast hätte er diese Worte laut wiederholt. Da nahm die Jebava Abschied. Einen Moment nur vermeinte Novotny, daß ihr Blick auf ihm ruhe. Ihre ovalen Augen waren halb geschlossen, trag und lauernd, seltsam niedrig wölbten die schwarzen Brauen sich, und die breiten Backen- knochen mahnten an eine Raubkatze. Aber der träge Blick lag schon auf dem Trupp der Offiziere, die zum Inselsteg schlenderten. Langsam ging die Jebava über den Platz zu- rück. Novotny blieb am Kai, bis der Korso sich leerte und die Soldaten mit dem kleinen Pferd, dem Wagerl und der Pauke nach der Kaserne zogen. An diesem Sonntag schrieb er der Sängerin den ersten jener Briefe, die dann Monate nachher in der ganzen Stadt so große Wirrnis verursachten. Er nannte sie bei ihrem Vornamen Vlasta, und er huldigte ihr mit einer Zärtlichkeit, für die er von Mächa, dem Dichter der Jünglinge, teure Worte lieh ; jedoch der Sinn war eine Drohung. Um zehn Uhr schlich er aus seiner Stube, die in einer Altstadtgasse, nicht weit vom Ufer, sich befand. Hastig ließ er den Brief in den nächsten Kasten gleiten. Vor dem Einkehrgasthaus prügelten sich ein Bursche und eine Frau, die ein Bäue- rinnentuch und hohe Stiefel hatte, ein Orchestrion schmetterte den Marsch der letzten Ausstellung. In den Büschen um das Kaiserdenkmal lungerten Pärchen; Wachmänner mit Hahnenkämmen an den Hüten verscheuchten sie. Der steinerne Baldachin, die Spitzsäule, die Figuren der Ritter und Bergleute verschwammen in der lauen Nacht. Jaromir Novotny eilte zum Haus der Jebava. Aus dem dritten Stock- w^erk, da, wo der Vorhang war, schimmerte Licht. Er starrte hinauf, bis ihn Müdigkeit überwältigte. Am Montag saß er hinter seinem verglasten Schalter, seine Feder kritzelte Rezepisse, in die linke Ecke der grünen Scheine setzte er den Stempel, und eine haardünne Kurve 240 NOVOTNY galt als seine Unterschrift. Nach sechs Stunden war er frei. Er lief zum Theater. Warmer Regen träufelte aus den sich lösenden Wolken. Ungeduldig spähte Novotny, bis Cho- risten und Choristinnen hinein waren und unter dem Schirm des Dramatikers Tupec die Jebava sichtbar wurde. Halb- geschlossen waren ihre Augen, rätselhaft wie sonst ihre Mienen, die Novotny gierig erforschte. Sie beachtete ihn nicht. Er rettete sich in ein Lächeln, das verlegen und höhnisch war. Dann aß er in einer kleinen, armseligen Speisewirtschaft, und dann schrieb er in seiner Stube den zweiten und in wachsendem Zorn den dritten Brief an die Jebava, der er sagte, daß sie die Geliebte des Dramatikers sei. So trieb seine gereizte Entbehrung es vier Wochen lang, jeden Abend; nur des Sonntags verschaffte er sich hinfort zur Oper regelmäßigen Einlaß. Denn immer sang die Jebava und, wie ein Adler schwebend, erfüllte ihre Stimme den in mattgoldene Dämmerung versunkenen Raum. Stunden da- nach beugte Novotny sich, von eifersüchtigem Gram hin und hergeworfen, über einen neuen Brief, der die Jebava noch maßloser umwarb und noch heftiger beschimpfte. Zweimal wagte er bei ihr einzudringen. Das erstemal kehrte er um, weil er über dem Mezzanin, auf den knirschenden Stein- stufen, einen bartlosen Rittmeister von den Windischgrätz- dragonern traf, der sich eine Zigarette anzündete. Das zweite- mal war das schmale Gangfenster ihrer Wohnung hell, und Wasser plätscherte in eine Badewanne. Als der August begann, wurde das Theater gesperrt. Man strich das Portal mit Ölfarbe, die Arbeiter rauchten davor ihre Pfeifen, Novotny irrte niedergeschlagen durch die wie alljährlich verödeten Gassen. An den Bäumen des Kais trocknete das Laub. Im Garten der Insel blies und trom- melte, wenn der Himmel sich mit Sternen bedeckte, die Finanzermusik. Stromaufwärts keuchten mit roten und grü- NOVOTNY 241 nen Signalen die Dampfer; vor dem Wehr, über das nur in zerstäubten Silberfäden die Fluten rieselten, machten sie einen Bogen, und ihr dicker Qualm beschmutzte den Sand- stein der Balkons. Im September hatte Novotny seine Va- kanz, Er reiste zu seiner Stiefmutter, einer Witwe, aufs Dorf. Ihr Häuschen war neben der Post und dem Gänse- teich. Jenseits der Mauer dröhnten die Schnellzüge. Bis es draußen Nacht war, hockte Jaromir mit seiner Kusine Mafenka, der altjüngferlichen Lehrerin, unter einem krum- men Birnbaum. Dann brannte im Zimmer die Petroleum- lampe, und indes die Witwe übellaunig entschlummerte, spielten sie Tänze von Dvorak. Zu Anfang Oktober war er wieder in der Stadt. Der nasse Herbst vergällte ihm den einzigen Genuß seiner Bureauzeit, an den sein Drahtgitter umstehenden Parteien vorbei auf die Promenade der eleganten Leute zu schauen. Nur die Erinnerung an die Jebava durchrann ihn wie ein scharfer Gifttrank. Am Abend drückte er sich in den Torweg gegen- über ihrem Hause. Ihre Fenster waren schwarz. Ein Zet- tel teilte mit, ihre Wohnung sei zu vermieten. Die Haus- meisterin, die Novotny nach ihr fragte, sah ihn prüfend an und zuckte die Achseln. Er ging zum Theater. Ihr Name war verschwunden, einen anderen las er, einen unbekannten: Zdarska. Traurig zum Tode entfernte er sich. Die Gummi- radler sausten, die Delikateßgeschäfte lockten, die Pelzge- schäfte, die Hutateliers. Die Kastanienweiber wärmten sich an ihren eisernen Öfchen. Bei dem Photographen Bum- brlik hingen neue Bilder, vor denen er jäh erschauerte. Die Jebava im Kostüm der Leonore, der Drahomira und in einer silbern glänzenden Phantasietracht, darunter ausgemalt: „Vlasta Zdarska-Jebava, Mitglied der Oper." „Sie hat geheiratet!" sprach Novotny vor sich hin. Er verbarg sich in Seitengassen, um mit dem Sturm, der in ihm 242 NOVOTNY tobte, allein zu sein. Ein Durchhaus war seine erste Zu- flucht. Die Gehilfen eines Blumenhändlers schnitten Rosen, ein Friseur entließ mit seiner Verehrung einen Politiker des Landes, die Mägde holten aus der Ressource schäumendes Pilsner. Jaromir Novotny fluchte den Glücklichen, sein Amt war Rache. Wie von ungefähr strebte er dem Theater zu. Vor dem Portal glotzten die Lichter eines harrenden Autos. Eine große Frauengestalt schwang sich hinein, und feierlich setzte ein Herr sich neben sie, dem unter dem Zylinder eine elegische Mähne quoll. Otakar Zdarsky war es, der in Wien und Moskau mit Lorbeer gekrönte Geiger, ein Ruhm der Nation, der Komponist des „Weißen Berges", ein Bauer, der sich am heimischsten auf seinem Gute fühlte, jedoch durch die wahllosen Abenteuer eines ungeordneten Virtuosenda- seins die öff'entlichkeit beschäftigt hatte. Ein Stampfen des Motors, und schon sank Novotny zurück in einsame, kalte Finsternis. Das war an einem Dienstag. Am Freitag derselben Woche meldeten die Zeitungen die Bruderschlacht bei Slivnitza, und man las, daß die Theaterkreise durch die Briefe eines anonymen Verleumders erregt seien. Viele Persönlichkeiten seien in diese wahnsinnigen Schmähungen verstrickt, die mit besonderer Absicht gegen Frau Zdarska und ihren Gat- ten sich wendeten. Schon im Juni habe die Sängerin Briefe des gleichen Ursprungs empfangen, und das Sicherheits- departement hege einen sehr bestimmten Verdacht. Novotny hatte sich bei seinem Amtsvorstand mit Krankheit entschul- digt. Am Sonntag sah er, übernächtig und verwahrlost, den Equipagen des Hochadels zu, deren Pferde vor der Rampe des Theaters auf und ab trabten. Menschen umringten ihn, und plötzlich schrie Zdarsky ihm ins Gesicht: „Da ist der Schurke 1" Der Postassistent stolperte über den Säbel eines Wachmannes. Dann war er am Ufer. Er sprang die Treppe NOVOTNY 243 zu dem unterirdischen Lokal hinab, das nur einen halben Meter höher als der trübe Fluß lag. Der Invalide Vojtech Hraba, der mit dem Besen eine Nobelzelle reinigte, ver- nahm den Sturz eines Körpers. 0 BINDING SECT. . Y 8 197g PLEASE DO NOT REMOVE CARDS OR SLIPS FROM THIS POCKET UNIVERSITY OF TORONTO LIBRARY PT Wiegler, Faul 1101 Figuren W5 \ --rii